Wenige Monate vor den Olympischen Spielen steigt in Frankreich die Nervosität. Die Rechtspopulisten sehen indes eine Chance für eine Allianz mit Russland.
Eine kleine Gruppe von islamischen Extremisten im Tarnanzug dringt in einen Konzertsaal ein, sie werfen Granaten, eröffnen das Feuer auf nichtsahnende Musikfans, nehmen Personen als menschliche Schutzschilde, um der Polizei den Gegenangriff zu erschweren, ermorden Dutzende Männer, Frauen, Jugendliche. Das passierte am Freitagabend in Moskau. Und es passierte vor achteinhalb Jahren in Paris.
Das Attentat in Russland reisst in Frankreich alte Wunden auf. Manche der hiesigen Medien bezeichnen die Crocus City Hall bereits als «russisches Bataclan». Im geschichtsträchtigen Theater im 11. Arrondissement fielen am 13. November 2015 89 Menschen dem Fanatismus zum Opfer.
Kein anderes Land in Westeuropa hat so stark unter Terrorattacken zu leiden wie Frankreich. Über 250 Menschen wurden in den letzten Jahren insgesamt von Islamisten getötet. Für besonderes Entsetzen sorgten neben dem Massaker im Bataclan die Enthauptung des Mittelschullehrers Samuel Paty 2020 in einem Pariser Vorort und die Ermordung des Lehrers Dominique Bernard im nordfranzösischen Arras im November 2023. Beide jihadistisch motivierten Täter stammten aus Tschetschenien, der unruhigen russischen Teilrepublik mit muslimischer Mehrheit.
Diese Umstände erklären, warum sich die französische Regierung nach dem Moskauer Anschlag besonders besorgt zeigt. Am Sonntag traf sich in Paris der Rat für nationale Verteidigung und Sicherheit unter der Leitung von Präsident Emmanuel Macron. Am späten Abend verkündete Premierminister Gabriel Attal dann höchste Alarmstufe des sogenannten «Plan Vigipirate».
À la suite de l’attentat de Moscou, un Conseil de Défense et de Sécurité nationale a été réuni ce soir à l’Elysée par le Président de la République.
Compte tenu de la revendication de l’attentat par l’état islamique et des menaces qui pèsent sur notre pays, nous avons décidé de…
— Gabriel Attal (@GabrielAttal) March 24, 2024
Das heisst, dass es eine unmittelbar bevorstehende Bedrohung durch Terroranschläge gibt. «Vigi» steht in diesem Kunstbegriff für «vigilance» (Wachsamkeit), «pirate» setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der französischen Wörter für «Schutz von Einrichtungen gegenüber dem Risiko terroristischer Anschläge mit Sprengstoff».
IS bedroht auch Frankreich
Attal hatte die Beurteilung der Terrorbedrohung, für die schon seit der Attacke von Arras die Höchststufe galt, kurz nach Beginn seiner Amtszeit im Januar um eine Stufe heruntergesetzt. Dass er dies nun rückgängig macht, erklärt der Premierminister damit, dass sich der Islamische Staat zum Anschlag von Moskau bekannt hat. «Diese Organisation bedroht auch Frankreich und war in letzter Zeit in mehrere vereitelte Attentatsversuche in Europa involviert.» Dazu zählte ein Plan, im letzten Dezember den Strassburger Weihnachtsmarkt anzugreifen.
Nun gilt erhöhte Wachsamkeit, und das Innenministerium will raschestmöglich Personen überprüfen, die als potenzielle Attentäter gelten. Dass in Frankreich Nervosität herrscht, hängt auch mit den Olympischen Spielen zusammen, die in vier Monaten in Paris beginnen. Der Terrorismusexperte Jean-Charles Brisard sagte in der Zeitung «Le Parisien», ein Sportereignis dieser Grösse sei per definitionem ein Ziel terroristischer Organisationen – erst recht, wenn es in einem Land stattfinde, das der Islamische Staat oder al-Kaida ins Visier genommen habe.
Innenminister Gérald Darmanin hat ein Grossaufgebot von Sicherheitskräften versprochen, um die Besucher der Spiele zu schützen. Der Chef der Pariser Polizei betonte kürzlich, die Sicherheitssituation in seiner Stadt habe sich verbessert, insbesondere rund um den Eiffelturm und in der Metro. Éric Ciotti, der Präsident der konservativen Partei Les Républicains, sagt nun in einem TV-Interview, Frankreich habe zwar äusserst leistungsfähige Nachrichtendienste. «Aber wir müssen mit aller Demut sagen, dass es kein Nullrisiko gibt und wir nicht immun gegen Anschläge sind.»
Relativieren der russischen Gefahr
Der Terrorangriff vom Freitag beeinflusst die politische Debatte in Frankreich noch auf andere Weise. Laut der Zeitung «Le Monde» befürchtet Macrons Entourage, dass der Support für eine Pro-Ukraine-Politik weiter schwindet. Immer mehr Bürger könnten sich fragen, wie gross die relativ weit entfernte russische Gefahr für sie selbst ist – und wie viel Sinn ein stärkeres französisches Engagement in Osteuropa ergibt.
«Es ist doch offensichtlich, dass die hauptsächliche physische Bedrohung im Alltag der Franzosen eine islamistische ist», betont Jean-Philippe Tanguy, ein Spitzenpolitiker des Rassemblement national (RN). Die rechtsnationalistische Partei sieht sich schon länger dem Vorwurf ausgesetzt, Putin-hörig zu sein. Jetzt versucht sie, die Gunst der Stunde zu nutzen. Ein RN-Sprecher erklärte, der wahre Feind des Abendlands sei der Islamismus. Gegen diesen müssten sich alle christlichen Nationen verbünden, von den USA über Frankreich bis Russland.
Es ist dieses Narrativ, gegen das Macron wird ankämpfen müssen – mit seiner eigenen Erzählung, dass sich das Schicksal Europas und Frankreichs auch an der ukrainischen Front entscheidet.
Weiterhin «erhöhte» Terrorbedrohung in der Schweiz
dgy./hhs. · Im Gegensatz zu Frankreich hat die Schweiz nach dem Anschlag von Moskau keine Neubeurteilung der Bedrohungslage vorgenommen: Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) beurteilt die Gefahr eines Anschlags für die Schweiz weiterhin als «erhöht», wie eine Sprecherin auf Anfrage schreibt. Es handle sich dabei nicht um ein Warnsystem, das mit jenem Frankreichs vergleichbar sei. Das plausibelste Terrorszenario für die Schweiz sei derzeit ein jihadistischer Gewaltakt, der von einer Einzelperson verübt werde. Laut dem NDB stellt die Schweiz für Jihadisten ein legitimes Ziel für Terroranschläge dar, weil sie zur westlichen, angeblich islamfeindlichen Welt gehört. Andere Staaten seien aber exponierter, insbesondere solche, die sich wie Frankreich an den internationalen Koalitionen gegen den Islamischen Staat beteiligen würden.