Der afrikanische Singeli-Sound prägt die internationale Rave-Szene. Die Musiker predigen den Jugendlichen: Arbeitet hart, schwänzt nicht die Schule, raucht nicht zu viel Gras, denkt an eure Zukunft!
Dar es Salaam: Die quirlige tansanische Metropole am Indischen Ozean ist für die meisten Touristen nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zum Mount Kilimanjaro, für eine Safari in die Serengeti oder zu den Stränden Sansibars. Es sei denn, man interessiere sich für elektronische Musik und den Techno-Sound der Zukunft.
Dann folgt man den nervösen, von übersteuerten Hi-Hats getriebenen Sounds der Kleinbusse und Dreirad-Taxis bis hinaus in die Armenviertel. Hier werden die Singeli-Partys veranstaltet, die Wochenende für Wochenende Tausende von Tänzerinnen und Tänzern anziehen. Kidogoro heissen die Raves – Kidogoro wie die Schaumstoff-Fetzen, auf denen die ermüdeten Partygänger nach ein, zwei durchgefeierten Nächten zusammenbrechen.
Mehr als Musik
Singeli ist eine sehr körperliche Musik. Und die Singeli-DJ setzen sich gleichsam als Zeremonienmeister der Ekstase in Szene. Auf ihren kaputten Laptops und mit manipulierter Software produzieren sie gebrochene Rhythmen. Mit bis zu 300 Beats pro Minute lassen sie Geklingel und Getrommel durch die Lautsprecherboxen dröhnen.
Singeli ist aber mehr als Musik. Er bewährt sich als Ventil, das das Selbstbewusstsein der Slumbewohner transportiert, die abseits der Hochhäuser von Downtown Dar es Salaam meist in Armut leben. Die Sechs-Millionen-Einwohner-Metropole gehört zu den am schnellsten wachsenden Grossstädten Afrikas. Und jedes Jahr kommen eine halbe Million Einwohner dazu. Die meisten von ihnen sind jung, arm und voller Tatendrang. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung Tansanias liegt bei 18 Jahren (zum Vergleich die Schweiz: 43 Jahre). Singeli kanalisiert ihre Energie. Es ist ein rastlos lärmiger Sound, der die Nerven fordert.
So hat etwa der Singeli-Produzent Jay Mitta auf seinem Track «Masera» miauende Katzen gesamplet. Und sein Kollege DJ Duke legt auf «Noana Laah» über Rattergeräusche verzerrte Radiosamples und Signalhörner. Selbst poppigere Künstler wie Sholo Mwamba und Pana Bamba fordern westliche Hörgewohnheiten heraus. Zwar haben Electro aus Südafrika oder angolanischer Kuduro-House mit ihren übersteuerten Fingerklavieren bereits die westliche Techno-Avantgarde erreicht. Singeli aber geht weiter. Seine Beats sind nicht nur schneller und härter als die der Konkurrenz. Das Genre hat auch eine eigene Rave-Kultur hervorgebracht.
Woher stammen die Ideen, die Energie, der Wahnwitz dieses Sounds? Wer das herausfinden will, muss nach Mburahati fahren, einem Armenviertel an der Ausfallstrasse Richtung Morogoro, wo die Pioniere des Singeli wohnen. Inmitten von bescheidenen Lehm- und Wellblechhütten betreibt hier Mohammed Sisso hinter einer schmucklosen Metalltür sein Studio.
Ein legendärer Ort. Seit 2013 pilgern so gut wie alle bekannten DJ und Sänger des Singeli in das mit Computern und Ventilatoren vollgestopfte Sisso-Studio – oder in das unweit gelegene Studio Pamoja Records von DJ Duke. «Ich habe tagsüber DVD verkauft und nachts in meinem Schlafzimmer Beats produziert», sagt Sisso. «Erst vor kurzem hat uns der Mainstream entdeckt. Jetzt wollen auch die besseren Klubs unsere Musik spielen, so dass wir damit erstmals Geld verdienen.»
Vom Studio in die Welt hinaus
Sisso griff auf alte tansanische Songs zurück, die traditionell von Orchestern auf Hochzeiten gespielt wurden, und beschleunigte sie auf das doppelte Tempo. Das Computerprogramm Virtual DJ besorgte den Rest und mischte Basstöne, Hörner und Hi-Hats hinein – samt allen möglichen Soundeffekten, die für Schub sorgen, nicht unbedingt für Schönheit. Stimmen nahm er anfangs mit seinem Handy auf. Am Ende musste alles flimmern und flirren.
So fand der Singeli aus dem Sisso-Studio seinen Weg in die Vorstadtstrassen, in die Dalla-Dalla-Minibusse und bis zu den Piratenhändlern, die diese Musik per selbstgebrannte CD oder mit USB-Sticks auf den Märkten unter die Leute brachten. Ohne sie hätte sich der Singeli kaum so schnell verbreitet. Und auch wenn auf dem Schwarzmarkt kein Geld für die Künstler hängenbleibt: Sie leben vor allem von ihren Live-Auftritten.
Typisch ist die Karriere von Sholo Mwamba. Der tansanische Superstar ist als Waise und Strassenkind aufgewachsen, er hat nie eine Schule besucht. «Der Singeli hat mir dann viele Türen geöffnet», erzählt er vor einem Auftritt bei der Musikmesse ACCES in einem feinen Open-Air-Klub in Downtown Dar es Salaam. «Ich passte bei Festen wie Taufen, Beschneidungen oder Hochzeiten die DJ ab, die auf ihrem Laptop traditionelle Lieder und Trommelrhythmen spielten, und sprang einfach als Rapper auf die Bühne.»
Sein Humor und sein schnelles Mundwerk spülten ihn nach oben. Und bald schon verfügte Sholo Mwamba über einen eigenen DJ sowie ein halbes Dutzend Tänzer und Trommler, die seine Auftritte mit Pelzkostümen oder Gladiatorenrüstungen zur Show machten. Inzwischen umarmten auch Pop-Stars den Arme-Leute-Sound, berichtet Sholo Mwamba. «Du hörst Singeli in der Werbung und auf Regierungsfeiern, selbst unsere Präsidentin hat zu Singeli getanzt.»
Lange gab der tansanische Hip-Hop den Ton an auf Fernseh- und Radiosendern oder an den Strandpartys der Reichen. «Wir rappen von Autos, sie von Mobiltelefonen», spottete einmal ein tansanischer MC über die Singeli-Konkurrenz. Während der lokale Rap die aufstrebende, nach Westen orientierte Mittelklasse mit Luxusphantasien adressiert, bleibt der Singeli seiner Herkunft aus den Slums treu.
Singeli galt als die Musik der Tagediebe und Kleinkriminellen. Regelmässig wurden die Strassenpartys von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Auch die in Tansania zahlreichen religiösen Fundamentalisten verteufelten die Musik. Aber hat Singeli tatsächlich etwas mit Unmoral zu tun?
Die Partys mögen auch Kleinkriminelle und Taschendiebe anziehen. Tatsächlich aber haben die Texte kaum etwas mit Gangsta-Rap gemein. Vielmehr erzählen die Musiker unverblümt vom Leben der Jugendlichen: von Armut, Problemen mit der Polizei, von der vergeblichen Suche nach Jobs. Viele predigen ihren Hörern: Arbeitet hart, schwänzt nicht die Schule, raucht nicht zu viel Gras, denkt an eure Zukunft!
Heute Europa, morgen die ganze Welt
Das hat auch mit der zunehmenden Präsenz von weiblichen Stimmen zu tun. Kadilida, Young Duda, Anti Virus, MC Memory oder Rehema Tahiri heissen sie. Letztgenannte, eine Mittvierzigerin und alleinerziehende Mutter, steht für weibliche Selbstermächtigung in einem ursprünglich männerdominierten Genre. Sie ermahnt ihre jüngeren Hörer, sich um ihre Kinder und Eltern zu kümmern.
Der Singeli aus den Slums von Dar es Salaam ist unterdessen in Europa und den USA angekommen und beeinflusst das musikalische Repertoire im Berliner «Berghain» ebenso wie die Techno-Partys in London, New York oder Zürich. Die schmutzigen Hochgeschwindigkeits-Loops verhelfen dem überstrapazierten Techno zu einer dringend benötigten Auffrischung.
Umgekehrt hilft das internationale Echo aber auch der tansanischen Singeli-Szene. Als 2020 der Superstar Alicia Keys ein Video postete, in dem sie zu Singeli tanzte, kannte der Enthusiasmus in den Slums von Dar es Salaam keine Grenzen. «Unser Sound verändert sich ständig», prophezeit Sholo Mwamba. «Heute erobern wir Europa und morgen die ganze Welt.»