Seit Deutschland angekündigt hat, sämtliche Binnengrenzen zu kontrollieren, herrscht in der EU Nervosität. Bringen die verstärkten Sicherheitsmassnahmen den erwünschten Effekt?
Das echte Schengen – eine kleine Gemeinde im Südosten von Luxemburg – kennt niemand. Aber wofür der Name des Dorfes seit 1985 synonymisch steht, das haben alle schon persönlich erlebt: den freien Personen- und Warenverkehr zwischen den Mitgliedsländern des gleichnamigen Raums. Oder kurz: das grenzfreie Europa. Schengen gilt, das zeigen Umfragen, als eine der bedeutsamsten und bei der Bevölkerung beliebtesten Errungenschaften der europäischen Integration.
Nicht weniger als 28 Staaten – darunter auch die Nicht-EU-Länder Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein – haben das Abkommen unterzeichnet und sich damit verpflichtet, auf systematische Kontrollen ihrer Binnengrenzen zu verzichten. Es ist der weltweit grösste Verbund von Staaten, zwischen denen grundsätzlich Reisefreiheit besteht.
Doch das Schengensystem steht gehörig unter Druck. Das gilt zwar schon seit geraumer Zeit, seit dieser Woche aber um eine Eskalationsstufe mehr: Um die illegale Migration zu begrenzen und Bedrohungen wie den islamistischen Terrorismus oder grenzüberschreitende Kriminalität einzudämmen, kündigte Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser am Montag an, an den Grenzen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien und Dänemark Kontrollen einzuführen. Gegenüber der Schweiz, Österreich, Polen und Tschechien bestehen solche schon länger. Die Massnahme soll am 16. September in Kraft treten.
Es droht ein Dominoeffekt
Die Reaktion der Nachbarländer liess nicht lange auf sich warten. Polen geisselte die Ankündigung als «inakzeptabel». Österreich kündigte an, dass es «keinen Spielraum» dafür gebe, Personen aufzunehmen, die an der deutschen Grenze zurückgewiesen würden. Es droht ein Dominoeffekt – Nachbarstaaten könnten sich genötigt fühlen, nachzuziehen.
Deutschland steht allerdings nicht allein da: Gleich acht Schengenstaaten kontrollieren derzeit ihre Binnengrenzen (teilweise nur zu einzelnen Nachbarstaaten). Sie liegen allesamt in Westeuropa oder Skandinavien – also jenen Regionen, die für Migranten besonders attraktiv sind. Im eigentlich grenzenlosen Europa ist die Ausnahme fast schon die neue Regel.
Gemäss Schengener Grenzkodex liegt es in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, Grenzkontrollen befristet einzuführen. Neben der zeitlichen Beschränkung muss die Massnahme «in einer Ausnahmesituation das letzte Mittel» sein und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren. Zudem müssen die Regierungen den Schritt zuvor der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten mitsamt Begründung mitteilen.
Neben dem fast immer genannten Migrationsdruck werden dabei etwa «zunehmende Bedrohung kritischer Infrastrukturen» (Norwegen) genannt, «Risiken im Zusammenhang mit der globalen Sicherheitslage» (Slowenien) oder «verschärfte terroristische Bedrohung» (Frankreich). Mit anderen Worten: Die Erklärungen lassen oftmals viel Interpretationsspielraum.
Ein Veto kann die EU-Kommission nicht einlegen. Aber sie kann gemäss Verordnung eine Stellungnahme zur «Notwendigkeit der Massnahme und zu ihrer Verhältnismässigkeit» abgeben. Nur: Nimmt sie diese Möglichkeit auch wahr? Gemäss «FAZ» ist dies noch nie geschehen. Die Kommission hat eine entsprechende Anfrage am Freitag nicht beantwortet.
2015 als grosse Wende
Es gab eine Zeit, da herrschte zwischen den Schengenstaaten tatsächlich der uneingeschränkt freie Personen- und Warenverkehr. Ein EU-Beamter spricht hinter vorgehaltener Hand von der «goldenen Zeit». Frankreich war 2006 der erste Staat, der Grenzkontrollen temporär wieder einführte – mit der aus heutiger Sicht geradezu harmlosen Begründung, dass junge Basken in Bayonne eine Demonstration planen würden. Ungefähr in diesem Stil ging es jahrelang weiter: Das Ausnahme-Regime wurde für sportliche Grossveranstaltungen, politische Gipfeltreffen oder heikle Kundgebungen ausgerufen, die nur wenige Tage oder Wochen dauerten.
Die grosse Wende erfolgte 2015 – in jenem Jahr, in dem rund zwei Millionen Migranten nach Europa strömten. Reihenweise führten die Schengenstaaten Grenzkontrollen ein, in der Hoffnung, wenigstens ansatzweise den Überblick zu behalten. Die Massnahmen wurden später zurückgenommen, bis das Schengensystem dem bislang grössten Stresstest ausgesetzt war: Im Zuge der Corona-Pandemie intensivierten die Staaten damals nicht nur – wie derzeit – die Kontrollen, sie machten bis auf Ausnahmen die Grenzen komplett dicht.
Von einer derartigen Extremsituation ist Europa trotz Migrationsdruck und Sicherheitsbedenken weit entfernt. Aber das Niveau der Wachsamkeit ist seither erhöht, wie ein simpler Vergleich zeigt: Zwischen 2006 und 2015 erhielt die EU-Kommission gerade einmal 36 Benachrichtigungen über die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen. In der – gleich langen – Zeitspanne zwischen jenem Sommer und heute sind es hingegen 405 Einträge.
Willkommenskultur ist vorbei
Bei einer Ankündigung wie jener Deutschlands schwingt immer auch Symbolpolitik mit: Die Bundesregierung will nach Ereignissen wie der Messerattacke von Solingen oder dem Wahlerfolg der AfD ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Und Zuwanderungswillige auf der ganzen Welt sollen das Signal hören, dass es vorbei ist mit der deutschen Willkommenskultur.
Wie viel die Grenzschutzmassnahmen in der Praxis bewirken, ist eine andere Frage: Nach Deutschlands Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz im letzten Herbst ist die Zahl der festgestellten unerlaubten Einreisen von 21 000 im September 2023 auf 7500 im April 2024 zurückgegangen. In Österreich ist die Zahl der Asylanträge gestiegen und wieder gefallen, unabhängig von der Massnahme.
Allerdings stecken die Abgewiesenen vermutlich sonst irgendwo in Europa fest. Zudem ist im Fall von Deutschland bekannt, an welchen Grenzübergängen Kontrollen stattfinden. Entsprechend dürften die illegal Einreisenden verstärkt andere Routen wählen. Denn: Kein einziger Schengenstaat hat die personellen Ressourcen, die Grenzübertritte flächendeckend zu überprüfen. Es wäre der Todesstoss für den Schengenraum.
Nun aber ist das System zumindest geritzt. Es gilt, die unerwünschte Zuwanderung zu begrenzen, ohne gleichzeitig den Alltag der Millionen Bürger, welche die Grenzen täglich für die Arbeit, den Einkauf oder die Ferien passieren, merklich einzuschränken. Gemäss EU-Beamten legen die Grenzschützer den Fokus deshalb auf zwei Arten von Transportmitteln, bei denen die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, irreguläre Migranten vorzufinden: Busse und Züge.