Duterte ist vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt. Wer ist dieser Mann, und was hat er getan? Ein Besuch in seiner Heimatstadt.
Der Cowboy schweigt jetzt. Rodrigo Duterte, 79 Jahre alt, sagt nicht viel in dieser ersten Vernehmung Mitte März im niederländischen Den Haag. Er ist aus dem lokalen Gefängnis zugeschaltet. Duterte sei zu alt und zu schwach, um persönlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu erscheinen, sagt sein Anwalt.
Cowboy – so nennt Pilar Cañeda Braga ihren Freund Duterte liebevoll. Braga ist seit über dreissig Jahren Stadträtin im philippinischen Davao. Sie sagt: «Sein liebster Satz ist: ‹Ich bringe euch um.›» Duterte baute diesen Satz gerne in seine Reden ein, schon damals, als er noch Bürgermeister in Davao war. Er drohte den Bösewichten – verschwindet aus meiner Stadt, oder ich bring euch um. «Es ist seine Art zu sprechen. Wie ein Cowboy halt», sagt Braga.
Rodrigo Duterte, Präsident der Philippinen von 2016 bis 2022, muss sich in den kommenden Monaten vor dem ICC für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Die Anklage wirft ihm mindestens 43 Morde vor. Menschenrechtsgruppen schätzen die Zahl der Opfer von Dutertes Drogenkrieg auf bis zu 30 000.
Die Faust und die Glace
Alles begann in Davao, mit 1,8 Millionen Einwohnern die drittgrösste Stadt der Philippinen. Dort wächst die Durian, die stachelige Stinkfrucht, im Zentrum von Davao steht heute ein Gemeinschaftszentrum in Form dieser Frucht, man kann es auf einem eigens dafür gebauten Veloweg umkreisen.
In den achtziger Jahren hatte dieses Zentrum den Spitznamen Nicaragdao: Der blutige Bürgerkrieg in Nicaragua musste als Vergleich herhalten für das, was in Davao geschah. 1972 hatte der philippinische Präsident Ferdinand Marcos den Notstand ausgerufen und wurde zum Diktator. Studenten in Mindanao schlossen sich dem kommunistischen Aufstand an. Es organisierten sich antikommunistische Bürgerwehren. Hinzu kamen ethnische Rebellengruppen auf der Insel. Und alle trugen ihren Kampf mitten in der Stadt aus. «Tote, jeden Tag Tote», so beschreibt es Braga, sie ist 79 Jahre alt und war damals dabei.
Es ist wichtig, zu wissen, was in Davao los war, bevor Rodrigo Duterte Bürgermeister wurde. Es hilft zu verstehen, was danach passierte.
Im Stadthaus von Davao hängt eine Galerie der Bürgermeister. 1988 taucht dort zum ersten Mal Rodrigo Duterte auf. Ein junger Staatsanwalt, Sohn eines ehemaligen Gouverneurs. Mit dem Fall der Marcos-Diktatur kam die Zeit der Dutertes. «Duterte ist bodenständig. Ein eifriger Leser», sagt Braga. Machiavelli habe er verschlungen, genauso wie Bücher über Napoleon Bonaparte und den Agentenkrimi «The Bourne Identity». Braga verwendet immer wieder das gleiche Bild, wenn sie Duterte beschreiben soll: «In der linken Hand hält er eine Glace, die rechte Hand ballt er zur Faust.» Es umreisst ziemlich präzise Dutertes politisches Programm. Zuerst zur Faust.
Duterte begann etwas, das Menschen, die ihm wohlgesinnt sind, «aufräumen» nennen. Er nutzte die Staatsgewalt, um gegen alle vorzugehen, die er nicht in seiner Stadt haben wollte: die angeblich Kriminellen, die Drogensüchtigen, die Rebellen und Kommunisten. Duterte gewann diese Stadt, abgestumpft von Jahren der Gewalt, nicht mit dem Versprechen, das Töten zu beenden. Sondern mit dem Versprechen, dass es jetzt die Richtigen treffe. «Es ist nicht so, als wären Unschuldige ermordet worden. Vielleicht gab es Unschuldige, die ins Kreuzfeuer gerieten. Das ist Kollateralschaden. Es war ein Krieg», sagt Braga.
Die Galerie der Bürgermeister von Davao zeigt seit 1988 siebenmal Dutertes Foto. Nach jeweils zwei Amtszeiten musste er abtreten – dann installierte er für einige Jahre einen Strohmann, um danach wieder zurückzukehren. Seit den zehner Jahren übernehmen seine Kinder: Sara, heute Vizepräsidentin der Philippinen, war dreimal Bürgermeisterin, das neuste Porträt gehört seinem Sohn Sebastian. Wäre Duterte nicht verhaftet worden, hätte Sebastian seinem Vater dieses Jahr wieder Platz gemacht für eine weitere Rückkehr.
Keiner in Davao habe in den vergangenen Jahren Lust verspürt, die Dutertes ernsthaft herauszufordern, sagt Braga, gegen sie sei sowieso nicht zu gewinnen. Sie ist eine weiche, grossmütterliche Frau, ihr Enkel soll ihr bald ins Stadtparlament nachfolgen. Um den Hals trägt sie ein goldenes Kreuz, und zur Begrüssung sagt sie: «God bless you.» Hat sie kein Mitgefühl mit den Opfern des Bürgermeisters? «Natürlich habe ich Mitgefühl. Mitgefühl für das grosse Ganze, für die grösstmögliche Zahl an Menschen. Um sie zu schützen, musst du vielleicht ein paar Leute umbringen. Deshalb musste Duterte tun, was er tun musste.»
Vier verlorene Söhne
Clarita Alia steht vor einem weissgetünchten Betonblock und zündet Kerzen an. Der Betonblock ist ein Grabmal, daran befestigt sind die Namen ihrer Söhne: Richard und Christopher, ermordet 2001, Bobby, ermordet 2002, Fernando, ermordet 2006. Keiner von ihnen wurde älter als 18. «Sie wurden alle niedergestochen», sagt Clarita. Sie erinnert sich genau, wo die Klingen in ihre Söhne eindrangen, sie sagt ihre Namen und legt die Hände auf die Stellen an ihrem eigenen Körper: auf den Hals, auf die Arme, auf den Bauch.
Alia ist 71 Jahre alt und lebt in einem Haus aus Wellblech. Sie verdient ihr Geld, indem sie einen Karren mit Früchten über den Markt schiebt – der Lohn reicht kaum, um die Miete für das Grab zu zahlen, sie hat Schulden beim Friedhof. Alia war alleinerziehende Mutter, sie sagt, ihre Söhne seien gute Buben gewesen, sie hätten ihr mit dem Karren geholfen. Aber irgendwann merkte sie, dass die beiden ältesten, Richard und Christopher, Leim schnüffelten. Sie waren Rugby-Boys, so nannte man die Kinder, die den Baukleber der Marke Rugby kauften und sich an den Dünsten berauschten. Der Bürgermeister hatte damals versprochen, wenn man Drogenkonsumenten bei der Polizei melde, werde ihnen geholfen. Alia meldete ihre Söhne. Was dann passierte, hat sie in einem Notizheft aufgeschrieben, sie hat es auf den Friedhof mitgebracht.
Ihre Söhne landeten auf einer Liste der Polizei mit Unerwünschten. Wenn in der Nachbarschaft fortan ein Verbrechen passierte, waren ihre Söhne sofort verdächtig. Alia beklagte sich einst beim lokalen Polizeikommandanten, er sagte ihr: «Die Alia-Jungs, die holen wir einen nach dem anderen.» Erst holten sie Richard. Kurz darauf Christopher. Dann Bobby. Fernando hatte sie aus der Stadt geschickt. Später kam er zurück, er wollte bei seiner Mutter sein. Kurz darauf erstachen sie auch ihn.
Die Alia-Brüder waren Opfer der Davao Death Squad (DDS). Heute kann man das sagen, denn einige ihrer Mitglieder gestanden in öffentlichen Anhörungen ihre Morde, ihr Anführer ebenfalls, nachdem er spät im Leben zu Gott gefunden hatte.
Die DDS war eine Todesschwadron der Polizei in Davao, rekrutiert aus ehemaligen Gefängnisinsassen und Bürgerwehren. Die Polizei engagierte die DDS, wenn sie jemanden ohne Verfahren und Ermittlung eliminieren wollte. Die DDS mordete fast immer mit Messern, weil Munition zu teuer war. Man kann es heute in den Aussagen der Auftragsmörder von damals lesen: Menschen wurden auf offener Strasse niedergestochen, zerteilt und in Massengräbern verscharrt. Die Täter wussten, dass die Morde ungesühnt bleiben würden. Denn die DDS operierte unter direktem Kommando des Bürgermeisters Duterte, das hat ihr damaliger Anführer ausgesagt.
Duterte selber hat die Existenz der DDS lange bestritten. Noch heute glauben viele Menschen in Davao nicht daran, dass es sie gab. Jahrelang war Clarita Alia alleine mit ihren Notizen. Niemand ermittelte zum Tod ihrer Söhne, also schrieb sie alles auf, was sie wusste, auch die Namen der Mörder: «Ich wollte die Wahrheit wissen und dafür einstehen.»
Sie sagt, sie sei glücklich gewesen, als Duterte verhaftet worden sei. «Das Böse in der Welt ist schwer zu töten. Aber Duterte wird bald sterben.» Die Commission Against Summary Executions in Davao schätzt die Zahl der Opfer der DDS zwischen 1998 und 2015 auf knapp eineinhalbtausend.
Ein offenes Ohr
Vor dem Stadthaus in Davao findet in diesen Tagen allabendlich eine Andacht für Duterte statt. Hunderte Menschen sitzen in Plastikstühlen, sie tragen T-Shirts mit Slogans wie «Bringt ihn heim» und dem Konterfei von Duterte. Auf der Bühne vergleicht jemand Duterte mit Jesus. Randy Pontera, 53 und ehemaliger Lehrer, ist auch gekommen. Er versucht zu erklären, wieso so viele Menschen in Davao Duterte-Anhänger sind.
Duterte, das ist eben nicht nur die Faust, sondern auch die Glace. «Er hatte immer ein offenes Ohr. Er hat jedem zugehört», sagt Pontera. Als Verwandte von ihm krank gewesen seien, habe Duterte geholfen. Duterte hat in Davao einen Notruf eingeführt: Wenn man 911 wählt, kommt tatsächlich eine Ambulanz.
«Ich persönlich bin gegen die Morde», sagt Pontera an der Andacht. 2016, als Duterte als Präsident kandidierte, war er besorgt. Er fürchtete die Konsequenzen, wenn der Bürgermeister Duterte seine Rezepte für Davao auf ein ganzes Land anwenden sollte. «Selbst wenn die Absicht dahinter gut war – es war klar, dass es Exzesse geben würde.»
2015 betrat Duterte die nationale Bühne, er kandidierte als Präsident. Plötzlich war da dieser Mann aus der Provinz, belächelt von den Eliten und den Medien in Manila, die Sprache verroht – er machte im Wahlkampf Witze über Morde und Vergewaltigungen. Doch er versprach, überall in den Philippinen das zu tun, was er in Davao getan hatte: aufräumen. 2016 wählten ihn die Filipinos zu ihrem Präsidenten. Einige Wochen nach seiner Wahl sagte er: «Hitler tötete 3 Millionen Juden. In den Philippinen gibt es etwa 3 Millionen Drogenabhängige.» Er versprach, sie zu «schlachten».
Was während Dutertes Präsidentschaft von 2016 bis 2022 in den Philippinen geschah, hat die Journalistin Patricia Evangelista in ihrem Buch «Some People Need Killing» aufgeschrieben. Wäre sie nicht Journalistin gewesen, schreibt Evangelista, hätte sie kaum etwas mitbekommen von den Verbrechen unter Duterte – das Leben in Manila nahm seinen Gang. Aber Evangelista arbeitete in der sogenannten Nachtschicht, jeden Abend folgte sie der Polizei zu Tatorten und sprach mit Angehörigen der Opfer. Die Morde, sie geschahen jetzt im ganzen Land, die Leichen hatten Kartonschilder um den Hals: «Ich bin ein Drogendealer».
Es ist bis heute umstritten, wie gross das Drogenproblem in den Philippinen war und ist. Laut der Regierung gab es 2015 in den Philippinen 1,8 Millionen Drogenkonsumenten – darin eingeschlossen sind weiche Drogen wie Marihuana. Duterte sprach von 3 Millionen Drogensüchtigen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 115 Millionen Menschen sind das nicht viel mehr oder weniger als in anderen Ländern. Aber Duterte erzählte, dass Drogensüchtige Babys vergewaltigten und ihre Nachbarn ermordeten. Es schien nur gerecht, dass er sie jagen liess.
Die Stimmung in den Philippinen kippte erst 2020, als ein Video auftauchte, das zeigte, wie ein Polizist seinen Nachbarn und dessen Mutter wegen einer Belanglosigkeit erschoss. Er zückte im Streit einfach seine Dienstpistole und tötete zwei Menschen. Was sonst in der Nacht geschah, passierte plötzlich am hellen Tag. Und die Filipinos, die nicht wussten oder nicht wissen wollten, was die Polizei und die Todesschwadron im Dunkeln taten, waren ausser sich.
Anhänger wittern Verschwörung
Dutertes Haus in Davao steht in einer Seitenstrasse. Es ist Teil seines Mythos hier in Davao, dass er nie in ein grösseres gezogen ist. Duterte, Mann des Volkes. Jetzt ist es leer, die Dutertes sind entweder bei ihrem Vater in Den Haag oder versuchen gerade ein Visum für die Niederlande zu bekommen. Sein jüngster Bruder ist in Davao geblieben, aber er lehnt ein Interview ab. Die «Mainstream-Medien» würden seinen Bruder immer als grausame Person darstellen wegen dieser «lächerlichen» aussergerichtlichen Morde, schreibt er.
Victoria Avila, 67, wacht vor Dutertes Haus. Sollte die Regierung eine Hausdurchsuchung anordnen, werden sie und die anderen Wartenden sich schützend davorstellen. Für Avila ist klar, dass Dutertes Verhaftung eigentlich eine Entführung war. Der Interpol-Haftbefehl gegen ihn war am 11. März vollzogen worden, Duterte war gerade aus Hongkong zurückgekehrt und wurde noch am Flughafen verhaftet. Laut Medienberichten stand ein Privatjet in Manila bereit, der ihn schnellstmöglich nach Davao, in Sicherheit, hätte bringen sollen.
Avila glaubt, dass die Verhaftung Dutertes illegal war. Dutertes Anwälte sagen das ebenfalls: Die Philippinen sind 2019 aus dem ICC ausgetreten. Damals war Duterte noch Präsident, und der ICC begann seine Ermittlungen wegen Dutertes Drogenkrieg. Der ICC argumentiert, er sei für Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis 2019 dennoch zuständig, weil Duterte in den Philippinen keine Konsequenzen drohen – es gab Anhörungen zum Drogenkrieg, aber keine Gerichtsverfahren. Dutertes Anhänger wittern eine Verschwörung: Der Präsident der Philippinen heisst wieder Ferdinand Marcos, er ist der Sohn des ehemaligen Diktators, und er hat sich mit den Dutertes öffentlichkeitswirksam überworfen.
«Wenn Duterte so ein schlechter Mensch ist, wieso unterstützen ihn dann so viele Filipinos?», fragt Avila. Dann erzählt sie von ihrem Neffen. Er habe auch Drogen konsumiert, er habe nicht mehr auf seine Mutter gehört. 2021 wurde er von Unbekannten erschossen. Tandem heissen diese Morde, wenn jemand auf dem Roller am Opfer vorbeifährt und derjenige hintendrauf schiesst. Avila glaubt, ihr Neffe habe bekommen, was er verdient habe. Es sei besser so, bevor er Nachbarn töte oder jemanden vergewaltige. «Langfristig ist es besser, wenn er auf dem Friedhof liegt.» Sie hat seinen Namen vergessen. Sie schickt ihn später über Facebook: Er hiess Jaylord und wurde 17 Jahre alt.