Vor sechzig Jahren zündete China in der Taklamakan-Wüste seine erste Atombombe. Zentraler Umschlagplatz für den Atomschmuggel war die Schweiz, die Händler stammten vorwiegend aus Deutschland.
Am 16. Oktober 1964 um 15 Uhr Lokalzeit stieg China zur Atommacht auf. Auf dem Testgelände Lop Nor in der nordwestlichen Provinz Xinjiang hatten chinesische Atomphysiker ihre erste Atombombe gezündet, die sie liebevoll «Fräulein Qiu» nannten.
In der unwirtlichen Taklamakan-Wüste bildete sich ein Atompilz, der mehrere Kilometer in den wolkenlosen Himmel stieg. Wie von den lokalen Meteorologen vorausberechnet, zog die Atomwolke an Peking vorbei und verschob sich in den folgenden Tagen in Richtung der USA – des Erzfeindes Chinas.
Die Explosion hatte die Stärke von rund 20 Kilotonnen konventionellen Sprengstoffs, was etwa jenen Atombomben entsprach, welche die Amerikaner am Ende des Zweiten Weltkriegs über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Mehr als 200 000 Menschen verloren damals im Inferno ihr Leben.
Mit eigenen Mitteln wäre es China kaum gelungen, eine eigene Atombombe zu entwickeln. Es war in erster Linie die Schweiz, die dem kommunistischen Agrarstaat zumindest indirekt dazu verhalf: Die chinesische Botschaft in Bern machte die Schweiz ab Mitte der fünfziger Jahre zur zentralen Drehscheibe für ihren Atomschmuggel.
Die Chinesen bauten in der Schweiz ein Netzwerk von dubiosen Händlern auf, vielfach aus Deutschland, die ihre Waren auf verschlungenen Wegen nach Peking lieferten: Grundsubstanzen wie Uran, schweres Wasser oder Kobalt ebenso wie eine lange Reihe von technischen Komponenten. Zwar gab es noch kein eigentliches Proliferationsverbot, doch sämtliche Güter, die zur Herstellung nuklearer Waffen dienten, unterlagen in den westlichen Ländern einem strengen Embargo. Über die Schweiz konnten die Sanktionen umgangen werden.
Peking hatte seine nukleare Aufrüstung im Laufe des Koreakriegs gestartet. Damals, Anfang der fünfziger Jahre, standen sich plötzlich chinesische und amerikanische Truppen direkt gegenüber – am Grenzfluss Yalu, der den Norden Koreas von China trennt. Der amerikanische General Douglas MacArthur hatte die Idee, gegen die zahlenmässig übermächtigen chinesischen Soldaten die Atombombe einzusetzen.
Von da an fühlte sich China in seiner Existenz bedroht. In der offiziellen Stellungnahme nach dem ersten Atombombentest wird denn auch herausgestrichen, die Volksrepublik China habe «Widerstand geleistet gegen die amerikanische imperialistische Politik der Bedrohung und Erpressung durch Atomwaffen». Gleichzeitig versprach Peking, die Atomwaffen einzig im Falle eines nuklearen Angriffs einzusetzen, also nicht als erste Partei.
Das alles erfolgte in Zeiten tiefgreifender politischer Verwerfungen in China. Der «grosse Sprung nach vorne», mit dem der Parteichef Mao Zedong die Industrialisierung hatte forcieren wollen, war kläglich gescheitert. Stattdessen führte die geplante Modernisierung des archaischen Agrarstaats aus mannigfaltigen Gründen zu einer Hungerkatastrophe mit Millionen von Toten.
Zudem war es 1960 zum Bruch zwischen den beiden kommunistischen Bruderstaaten China und Sowjetunion gekommen. Mao Zedong hatte sich mit Moskau wegen unterschiedlicher Auslegungen des Marxismus derart zerstritten, dass die zwei Giganten getrennte Wege gingen. Als Folge davon stoppte Moskau die Unterstützung für die Entwicklung der chinesischen Nuklearwaffe.
Ausgerechnet in der Schweiz konnte Peking die Lücken in der Lieferkette stopfen. Die chinesische Botschaft, die in einer stattlichen Villa im Kirchenfeldquartier in Bern residierte, machte das Gastland zum zentralen Hub für den Atomschmuggel. Der unterdotierte Schweizer Nachrichtendienst fand kein Mittel, um die mannigfaltigen Aktivitäten der Chinesen zu unterbinden. Oft waren es kriminelle Embargobrecher aus Deutschland, Liechtenstein oder Österreich, die sich ihnen andienten.
Schlupfloch Schweiz
Als Nichtmitglied der Nato und als neutrales Land fühlte sich die Schweiz nicht an das strenge Embargo der führenden westlichen Staaten gebunden. Ihre eigene Embargoliste war weniger umfassend, vor allem bei Dual-Use-Gütern – technischen Komponenten, die sowohl für einen zivilen als auch für einen militärischen Zweck genutzt werden können – drückte man ab und an beide Augen zu.
Der Schweizer Nachrichtendienst bestand aus der Bundespolizei, die damals bloss eine Abteilung der Bundesanwaltschaft war. Sie war definitiv nicht für den Kalten Krieg gerüstet, als Bern und Genf zum Tummelplatz für Spione aus Ost und West wurden. Der Bundespolizeichef André Amstein verfügte über nicht mehr als ein Dutzend Mitarbeiter.
Zwar wurde die Bundespolizei von befreundeten Partnerdiensten aus dem Ausland laufend über Akteure und geplante Lieferungen nach China informiert, allen voran vom MI6 in London und von der CIA in Langley. Aber mangels Personal mussten fast alle Abklärungen an die kantonalen oder städtischen Polizeikorps delegiert werden. In der Spionageabwehr führte das zu vielen Missverständnissen, Koordinationsproblemen und Leerläufen.
Das Schlupfloch wiederum lockte zahlreiche «Osthändler» ins Land. Es handelte sich um zwielichtige Geschäftsleute, einige von ihnen mit Vergangenheit in Nazideutschland, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf halblegalen Wegen Waffen aus dem Westen in den Ostblock verhökerten. Pekings Atomwaffenprojekt eröffnete ihnen ein neues Geschäftsfeld.
Die Bundespolizei hatte schon früh ein Auge darauf, und im September 1964 bündelte sie ihre Aktivitäten in der Operation «Eiger». Es war der Versuch, die chinesischen Diplomaten und die ausländischen Embargobrecher zu überwachen und ihre Tätigkeiten zu unterbinden.
Doch mit ihrer Gegenspionage war die Bundespolizei heillos überfordert. Das zeigt ein Blick in die zahlreichen Dossiers, die sich im Bundesarchiv zur Operation «Eiger» finden lassen. Einiges ist inzwischen online abrufbar, anderes vor Ort eingesehen werden. Anfang Jahr wurde der NZZ Einsicht gewährt in alle gewünschten Dossiers.
Wer sich durch die Stapel von Akten liest, stösst neben viel Belanglosem wiederholt auf kuriose Anekdoten – etwa dass es den Beamten fast unmöglich war, die zahlreichen Angestellten der chinesischen Botschaft in Bern voneinander zu unterscheiden – «da sie sich alle sehr ähnlich sehen», wie es in einem Polizeirapport heisst.
Daneben finden sich zuhauf handfeste Hinweise darauf, wie die Schweiz zum Umschlagplatz wurde für den Handel mit Substanzen und Gütern, die dem westlichen Embargo unterstanden.
Im Übrigen war es nicht das einzige Mal, dass die Schweiz einem «Drittweltland» – als das China damals angesehen wurde – zur nuklearen Aufrüstung verhalf.
Die «islamische» Atombombe
Eine zentrale Rolle spielte die Schweiz einige Jahre später auch im Fall von Pakistan – einem Land, das damals kaum fähig war, eine Nähnadel herzustellen, wie es oftmals heisst. Ab Ende der 1970er Jahre lieferte die Familie Tinner aus dem St. Galler Rheintal – der Vater und seine zwei Söhne – ausgetüftelte Uran-Zentrifugen nach Islamabad. Damit trugen sie wesentlich dazu bei, dass Pakistan 1998 die erste «islamische» Atombombe zünden konnte.
Der Fall «Tinner» schlug in den Medien – und auch bei den Justizbehörden – hohe Wellen. Dass die Schweiz bereits zuvor entscheidend dazu beigetragen hatte, China zur Atommacht zu machen, blieb hingegen lange verborgen. Erst die Habilitation der Historikerin Ariane Knüsel schaffte diesbezüglich Aufklärung (siehe Fussnote).
Der Bundesrat wiegelt ab
Die Geburtsstunde «Rotchinas», wie die Volksrepublik damals genannt wurde, war am 1. Oktober 1949: Nach einem Bürgerkrieg rief Mao Zedong in Peking die Staatsgründung aus. Bei der heiklen Frage, ob die Schweiz mit dem kommunistischen Riesen diplomatische Beziehungen aufnehmen sollte, wiegelte das Politische Departement, das für die Aussenpolitik zuständig war, zunächst ab.
Der Departementsvorsteher, Bundesrat Max Petitpierre, hielt in einer Aktennotiz fest, die Schweiz solle weder zu den Ersten noch zu den Letzten gehören. Er schlug deshalb vor, abzuwarten, bis «zwanzig oder dreissig Länder Rotchina anerkennen». Dieses stand in Konkurrenz zu «Nationalchina» auf der Insel Formosa (heute Taiwan), wohin die unterlegene Bürgerkriegspartei geflüchtet war.
Im September 1950 war es dann so weit, die Schweiz nahm diplomatische Beziehungen mit Peking auf. Bis die für den Sitz der Botschaft vorgesehene Villa am Kalcheggweg 10 bezugsbereit war, quartierte sich die chinesische Gesandtschaft vorübergehend im Hotel Bellevue Palace ein, dem Fünfsternehaus gleich neben dem Bundeshaus.
In der Gesandtschaft herrschte schon bald ein reges Kommen und Gehen. Von frühmorgens bis spätabends würden Konferenzen abgehalten, meldete der Chef des Militärnachrichtendiensts in einem Rapport an die Bundespolizei.
Für seinen Bericht hatte er offenbar einen Hotelangestellten als Informanten gewinnen können. Doch die chinesischen Gesandten seien äusserst misstrauisch und darauf gedrillt, die Hotelangestellten abzulenken, hielt er in seinem Bericht fest. «Um all die Besucher herrscht ein grosses Geheimnis.»
Weder die Bundespolizei noch der Militärnachrichtendienst konnten das Geheimnis lüften – sie bekamen bloss einzelne Informationshäppchen mit.
Eigene Teeblätter
So berichtete der Gewährsmann, die Hotelrechnung habe der chinesischen Gesandtschaft einen gehörigen Schrecken eingejagt – sie belief sich auf über 20 000 Franken. Von da an hätten die Botschaftsangestellten dem Hotelpersonal ihre eigenen Teeblätter mitgegeben und nur noch heisses Wasser bestellt.
Zu den vielen Gästen, die in der chinesischen Botschaft ein und aus gingen, gehörte schon bald der Hamburger Handelskaufmann Friedrich Fuhrmeister. Er war einer von zahlreichen Embargobrechern aus Deutschland, die versuchten, mit Peking ins Geschäft zu kommen.
Aufgewachsen war Fuhrmeister in Schanghai, wo sein Vater bereits 1902 eine Handelsfirma gegründet hatte. Nach der Machtübernahme Mao Zedongs wurde die Familie 1950 enteignet. Von Hamburg aus führte Friedrich Fuhrmeister, der fliessend Chinesisch und Deutsch sprach, das Unternehmen seines Vaters weiter. Er galt als Schöngeist, der sich gerne den Lehren Rudolf Steiners und dem Geigenspiel widmete.
Mithilfe eines versierten Geschäftsführers vermittelte Fuhrmeister der chinesischen Botschaft in Bern Firmen aus Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz – gegen gutes Geld.
Die Highspeed-Kamera aus England
Das Netzwerk lief in Bern zusammen. Es lieferte all jene Komponenten, auf die Peking verzichten musste: wegen des Bruchs mit der Sowjetunion und wegen des westlichen Embargos.
Dringend gesucht war zum Beispiel eine damals revolutionäre Highspeed-Fotokamera der britischen Firma Barr & Stroud. Mit dieser Spezialkamera des Typs CP 5 – 150 Kilogramm schwer und mehr als einen Meter hoch – konnten mehrere tausend Bilder pro Sekunde aufgenommen werden. Das ermöglichte es, die Explosionsdynamik und die folgende Kettenreaktion eines Atomwaffentests präzise zu analysieren – für die Weiterentwicklung des nuklearen Waffenarsenals war das äusserst hilfreich.
Vom britischen Auslandnachrichtendienst kam die Meldung, eine solche Fotokamera werde an einer Messe des Photographischen Instituts der ETH Zürich im Kongresshaus ausgestellt, gleich neben dem Zürichsee. Es bestehe die Gefahr, meldete der MI6 nach Bern, als Besucher getarnte chinesische Spione könnten versuchen, das Ausstellungsexemplar zu entwenden.
Tatsächlich hatte eine kleine Delegation aus China für die Zeit der Messe, Mitte September 1965, Visa beantragt. Mangels eigenen Personals leitete die Bundespolizei die Warnung aus London an die Kantonspolizei Zürich weiter. Als diese im Kongresshaus vorbeischaute, hiess es, in selbiger Angelegenheit habe sich bereits die Stadtpolizei Zürich gemeldet. Man habe ihr zwei Eintrittskarten ausgehändigt, damit sie jederzeit Zutritt zur Messe habe.
Zurück im Büro, machte sich der Kantonspolizist telefonisch beim Kollegen der Stadtpolizei kundig, woher er den Auftrag erhalten habe, die Fotomesse zu observieren.
Einen Auftrag brauche er dafür nicht, entgegnete ihm der zuständige Wachtmeister der Stadtpolizei Zürich gemäss Aktennotiz. Einer seiner Mitarbeiter habe im Jodelchörli von der Brisanz der Fotomesse erfahren. Sie wüssten deshalb schon, was zu tun sei.
Die Angeberei sollte sich als Bluff herausstellen, kennzeichnend für die Rivalität der zwei Zürcher Polizeikorps.
Denn offenbar hatte die Stadtpolizei Zürich nicht im Jodelchörli vom möglichen Diebstahl erfahren, sondern vom englischen Generalkonsulat. Auf die Idee, dass es in Zürich zwei Polizeikorps geben könnte, war man in den englischen Geheimdienstkreisen offenbar nicht gekommen.
Schliesslich meldete die Kantonspolizei Zürich nach London, man müsse sich keine Sorgen machen: Die Fotomesse werde rund um die Uhr von der Securitas bewacht.
Wem auch immer das Verdienst zukommt – die in Zürich ausgestellte Highspeed-Kamera blieb von chinesischen Spionen unbehelligt. Doch Peking liess nicht locker.
Wenige Wochen später beschlagnahmte die dänische Polizei im Freihafen Kopenhagen zwei Exemplare der Spezialkamera. Abklärungen ergaben, dass die CP-5-Modelle von Barr & Stroud über einen in Genf lebenden Schwiegersohn von Friedrich Fuhrmeister über weitere Umwege nach China hätten transportiert werden sollen.
Erfahrung in der Hitlerjugend
Neben Fuhrmeister taucht in den Akten zur Geheimoperation «Eiger» ein zweiter Name wiederholt auf: Menander Volchok.
Als Sohn eines russischen Musikprofessors und einer deutschen Mutter kam Volchok 1920 in Japan zur Welt. Später zog die Familie in ein ehemaliges deutsches Überseegebiet an der Ostküste Chinas, dem heutigen Qingdao (damals Tsingtau). Wie aus einem Bericht der Bundespolizei hervorgeht, engagierte sich Menander Volchok dort als stellvertretender Führer der örtlichen Hitlerjugend.
Nach dem Krieg übersiedelte er in die DDR, wo er seine Sprachkenntnisse nutzte, um sich der chinesischen Botschaft anzudienen. In einem Polizeirapport heisst es, Volchok sei den Chinesen geradezu hörig. Als sie ihre europäische Handelsabteilung Ende der fünfziger Jahre von Ostberlin in die Schweiz verlegten, zog auch er nach Bern. Nach Einschätzung der Historikerin Knüsel war Volchoks Hauptantrieb nicht in erster Linie finanzieller Natur. Vielmehr habe er aus Verbundenheit mit dem Land gehandelt, in dem er aufgewachsen sei.
In der Botschaft am Kalcheggweg nahm er jeweils den letzten Stand der Bestellliste für das chinesische Atomprogramm entgegen und suchte nach Firmen, welche die technologischen Nischenprodukte liefern konnten: Massenspektrometer, Magnetfeldröhren, elektronische Lenkwaffensteuergeräte, Mikrowellen-Relais, Infrarot-Fotozellen und vieles mehr – alles unabdingbare Bestandteile für den Bau einer Atombombe, die deshalb auf der westlichen Embargoliste standen.
In ihrem Bericht zur Operation «Eiger» nennt die Bundespolizei diverse Schweizer Unternehmen, die für entsprechende Lieferungen infrage kommen: Rüstungsfirmen wie Hispano-Suiza in Genf oder Oerlikon-Bührle, aber auch unverdächtige Industrieunternehmen wie die BBC in Baden, Escher Wyss in Zürich, Sulzer in Winterthur, Wild Heerbrugg oder Landis & Gyr in Zug.
In den USA wurde Menander Volchok mit einer ganz grossen Nummer in Verbindung gebracht. Das Handelsdepartement in Washington verdächtigte ihn, 1960 im Auftrag einer Genfer Handelsfirma den Transport von 300 Tonnen einer Kobaltlegierung nach China organisiert zu haben.
Die Ausfuhr von Kobalt nach China war strengstens verboten. In jener Zeit ging das Schreckgespenst der Kobaltbombe um, die auch «Weltuntergangsbombe» genannt wurde. Deren radioaktiver Fallout hat eine sehr lange Halbwertszeit und würde weite Gebiete über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte unbewohnbar machen.
Solche Warnungen aus dem Ausland brachten den schweizerischen Geheimdienst jeweils an den Anschlag. Das zeigt sich an einem weiteren Beispiel der Nachrichtenabteilung der Kantonspolizei Zürich. Als diese den Auftrag hatte, drei einreisende Rotchinesen zu überwachen, scheiterte sie kläglich.
Zwar trafen die drei mutmasslichen Spione, von London kommend, plangemäss am Flughafen Zürich ein. «Doch eine weitere Überwachung gelang nicht», mussten die Zürcher Schlapphüte nach Bern melden – weil die zwei chinesischen Botschaftsangestellten, die ihre Kollegen abholten, «ihren PW auf einem abseits gelegenen Parkplatz stationiert hatten».
Das verunmöglichte der Zürcher Spionageabwehr offenbar die weitere Observierung der Zielpersonen. Drei Wochen später geriet dieselbe rotchinesische Delegation ins Visier des Nachrichtendiensts der Stadtpolizei Bern.
Überwachung nach Berner Art
In seinem Rapport hält der zuständige Wachtmeister fest, die Delegation, die der Spionage verdächtigt werde, sei in Begleitung des bekannten Menander Volchok. Am Bahnhof Bern habe er «die Wegfahrt der Delegation überwacht und fotografiert», ein entsprechendes Lichtbild liege dem Rapport bei. Doch mit dem Verlassen der Stadt endete die Zuständigkeit des Berner Wachtmeisters.
Neben dem Transport von Kobalt stand Volchok auch unter Verdacht, sogenanntes schweres Wasser nach China geschafft zu haben. Schweres Wasser ist ein wichtiges, aber nur schwer erhältliches Bindemittel beim Anreicherungsprozess für Atomwaffen: Natürliches Uran besteht nur etwa zu 0,7 Prozent aus dem spaltbaren Isotop Uran-235. Der Rest besteht überwiegend aus dem nicht spaltbaren Isotop Uran-238.
Die «Kunst» der Herstellung einer Atombombe besteht im Wesentlichen darin, den Anteil von spaltbarem Uran-235 von 0,7 auf mindestens 90 Prozent zu erhöhen. Das geschieht zumeist in riesigen Zentrifugen. Dieser Prozess wird mit schwerem Wasser unterstützt.
Obwohl bei der Herstellung von schwerem Wasser bloss ein zusätzliches Wasserstoffatom beigegeben wird, benötigt der Prozess enorme Mengen an Elektrizität. Nicht zufällig stand eine der wenigen Anlagen, in denen in jenen Jahren schweres Wasser hergestellt werden konnte, im norwegischen Vemork, dem grössten Wasserkraftwerk der Welt.
Vemork erlangte Berühmtheit, als es im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt wurde, um an schweres Wasser für das Atombombenprogramm der Nazis zu gelangen. Der norwegische Widerstand und alliierte Truppen versuchten das mit Sabotage zu verhindern.
Nach dem Krieg stand die Ausfuhr von schwerem Wasser in Norwegen unter strengster Kontrolle. Von der Schweiz aus operierte eine Gruppe von bestorganisierten Embargobrechern, um die strikte Ausfuhrbeschränkung zu umgehen. So steht es in einem geheimen Rapport der Bundespolizei mit dem Betreff «Verkauf schweren Wassers an die chinesische Volksrepublik».
Grösstenteils Deutsche
Diese Kreise stünden in enger Verbindung mit der rotchinesischen Botschaft in Bern, heisst es im Polizeibericht. Die wichtigsten daran beteiligten Personen seien aber nicht Chinesen, sondern grösstenteils Deutsche. Namentlich genannt werden von der Bundespolizei unter anderem Menander Volchok, Friedrich Fuhrmeister und dessen Geschäftsführer.
Ein weiterer Embargobrecher aus Deutschland war damit beauftragt, Proben von schwerem Wasser an der Technischen Hochschule in Lausanne analysieren zu lassen. Für diese Qualitätskontrolle hatte die chinesische Botschaft eine Übereinkunft mit einem Professor der EPFL abgeschlossen.
Nach Erkenntnissen der Bundespolizei wurden im April 1965 über die Schweiz 20 Tonnen schweres Wasser nach Rotchina geschmuggelt. Der Schwarzmarktpreis für eine Tonne wird im Bericht auf rund 50 000 britische Pfund geschätzt. Gemäss damaligem Wechselkurs entsprach das über 500 000 Franken. Somit hatte allein dieser eine Transport, der von Hamburg aus über die chinesische Botschaft in Bern abgewickelt wurde, einen Gegenwert von über 11 Millionen Franken.
Chinas Bedarf an schwerem Wasser lag aber nicht bei 20, sondern bei 200 Tonnen. Wie die restliche Menge ins Land gelangte, ist weitgehend unbekannt. Das ist typisch für die Akten im Bundesarchiv: Vielfach poppt ein Thema auf, ohne dass es weiterverfolgt wird.
Herauslesen lässt sich aber, dass die Schweiz auch als Drehscheibe für den Uranhandel diente.
2,5 Kilogramm Uran im Banksafe
So warnte das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden im Frühling 1965 die Schweizer Behörden davor, die chinesische Botschaft in Bern plane den Erwerb von 20 Kilogramm Uran-235. Das hochradioaktive Material stamme aus einer Minengesellschaft in der Nähe von Brüssel, ein dort arbeitender Ingenieur sei von den Chinesen in einer Bar mit 20 000 Dollar bestochen worden.
Der Plan der Embargobrecher sah vor, die 20 Kilogramm Uran im doppelten Kotflügel eines Opel Kapitän von Brüssel über die Bundesrepublik nach Bern in die chinesische Botschaft zu schmuggeln. Auch in diesem Fall ist nicht bekannt, ob die Warnung des BKA zum Stopp der Lieferung geführt hat – aufgrund einer fehlenden Erfolgsmeldung wohl eher nicht.
Im selben Rapport meldet das BKA aber einen weiteren haarsträubenden Befund: Ein Embargobrecher aus Österreich habe 2,5 Kilogramm Uran in einem Banktresor in Wien deponiert, einzig verpackt in einem Bleibehälter. Das Uran habe er der chinesischen Botschaft in Bern angeboten, für 80 000 D-Mark pro Kilogramm. Die Chinesen seien an einer weit grösseren Menge interessiert.
Nach all diesen hanebüchenen Vorgängen schreitet die Bundespolizei im Oktober 1965 erstmals zur Tat – gegen Friedrich Fuhrmeister wird ein Einreiseverbot verhängt. Als er wenig später trotzdem in die Schweiz reisen will, sagt er bei der Einvernahme, er habe nichts davon gewusst. Zusammen mit seiner Frau sei er gerade auf dem Weg in die Ferien ins Bergell – ob man das Einreiseverbot nicht für zwei Wochen aufheben könne.
Die Bundespolizei ist damit einverstanden, sie lässt Fuhrmeister und seine Frau nach Soglio fahren, wo sie ein Hotelzimmer gebucht haben.
Angesichts einer derart zahnlosen Behörde kann es nicht verwundern, dass China sein nukleares Atomwaffenprogramm noch viele Jahre fortsetzen konnte, mit stets neuen Lieferungen aus der Schweiz.
Atomare Aufrüstung
Es folgten mehr als vierzig weitere Tests, der bisher letzte datiert vom 29. Juli 1996. Seither hält sich China an das weltweite Moratorium für Atomwaffentests, obwohl es den Vertrag nicht ratifiziert hat. Das einzige Land, das sich nicht an das Moratorium hält, ist Nordkorea.
Allerdings rüstet China derzeit das Testgelände Lop Nor in der Taklamakan-Wüste wieder auf. Die Rede ist von Bauarbeiten für Anlagen, die Tests mit sogenannten taktischen Atomwaffen ermöglichen. Diese verfügen über eine geringere Sprengkraft. Das nährt die Spekulation, Peking rücke von dem Versprechen ab, sein nukleares Arsenal nur dann einzusetzen, wenn es selber atomar angegriffen werde. Taktische Atomwaffen gelten als probates Mittel für regionale Konflikte, etwa jenen um Taiwan.
Die Zahl seiner herkömmlichen Atomsprengköpfe hat China vergangenes Jahr um 100 auf 600 erhöht. Bis ins Jahr 2030 sollen es 1000 Sprengköpfe sein. Damit nähert sich das chinesische Atomwaffenarsenal sukzessive jenem Russlands und der USA, die beide über etwa 1700 einsatzfähige Sprengköpfe verfügen.
* Ariane Knüsel: «China’s European Headquarters: Switzerland and China during the Cold War», Cambridge University Press, 2022; Bundesarchiv, Dossier «Operation Eiger», E4320C#1994-78#602* und andere.