An der Bürgenstock-Konferenz in der Schweiz war die systematische Folterung ukrainischer Kriegsgefangener ein wichtiges Thema. Passiert ist seither wenig. Immerhin engagieren sich neue Akteure.
Ukrainische Soldaten werden in russischer Kriegsgefangenschaft oft Opfer von Misshandlung und Verbrechen. Regelmässig tauchen im Netz verstörende Videos auf. Erst vor wenigen Tagen war auf einem zu sehen, wie zwei Russen offenbar ukrainische Soldaten erschiessen, die sich ergeben hatten. Anfang Juni filmten sich Moskauer Truppen dabei, wie sie vier Gefangene zum Singen sowjetischer Lieder zwangen, schlugen und traten. Einen Ukrainer unterzogen sie einer Scheinhinrichtung, indem sie gleich neben seinem Kopf in den Boden schossen. Das sind Kriegsverbrechen.
Die dritte Genfer Konvention verpflichtet Konfliktparteien dazu, sich gegenüber gefangenen Soldaten menschlich zu verhalten. Sobald diese in Haft sind, müssen sie würdig untergebracht und versorgt werden. Zwar misshandeln auch die Ukrainer immer wieder Kriegsgefangene, vor allem in den ersten Stunden nach der Festnahme. Doch nur Russland lässt regelmässig Tötungen und Folter zu.
Systematische Folter in russischer Haft
Das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte hat das zynische Vorgehen mittels der Befragung von fast tausend freigelassenen Gefangenen beider Seiten dokumentiert. Viele Ukrainer, die nach Monaten oder gar Jahren der Gefangenschaft entkamen, sind schwer gezeichnet vom systematischen Nahrungsentzug, von Elektroschocks und ständigen Schlägen. Ende Mai gingen die Fotos des nur noch aus Haut und Knochen bestehenden Roman Horilik um die Welt. Horilik, ein zu Beginn des Krieges in Tschernobyl gefangengenommener Zivilist, ist nur einer von mehreren hundert Opfern mit wohl lebenslangen Folgeschäden.
Ukrainian Roman Vasilyovich Horilik after two years in Russian captivity
He was never in combat.
Don’t be in denial about what Russia really is. 1/ pic.twitter.com/tBDvXgL8G5
— Tymofiy Mylovanov (@Mylovanov) June 5, 2024
Dass Horilik im Rahmen eines Austausches freikam, überrascht angesichts der Unmenschlichkeit dieses Krieges. Solche Überstellungen von Gefangenen finden aber relativ regelmässig statt, seit der russischen Invasion im Februar 2022 insgesamt 55 Mal. Laut den Behörden in Kiew kehrten so 3400 Ukrainer nach Hause zurück. Die Zahlen der Gegenseite dürften sich in einer ähnlichen Grössenordnung bewegen, da der Gefangenenaustausch fast immer im Format «eins gegen eins» erfolgt.
Seit einiger Zeit versuchen die Ukrainer aber verstärkt, Russland zur Freilassung aller Kriegsgefangenen zu bewegen. Die Regierung in Kiew steht bei diesem hochemotionalen Thema unter Druck, da die Proteste der Angehörigen ein grosses Medienecho auslösen. Entsprechend wichtig war es ihr, die Frage bei der Bürgenstock-Konferenz in der Schweiz Mitte Juni als eines von drei prioritären Themen zu setzen.
Erreicht haben die Ukrainer, dass die Forderung nach einer Freilassung aller Gefangenen Eingang in die inzwischen von 87 Staaten unterstützte Abschlusserklärung fand. Auch wird Moskau aufgefordert, allen verschleppten Kindern und illegal festgehaltenen Zivilisten die Rückkehr in die Ukraine zu erlauben.
Moskau hat deutlich mehr Kriegsgefangene
Der Kreml dürfte sich davon nicht beeindrucken lassen. Ein vollständiger Austausch ist auch nicht in seinem Interesse, weil er über erheblich mehr Gefangene verfügt. Wladimir Putin sprach jüngst von knapp 6500 Ukrainern, verglichen mit 1350 russischen Soldaten.
Kiew veröffentlicht keine Zahlen, bestätigt aber hinter vorgehaltener Hand die ungefähre Grössenordnung. Laut Petro Jazenko, dem Sprecher des Koordinationsbüros für die Behandlung von Kriegsgefangenen in der Ukraine, hängt die Ungleichheit vor allem mit den Erfolgen der Russen in den ersten Kriegsmonaten zusammen. Allein in Mariupol mussten sich 2400 umzingelte Soldaten ergeben.
Moskau tut alles, um Transparenz zu verhindern. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erhält nur sehr beschränkten Zugang zu den Gefangenenlagern, unabhängige Überprüfungen der dortigen Zustände gibt es im Gegensatz zur Ukraine nicht. Dazu kommt, dass die Russen laut Kiewer Angaben mindestens 1800 Zivilisten festhalten, oft unter fragwürdigen Vorwürfen wie Terrorismus oder Spionage. Die Gesamtzahl der Vermissten beziffern die Ukrainer mit 42 000.
Russland vermischt somit die Kategorien der Kriegsgefangenen und der regulären Häftlinge. Es verwischt auch Spuren, wenn es um die Verschleppung von Kindern geht: Diese wurden seit 2022 als angebliche Waisen massenhaft zur Adoption durch russische Eltern freigegeben. Diese dürfen seit Anfang Jahr auch ohne die Zustimmung der Kinder für sie die Staatsbürgerschaft beantragen. Solche Fälle sieht der Internationale Strafgerichtshof als Kriegsverbrechen und hat deshalb 2023 einen Haftbefehl gegen Putin und dessen Beauftragte für Kinderrechte erlassen.
Die Ukraine drängt neutrale Staaten zum Handeln
Gegen die perfiden Praktiken Russlands sind die Ukrainer relativ machtlos. Sie haben es aber nicht zuletzt auf der Bürgenstock-Konferenz geschafft, neutrale Staaten zu einem verstärkten Engagement zu bewegen. So ist der gegenüber Russland oft lavierende Vatikan sehr aktiv in einer vor fünf Monaten gegründeten Koalition zur Rückführung ukrainischer Kinder. Ende Juni vermittelte er die Freilassung von zehn Zivilisten, die Russland teilweise seit 2017 festgehalten hatte.
Sonst sind es vor allem die Golfstaaten, die ihre guten Beziehungen zu West und Ost nutzen, um die Freilassung von Gefangenen zu fördern. Mit Ausnahme von Katar haben sie die Abschlusserklärung der Bürgenstock-Konferenz nicht unterzeichnet, da sie sich politisch nicht exponieren wollen und lieber hinter den Kulissen agieren.
Besonders die Vereinigten Arabischen Emirate wurden von Kiew regelmässig als treibende Kraft hinter Gefangenenaustauschen genannt, zuletzt am Mittwoch, als gesamthaft 190 Soldaten beider Seiten freikamen. Katar erreichte wiederholt die Freilassung von verschleppten Kindern. Auch Saudiarabien, möglicher Austragungsort eines nächsten Friedensgipfels, der vielleicht gar mit russischer Beteiligung stattfindet, soll sich diskret, aber stark engagieren.
Gerade weil ein Ende des Krieges weit weg scheint, muss die ukrainische Diplomatie das Thema der Gefangenen im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit halten. Sie tut dies geschickt und weiss sich moralisch im Recht, da Russlands Verhalten schlicht nicht zu rechtfertigen ist. So schafft Kiew auch Handlungsdruck bei sonst eher passiven Akteuren.
Dennoch bleibt der Willkürstaat am längeren Hebel – auch weil er die eigenen gefangenen Soldaten als wenig wertvoll und im schlimmsten Fall als Verräter betrachtet. Kiew kann deshalb nur auf kleinere Erfolge hoffen: Als Nächstes streben die Ukrainer die Rückkehr aller festgehaltenen Frauen und Schwerverletzten an.