Der Altmeister hat in letzter Minute entschieden, an der Snooker-WM teilzunehmen. Doch wie gut ist er in Form?
Es sah nach grundsätzlichem Unmut aus, als sich der Snooker-Spieler Ronnie O’Sullivan Anfang des Jahres vorzeitig von einem Einladungsturnier verabschiedete. Der englische Profi, der als talentiertester Spieler der Geschichte gilt, hatte sein Queue nach einem leichten Fehler auf den Boden einer Arena in Leicester geschmissen. Der Ausraster leitete die vierte Niederlage in der fünften Partie der Championship League an. Zum letzten angesetzten Match trat der entnervte Routinier gar nicht mehr an.
Wer glaubte, dass sich der Engländer mit dem wechselhaften Charakter rasch wieder fangen würde, sah sich bald getäuscht: O’Sullivan sagte den Start an den nächsten fünf Turnieren der Main Tour kurzfristig ab, aus «gesundheitlichen Gründen», wie er jeweils angab. Statt mitreissender Spiele lieferte er nur noch Entschuldigungen für seine Anhänger. Und sinnierte über das näher rückende Ende einer denkwürdigen Karriere. Er habe zwar immer noch Momente erlebt, in denen sein Spiel «okay» gewesen sei, so resümierte der Perfektionist. Doch insgesamt hätten ihn die letzten Jahre heruntergezogen – «bis zu dem Punkt, an dem ich die Liebe zum Spiel irgendwie verloren habe».
Die Konkurrenz schreibt ihn nicht ab
Nun beginnt am Samstag in Sheffield die WM. Lange liess O’Sullivan die Snooker-Gemeinde im Ungewissen, ob er teilnehmen würde. Das lenkte einen guten Teil der Aufmerksamkeit auf ihn, aber auch auf das 17-tägige Treiben im «Crucible Theatre» von Sheffield. In dem atmosphärischen Theatersaal ist O’Sullivan dank sieben Triumphen zwischen 2001 und 2022 nicht nur zur Legende, sondern auch zur effizientesten PR-Lokomotive seiner Innung gereift.
Erst spät am Donnerstagabend teilte der an Nummer fünf gesetzte O’Sullivan mit, dass er bei der WM dabei sei. Er habe zuletzt ein neues Queue getestet und fühle sich gut, liess der 49-Jährige wissen.
Schon vor O’Sullivans Wortmeldung hatte Mark Selby, der die WM selbst vier Mal gewonnen hat, gesagt, dass es mit dem Altmeister «ein besseres Turnier» sei als ohne ihn. Ähnlich äusserte sich auch der Vorjahressieger Kyren Wilson, der selbst eine besondere Geschichte zu bieten hat. Der 33-jährige Engländer soll die Hilfe eines Hypnosespezialisten beansprucht haben, um als Erster den berüchtigten «Fluch des Crucible» zu überwinden. Denn bis dato hat noch kein Spieler, der dort erstmals gewann, seinen Erfolg im nächsten Jahr wiederholen können.
Ein rein englisches Duell zwischen Wilson alias «The Warrior» und Judd Trump, auch «The Ace» gerufen, galt unter Experten als logischer Final der diesjährigen WM. Es würde die Nummer eins und zwei im aktuellen Ranking zum bereits vierten Endspiel der Saison zusammenbringen. Aber jetzt, wo O’Sullivan definitiv seinen 33. Anlauf in Sheffield nimmt, ist er sofort ein Mitfavorit, das sieht auch Kyren Wilson so. «Er ist immer noch hungrig nach Siegen», so ist der überzeugt, «man kann diesen Mann nicht abschreiben.»
Ein stetes Auf und Ab
Wie aber steht es um die Form von O’Sullivan? Aus dem saudischen Riad waren jüngst ermutigende Bilder und Nachrichten eingetroffen. Von dort aus hatte der Altmeister auf Social Media die Freude über die Fortschritte seiner neuen Snooker-Akademie gepostet. «Die geleistete Arbeit ist grossartig», teilte er einer Million Followern auf Instagram mit. Und: «Ich bin stolz, dass wir Talente fördern und das Spiel weiterentwickeln.» Am Tag darauf glänzte er bei einem Demonstrations-Match mit einem «Maximum Break», dem raren Satzgewinn aus einer einzigen, kompletten Aufnahme heraus.
Ein gewisses Niveau ist also nach wie vor vorhanden. Ausserdem hat O’Sullivan bereits häufiger nachgewiesen, dass er auch längere Wettkampfpausen ohne Flurschäden überstehen kann. So setzte er nach seinem Sieg an der WM 2012 fast für die gesamte nächste Saison aus, kehrte dann ins Crucible zurück und hielt am Ende erneut die Siegertrophäe in den Händen. Eine verblüffendere Komödie hat das Theater an der Norfolk Road in seiner 48-jährigen Rolle als «Home of Snooker» nicht erlebt.
Fulminante Höhepunkte, aber auch Ausschläge in die Gegenrichtung, so war das häufig in O’Sullivans Karriere. Schon länger hat er seine depressiven Schübe öffentlich gemacht, ebenso wie manchen Party- und Drogenexzess, wie Selbstzweifel und Trennungen.
Dennoch – oder gerade deshalb – wird O’Sullivan verehrt. Im Vorfeld der WM in Sheffield zogen Fans und Follower viele Register, um ihr Idol erneut an den tonnenschweren Spieltisch zu bringen. «Bring deinen Kopf in Ordnung, will dich spielen sehen, solange du kannst», schrieb ihm ein Anhänger via Instagram. «Diese Gabe, die du hast, wird nicht ewig währen, und sie ist wirklich magisch.»
Aber nicht die schönsten Komplimente, sondern nur der letzte Eindruck von der eigenen Form dürfte für O’Sullivan den Ausschlag gegeben haben, in Sheffield mitzuspielen. Schliesslich will er in der Lage sein, zumindest die erste Partie in akzeptabler Manier zu gestalten, das hat er im Vorfeld betont. Sie ist dem vorläufigen Turnierbaum gemäss für Dienstag und Mittwoch angesetzt und führt ihn ausgerechnet mit Ali Carter zusammen. Das ist der einstige Trainingspartner, den «The Rocket» nach garstigen Debatten am Tisch nun als «verdammten Albtraum» bezeichnet.