Statistiken machen sichtbar, wie Peking den militärischen Druck auf Taiwan und Japan beliebig erhöht.
Aktionen im Graubereich – «grey zone operations» – nennen Experten Operationen eines Staates, die zwar aggressiv sind, die aber unter der Schwelle der kriegerischen Auseinandersetzung bleiben. Dazu gehört zum Beispiel die Beschädigung von wichtiger Infrastruktur des Gegners wie Unterseekabeln. Oder der ständige Druck durch die Streitkräfte oder andere staatliche Akteure.
Ein Meister dieser Strategie ist China. So hat es mit stetigem Druck über die Jahre erreicht, dass es grosse Teile des Südchinesischen Meeres dominiert – andere Anrainerstaaten wie die Philippinen, Vietnam oder Malaysia können zwar protestieren. Doch Peking macht unbeirrt weiter, mit Ausnahme einiger taktischer Pausen.
Für das kommunistische Regime hat das Vorgehen mehrere Vorteile:
- Es kann den Druck nach Belieben erhöhen.
- Numerisch sind das Militär und die Küstenwache Chinas allen anderen Ländern überlegen, selbst den in der Region stationierten amerikanischen Streitkräften. Diese haben Mühe, ständig auf chinesische Provokationen zu reagieren.
- Es ist für die bedrängten Länder schwierig, eine angemessene Antwort zu finden. Denn jeder einzelne Übergriff ist zu klein, um eine militärische Reaktion zu rechtfertigen. Als Ganzes untergraben sie jedoch die Souveränität der betroffenen Länder.
- Geschehen die Übergriffe dosiert, stumpfen Medien und Öffentlichkeit ab: Es entsteht eine «neue Normalität».
Sichtbar machen lässt sich diese Salamitaktik mit Statistiken. Eine Quelle ist Taiwan: Die von China beanspruchte Demokratie publiziert täglich Zahlen über chinesische Flugzeuge und Schiffe, die ihren Luft- und Seeraum bedrängen. Auch Cyberangriffe dokumentiert Taipeh detailliert.
Chinas Flüge um Taiwan haben stark zugenommen
Taiwan dokumentiert chinesische Flüge in seine Luftüberwachungszone, kurz Adiz genannt. Diese wird begrenzt von einer Mittellinie in der Taiwanstrasse, welche Flugzeuge beider Seiten voneinander fernhalten soll. Adiz und Mittellinie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern deklariert: Über Jahrzehnte respektierten China wie Taiwan diese Trennung grossmehrheitlich.
Heute sieht die Lage komplett anders aus: Durchschnittlich mehr als acht Mal pro Tag fliegen Maschinen des chinesischen Militärs – Kampfjets, Überwachungsflugzeuge, Drohnen, Transporter – in die taiwanische Adiz ein. Wenn man Flugzeuge mitzählt, die eng an der Adiz entlangfliegen oder kurz davor abdrehen, sind es 14 Ereignisse pro Tag. In Taiwans Statistiken erscheinen diese Flüge in der Rubrik «im Luftraum um Taiwan».
In Extremfällen kann die Zahl viel höher liegen: Am 14. Oktober entdeckte Taiwan 153 chinesische Flugzeuge in seiner Nähe, 111 davon flogen in die Adiz. Die chinesische Volksbefreiungsarmee führte an dem Tag ein Grossmanöver durch, weil es sich von einer Rede des taiwanischen Präsidenten Lai Ching-te zum Nationalfeiertag provoziert sah.
Was die Grafik für 2024 nicht zeigt: Gegenüber dem Vorjahr haben die chinesischen Flüge in die Adiz stark zugenommen: Sie stiegen von durchschnittlich 4,7 auf 8,4 pro Tag. Das ist eine Zunahme um 80 Prozent. Gegenüber 2001 ist es gar mehr als eine Verdreifachung.
Die chinesische Marine ist ständig um Taiwan präsent
Das gleiche Bild, das in der Luft zu sehen ist, zeigt sich auch auf dem Wasser. Praktisch konstant sind fünf bis sechs chinesische Kriegsschiffe in Gewässern um Taiwan präsent. Die taiwanischen Behörden definieren nicht exakt, was sie unter «Gewässern um Taiwan» verstehen. Sie befürchten, dass China Rückschlüsse auf die taiwanischen Überwachungsfähigkeiten ziehen könnte, wenn sie eine exakte Distanz angeben würden.
Aus Gesprächen mit taiwanischen Beamten lässt sich schliessen, dass es sich um wenige Seemeilen ausserhalb der sogenannten Anschlusszone handelt, die sich über 24 Seemeilen, rund 44 Kilometer, von Taiwans Küste erstreckt. Die Zone selber scheinen chinesische Schiffe bis anhin zu respektieren.
Wie weit die Präsenz der chinesischen Marine um Taiwan mittlerweile Normalzustand ist, zeigt sich daran, dass sie im vergangenen Jahr nur gerade an acht Tagen keine Schiffe losschickte. An diesen Tagen herrschte jeweils starker Sturm.
Auch die Zahl der Schiffe steigt stark an, wenn China Grossmanöver durchführt. Im Mai war dies die Übung «Joint Sword» 2024A, im Oktober «Joint Sword» 2024B. Beide Male schien das Szenario der Übung eine Abschnürung Taiwans von der Aussenwelt gewesen zu sein. Bis zu 27 chinesische Kriegsschiffe waren dabei im Einsatz.
An den Grossmanövern teil nahm auch die Küstenwache – China hat die zahlenmässig grösste Küstenwache der Welt. Deren Schiffe sind zum Teil grösser als die meisten Kriegsschiffe und stärker bewaffnet als Küstenwachschiffe anderer Länder.
Während die Küstenwache rund um die Hauptinsel Taiwan nur die Kriegsmarine unterstützt, hat sie um Kinmen und Matsu – zwei zu Taiwan gehörende, aber direkt vor dem Festland gelegene Inselgruppen – die Führungsrolle. Dort dringt sie in Gewässer ein, welche die taiwanischen Behörden als Sperrzonen deklariert haben, und demonstriert so, dass sie diese nicht anerkennt. Die Zahlen sind nur sehr unvollständig erhältlich: Laut der taiwanischen Küstenwache drang die chinesische Seite im vergangenen Jahr 53 Mal in die Zonen um Kinmen ein. Die Zahlen zu Matsu sind nicht öffentlich.
Ballone zur psychologischen Kriegsführung
Ein neues Phänomen zeigte sich im Dezember 2023, wenige Wochen bevor Taiwan seinen Präsidenten und seine Parlamentsabgeordneten wählte. Auf einmal entdeckte Taiwans Militär Ballone, die von China her kamen. Teilweise streiften sie die Adiz, andere flogen quer über die Insel hinweg.
Der militärische Nutzen dieser Ballone ist unklar. Doch sie absorbieren auf taiwanischer Seite Ressourcen der Luftüberwachung. Die Behörden müssen sicherstellen, dass die Ballone keine Gefahr für die zivile Luftfahrt sind. Da das taiwanische Militär gegen die Ballone nicht viel machen kann, ausser sie zu beobachten, wirkt es hilflos.
Die Ballonflüge hörten im Frühling auf – bis sie im Dezember wieder registriert wurden. Was Peking damit bezweckt, bleibt offen. Doch Verwirrung zu stiften, ist ein wichtiges Ziel von Operationen im Graubereich. Es geht um psychologische Kriegsführung.
Taiwans elektronische Infrastruktur ist Millionen von Angriffen ausgesetzt
Im Cyberspace macht China ebenso Druck auf Taiwan wie im Luft- und im Seeraum um die Insel. 2,4 Millionen Angriffe auf die IT-Infrastruktur zählte Taiwans National Security Bureau im vergangenen Jahr – pro Tag. Die meisten dieser Angriffe gingen aufs Konto Chinas, schreibt die Agentur in ihrem Jahresbericht.
Auffallend ist, dass die Zahl der Angriffe 2023 relativ stabil war, nach den Wahlen in Taiwan dann aber steil in die Höhe schoss. So verlieh China seinem Ärger Ausdruck, dass Taiwans Stimmbürger den chinakritischen Lai Ching-te zum Präsidenten gemacht hatten. Im Jahresschnitt ergab sich eine Verdoppelung der Angriffe. Besonders im Visier der chinesischen Hacker sind laut taiwanischen Angaben die Telekominfrastruktur, aber auch das Transportwesen und die Lieferkette für militärische Güter.
Der Druck auf Japan bleibt hoch
Auch seinen Nachbarn Japan setzt China unter Druck. 432 Mal stiegen japanische Kampfjets 2024 auf, um chinesische Flugzeuge abzufangen, die in die japanische Luftüberwachungszone eingeflogen waren.
Am 26. August drang ein chinesisches Überwachungsflugzeug sogar kurz in den japanischen Luftraum über den Danjo-Inseln ein. Japan protestierte, die chinesische Regierung teilte später mit, dass dies unabsichtlich geschehen sei.
In den letzten Jahren ging die Zahl der chinesischen Flüge leicht zurück. Aus japanischer Sicht ist aber die zunehmende Kooperation der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit den russischen Streitkräften bedenklich. Die Luftwaffen beider Länder führen immer wieder gemeinsame Manöver durch. Russland ist das Land, das am zweithäufigsten japanische Abfangmanöver auslöst.
Bis vor zehn Jahren waren es noch die Russen, die am häufigsten in Japans Adiz eindrangen. 2012 überholte China Russland zum ersten Mal, bis 2016 stieg die Zahl chinesischer Flüge steil an. Damals waren die Beziehungen zwischen Peking und Tokio besonders angespannt. Seither schwankt die Zahl der Flüge auf hohem Niveau.
Chinas Schiffe sind fast das ganze Jahr über präsent
Am häufigsten kommen sich japanische und chinesische Streitkräfte in den Gewässern um die Senkaku-Inseln in die Quere. Japan kontrolliert die unbewohnten Felsen, China nennt sie Diaoyu und beansprucht sie für sich. Peking unterstreicht diesen Anspruch, indem es ständig mit Schiffen seiner Küstenwache in die Gewässer um die Inseln einfährt.
2024 war Chinas Küstenwache an 355 Tagen in der Anschlusszone um die Inseln präsent. Ein neuer Rekord. Die Anschlusszone erstreckt sich 24 Seemeilen, rund 44 Kilometer, vor der Küste. 115 Mal drangen die chinesischen Schiffe auch in die Hoheitsgewässer ein, die 12 Seemeilen weit ins Meer reichen.
Laut japanischen Angaben setzt Chinas Küstenwache zunehmend grössere Schiffe ein. Diese sind für längere Einsätze geeignet und sind auch bei schlechtem Wetter einsetzbar. So kann Peking fast konstant seine Präsenz aufrechterhalten.
Das Beispiel Senkaku illustriert, welche Mittel ein Land aufwenden muss, um dem chinesischen Druck entgegenzutreten. Die betroffenen Gewässer erstrecken sich über 4740 Quadratkilometer – etwas weniger als die Fläche des Kantons Wallis. Um dort rund um die Uhr präsent zu sein, setzt Japans Küstenwache zehn mittelgrosse Schiffe und zwei grosse Einheiten mit Helikopter an Bord ein. 600 Angestellte seien dafür nötig, schreibt das Magazin «The Diplomat».
Chinas Druck wird zur Normalität
Die Statistiken zeigen: Chinas Druck gegen Taiwan und Japan ist Alltag. Im Normalfall finden die Übergriffe keine Beachtung – die Schwelle, ab der die Öffentlichkeit aufmerksam wird, wird stetig höher. Im Falle Taiwans wird es auch immer schwieriger, zu erkennen, wann ein Angriff beginnt. Wenn 153 chinesische Flugzeuge, die auf die Insel zufliegen, kein Ernstfall sind, was ist es dann?
Man könne dieses langsame, aber unablässige Erhöhen des Drucks mit dem Würgegriff einer Schlange vergleichen, sagte der Chef der taiwanischen Marine, Admiral Tang Hua, vor kurzem in einem Interview mit dem Magazin «The Economist». China setze auf eine Anakonda-Strategie.
Taiwan versucht nach Aussage des Admirals, eine Konfrontation zu vermeiden. «Die Volksbefreiungsarmee will Taiwan zu Fehlern zwingen und sucht nach ‹Ausreden›, um eine Blockade auszulösen. Wir halten aber unsere Leute zurück, um nicht zu provozieren oder zu eskalieren.»
Das chinesische Vorgehen birgt die Gefahr eines Zusammenstosses. Regelmässig kommen militärische Flugzeuge sowie Schiffe der Küstenwachen und Marinen von China jenen Taiwans, Japans, der Philippinen und seltener auch der USA und von deren Verbündeten sehr nahe. Chinas Aktionen in der grauen Zone könnten in einen Konflikt münden.