Der preisgekrönte Pianist Seong Jin Cho und der Dirigent Santtu-Matias Rouvali interpretieren Werke von Prokofjew und Tschaikowsky, die nichts von ihrer radikalen Wirkung verloren haben. Sogar die Zuhörer tappen in die Falle.
Das Publikum war empört. «Zum Teufel mit dieser Futuristenmusik!», soll im Saal geschrien worden sein. Und: «Wir wollen Musik hören, die schön ist! So etwas können uns zu Hause die Katzen vormachen!» Derart drastische Reaktionen überliefert die «Petersburger Zeitung» aus dem Jahr 1913. Stein des Anstosses war die Uraufführung des 2. Klavierkonzerts von Sergei Prokofjew mit dem erst 22 Jahre alten Komponisten am Klavier. Und selbst wenn der Wortlaut der Zwischenrufe erfunden sein sollte: Damals ging es in Pawlowsk bei St. Petersburg offenkundig zur Sache. Traditionalisten und Fortschrittsgläubige prallten unversöhnlich aufeinander, und ein wachsender Strom von Zuhörern soll während der Aufführung sogar aus dem Saal geflohen sein.
Heute staunt man über die Vehemenz, mit der seinerzeit – ganz anders als heute – über die neuesten Entwicklungen der zeitgenössischen Musik gestritten wurde. Denn uneingeschränkt auf der Höhe der Zeit, ja geradezu brachial fortschrittlich, das war dieses 2. Klavierkonzert damals. Keine vier Monate zuvor hatte die Musikwelt gerade erst den Skandal von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» überstanden; da legte Prokofjew, das noch nicht zum Neoklassizisten geläuterte Enfant terrible der russischen Avantgarde, mit einem ähnlich radikalen Stück nach. Das Ungewöhnliche ist: Man spürt diese Radikalität noch heute. Auch bei der jüngsten Wiedergabe in der Tonhalle Zürich war dies so – nur der Exodus des Publikums blieb aus.
Unbekümmert und souverän
Dass ein Stück derart seine Sprengkraft bewahren kann, auch noch nach über einem Jahrhundert, ist nicht die Regel – zumeist werden selbst Skandalstücke wie Strawinskys «Sacre» irgendwann wohlwollend in den Konzertbetrieb eingemeindet. Und je mehr der zeitliche Abstand wächst, desto intensiverer Vermittlung bedarf es, um heutigen Hörern das einstige Skandalon überhaupt begreiflich zu machen. Nicht so bei der Interpretation des Pianisten Seong Jin Cho.
Der Südkoreaner ist eine Ausnahmebegabung, schon mit siebzehn errang er 2011 den 3. Preis beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau, 2015 gewann er den Warschauer Chopin-Wettbewerb. In Zürich lässt der inzwischen 30-Jährige Prokofjews wilde Töne in einer unnachahmlichen Mischung aus jugendlicher Unbekümmertheit und pianistischer Souveränität auf die Hörer los. Seong Jin Cho glättet nichts, er demonstriert vielmehr ungeschönt, wie Prokofjew das Klavier immer wieder als Schlaginstrument, als eine Art grosse Rhythmus-Maschine, einsetzt. Tonschönheit ist dabei Nebensache, Seong Jin Cho gelingt jedoch das Kunststück, dass das Ganze nicht einmal in der ausufernden Solokadenz des ersten Satzes zu besinnungslosem Gehämmer wird.
«Schöne Musik» ist dies dennoch nicht, allenfalls in den wenigen verhaltenen Momenten, in denen bereits Ahnungen von «Romeo und Julia» oder der «Symphonie classique» hörbar werden. Doch der motorische Drive packt unmittelbar und reisst das Publikum, anders als vor 112 Jahren, schliesslich zu einhelligem Jubel von den Sitzen. Dafür bedankt sich Seong Jin Cho mit einer Zugabe, dem mittleren Satz aus der «Sonatine» von Maurice Ravel: subtil stilisierte Musik, die das genaue Gegenteil der Exzesse Prokofjews verlangt, nämlich Verinnerlichung und höchste Nuancierung im Anschlag. Ein gelungenes Kontrastprogramm.
In die Falle gelockt
Am Pult des Tonhalle-Orchesters debütiert an diesem Abend der Finne Santtu-Matias Rouvali – auch er ein mit 39 Jahren noch junger Künstler, der als Hoffnungsträger der jüngeren Dirigentengeneration gehandelt wird. Zu Recht, wie er bei Tschaikowskys «Pathétique» nach der Pause zeigt. Bei ihm ist diese berühmte letzte Sinfonie des Russen ebenfalls keine «schöne», aber eine schonungslos wahrhaftige Musik. In jedem Takt macht Rouvali das Drama hinter diesem autobiografischen Bekenntniswerk hörbar, dessen Geheimnis der Komponist neun Tage nach der Uraufführung mit ins Grab genommen hat. Die existenzielle Dimension des Stücks wird im permanenten Wechsel zwischen Euphorie und tiefster Verzweiflung fast bedrängend greifbar.
Und mehr noch: Rouvali lockt die Zuhörer mit der Intensität seiner Interpretation in die berühmteste Falle der Musikgeschichte. Nach dem auf die Spitze getriebenen Triumphmarsch des dritten Satzes will, nein muss man hier einfach applaudieren. Mitten hinein in den Beifall setzt Rouvali indes die ersten Töne des finalen Klagegesangs und entlarvt den Triumph auf diese Weise als verfrüht. Auch dieser Coup des Komponisten funktioniert nach 132 Jahren immer noch. Umso länger währt in Zürich nach dem finsteren Ausklang ein ergriffenes Schweigen.