Acht Monate hat es gedauert, bis Belgien eine neue Regierung hatte – und das war schnell. Die Schweiz funktioniert anders. Nur auf den ersten Blick sind sich die beiden mehrsprachigen Länder ähnlich.
Ein Rückzug für den Durchbruch: Um die Koalitionsverhandlungen zur neuen belgischen Regierung zu finalisieren, schlossen sich die fünf beteiligten Parteipräsidenten letzte Woche in der Militärakademie von Brüssel ein. Nach nächtelangen Verhandlungen gaben sie – acht Monate nach den Wahlen – am späten Freitagabend schliesslich eine Einigung bekannt.
Die Militärakademie war allerdings nur eine Notlösung. Eigentlich hätten sich die Politiker im Schloss von Val Duchesse treffen sollen –einem denkmalgeschützten Herrschaftssitz, wo schon frühere Regierungen «entstanden» sind. Doch dort funktionierte die Heizung nicht.
Die Panne ist ein gefundenes Fressen für Spötter. Sie erkennen darin einen unfreiwilligen Beweis für den Zustand des belgischen Staatswesens. In der Tat gehört es gerade in Brüssel zum Volkssport, sich über die mangelhafte Infrastruktur zu echauffieren – wobei geflissentlich vergessengeht, dass diese in anderen europäischen Grossstädten nicht besser ist.
Besonders beliebt ist dabei der Vergleich mit der Schweiz. Tenor: Die beiden Länder sind sich ja eigentlich so ähnlich – und sie holen doch nicht das Gleiche aus ihrem Potenzial. Aber stimmt das auch?
Welche Schoggi ist besser?
In der Tat sind die Parallelen auf den ersten Blick frappant. Belgien hat drei offizielle Landessprachen, die Schweiz gar deren vier. In beiden Ländern wird die «kleinste» Sprache – Deutsch beziehungsweise Rätoromanisch – von lediglich etwas weniger als einem Prozent der Bevölkerung gesprochen wird.
Auch die Gesamtbevölkerung ist vergleichbar: 9 Millionen in der Schweiz, 11 Millionen in Belgien. Selbst die Fläche stimmt überein: Mit 41 000 Quadratkilometern ist die Schweiz zwar grösser, nutzbar sind davon aber nur rund 31 000. Das entspricht exakt der Fläche Belgiens, wo der produktiven Verwendung des Bodens keine Gletscher, Berge oder grosse Seen im Wege stehen.
Im politischen Kontext springen die Analogien ebenfalls ins Auge: Anders als der gemeinsame Nachbar Frankreich sind die «Zwillinge» föderal organisiert, mit jeweils grosser Autonomie der belgischen Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel beziehungsweise der Schweizer Kantone. Auch die Gemeinden verfügen über weitreichende Kompetenzen.
Wer will, kann zu den Länder-Parallelen auch die Liebe zur Schokolade – selbstverständlich behaupten beide, die bessere herzustellen – oder die für französische Ohren ungewöhnliche Zählweise («septante», «nonante») herbeiziehen. Selbst die weltberühmte belgische Comic-Welt wurde von der Schweiz beeinflusst: Der Basler Star-Physiker Auguste Piccard diente dem Zeichner Hergé dank unverkennbarer Frisur als Vorlage für dessen «Professor Bienlein».
Unterdrückte Flamen
So weit der erste Blick. Schaut man genauer hin, ändert sich das Bild – und wird diffuser. Alles beginnt mit der Geschichte: Nachdem die Niederlande aus konfessionellen und sprachlichen Gründen Belgien 1831 in die Unabhängigkeit entlassen hatten, entstand ein zentralisierter Staat nach französischem Vorbild mit einem König als Oberhaupt. Leopold II., der die Kolonie Kongo als Privatbesitz hielt, war für Greueltaten unvorstellbaren Ausmasses verantwortlich.
Die belgischen Kolonien sind längst passé, der König aber blieb – und die vergangenen Monate haben gezeigt, dass er weiterhin politische Bedeutung hat. Er war es, der den Wahlsieger mit der Regierungsbildung beauftragte, das Koalitionsprogramm entgegennahm und die Minister bestätigte. Die Schweiz hingegen kennt höchstens «King Federer». Schon gar nicht hat sie sich je in koloniale Gefilde begeben.
An Föderalismus war im frühen Belgien nicht zu denken. Der französischsprachige, dank Kohlevorkommen und früher Industrialisierung wohlhabende Süden dominierte den Verwaltungsapparat vollständig – obwohl schon damals eine knappe Bevölkerungsmehrheit Niederländisch (beziehungsweise flämische Dialekte) sprach.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde deren Sprache anerkannt. Noch viel später, 1967, wurde die belgische Verfassung ins Niederländische übersetzt. In der Schweiz waren die drei Hauptsprachen seit der Gründung des Bundesstaates 1848 gleichgestellt (Rätoromanisch folgte später), die Kantone hatten von Anfang an beträchtliche Autonomierechte.
Vierfache Hauptstadt Brüssel
Diese einstige Dominanz der Frankofonen zeitigt in Belgien ihre Auswirkungen bis heute. Dass Brüssel, das geografisch im flämischen Landesteil liegt, grösstenteils französischsprachig ist, geht auf diese Zeit der Verwaltungsausdehnung zurück. Auch die separatistischen Bestrebungen im längst wohlhabenderen Norden des Landes haben ihren Ursprung, neben sprachlichen, finanziellen und kulturellen Komponenten, in den Demütigungen der Vergangenheit.
«Ihr» einstiges Brüssel wollen die Flamen trotz mittlerweile erdrückenden Mehrheitsverhältnissen nicht aufgeben. Die Stadt ist die Hauptstadt der EU, Belgiens, der Region Brüssel – und der Region Flandern. «Im Alltag ergeben sich manchmal bizarre Situationen: Wenn flämische Separatisten nach der Parlamentssitzung zusammen ein Bier trinken wollen, können sie dieses kaum in ihrer Sprache bestellen», sagt die schweizerisch-belgische Politikwissenschafterin Caroline Sägesser.
Eine Autobahn als «Kompensation»
Die Flamen mussten sich den Föderalismus also erkämpfen – und tun es weiterhin. Während sich die Schweizer Kantone regelmässig darüber beklagen, dass sich der Bundesstaat immer mehr ausdehne, geht die Entwicklung Belgiens in die andere Richtung: Die Kompetenzen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr von der nationalen auf die regionale Ebene verschoben. Auch das soeben verabschiedete neue Regierungsprogramm zeugt von dieser Tendenz.
Das gründet auch darin, dass der belgische Föderalismus – anders als derjenige der Schweiz – nicht historisch gewachsen ist. Noch immer sind in Belgien deutlich mehr Befugnisse national geregelt als in einem «echt» dezentral organisierten Staat: Es gibt eine nationale Polizei, die Justiz wird von der Zentralregierung geregelt, und die Steuern bezahlt man an den Bundesstaat. All diese Aspekte wären in der Schweiz undenkbar.
Das Geld, das der belgische Staat einnimmt, verteilt er danach teilweise an die Regionen. Während Jahrzehnten tat er dies nicht gemäss den Bedürfnissen, sondern mithilfe eines Verteilschlüssels, der gar einen eigenen Namen hat: Man nennt das die «Politik des Waffeleisens», weil die Masse gleichmässig auf alle Hohlräume verteilt werden muss. So wurden etwa im Süden Belgiens Autobahnen als «Kompensation» für den Ausbau der Seehäfen von Antwerpen und Zeebrügge gebaut. «Diese Politik war gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein wesentlicher Grund für die schnell zunehmende Verschuldung Belgiens», sagt Sägesser. Mittlerweile sei man davon abgerückt.
Wackliger Zusammenhalt
In der Schweiz ist der Kitt zwischen den Sprachregionen ein wiederkehrendes Thema, der Röstigraben existiert nicht nur an Abstimmungssonntagen. Im Vergleich zu Belgien, wo sich die Regionen gegenseitig misstrauen, sind die Differenzen aber überschaubar. Ein Beispiel: Mit Ausnahme der wenig bedeutsamen PdA gibt es in Belgien keine einzige nationale Partei.
Dazu passt, dass man kaum Belgier findet, die auf ihr Land stolz sind. Die regionale Verbundenheit dominiert klar. Auch in der Schweiz findet die kulturelle Identifikation zuerst über die nähere Umgebung statt. Und doch gibt es so etwas wie einen nationalen Zusammenhalt – nicht zuletzt, weil die verschiedenen Sprach- und Kulturregionen in den letzten 175 Jahren einigermassen pfleglich miteinander umgegangen sind.