Ein Forschungsteam legt neue Erkenntnisse zur Trinkwasserversorgung vor. Die Lage sei schlechter als bisher angenommen.
Weltweit haben 4,4 Milliarden Menschen keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des eidgenössischen Wasserforschungsinstituts Eawag, die in der renommierten Fachzeitschrift «Science» erschien. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.
Das Ergebnis ist bemerkenswert. Denn die Zahl ist doppelt so hoch wie eine bisherige Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef). WHO und Unicef sind für die Überwachung des Trinkwassers zuständig. In einem Bericht von 2023 schrieben die Organisationen, weltweit fehle 2,2 Milliarden Menschen ein sicherer Zugang zu Trinkwasser.
Vier Kriterien für eine sichere Versorgung
Das Forschungsteam hat für die Studie zum Teil dieselben Daten verwendet wie WHO und Unicef. Zwischen 2016 und 2020 hat Unicef in 27 Ländern mit tiefem und mittlerem Einkommen Daten zur Trinkwasserversorgung erhoben. Dafür wurden über 60 000 Haushalte befragt, darunter in Kosovo, Nigeria, Laos und in der Mongolei. Die Erstautorin der Eawag-Studie, Esther Greenwood, sagt: «Wir haben aber anders gerechnet.» Das erkläre die grossen Abweichungen der Ergebnisse.
Will man die Trinkwasserversorgung in einem Land ermitteln, berücksichtigt man üblicherweise vier Kriterien: die Zapfstelle, die Verfügbarkeit, die Zugänglichkeit und die Wasserqualität.
Bei der Zapfstelle stellt sich die Frage, welchen Zugang ein Haushalt zum Trinkwasser hat – Hahn oder Brunnen. Die Verfügbarkeit ist laut Greenwood ein subjektives Kriterium. Welche Umstände jemand als Wasserknappheit einstufe, könne von Land zu Land und von Einkommensklasse zu Einkommensklasse variieren. Bei der Zugänglichkeit wird einberechnet, wie lang eine Person gehen muss, um Zugang zu Trinkwasser zu haben. Als Letztes stellt sich die Frage, ob das Wasser verschmutzt ist, etwa durch Fäkalien.
Die Schätzung von WHO und Unicef bezieht sich auf diese Kriterien. Allerdings wurden nicht immer alle Kriterien berücksichtigt, was die Daten laut der Studienautorin Greenwood unvollständig macht. Und für einen Grossteil der Weltbevölkerung waren bisher gar keine Daten zur Trinkwasserversorgung vorhanden.
Forscher entwickeln neues Modell
Das Schweizer Forschungsteam hat in Zusammenarbeit mit dem «Crowther Lab» der ETH Modelle entwickelt, die die Lage der weltweiten Trinkwasserversorgung umfassender zeigen und bisher fehlende Daten schätzen können. Dafür haben sie Methoden des maschinellen Lernens, eines Teilgebiets der künstlichen Intelligenz, verwendet.
Die Karten basieren einerseits auf den Daten aus den Haushaltsbefragungen von WHO und Unicef und andererseits auf Daten aus Erdbeobachtungen. Insgesamt haben die Forscherinnen und Forscher 39 Kriterien berücksichtigt, darunter Informationen zu Klima, Geologie, Vegetation und Bevölkerungsdichte. Dieser Ansatz ist neu. Umweltfaktoren wurden bei Schätzungen zur Trinkwasserversorgung bisher nicht beachtet.
Durch den Einsatz der KI konnte das Forschungsteam von Esther Greenwood den Zugang zu sicherer Trinkwasserversorgung in 135 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen abschätzen. Für etwa die Hälfte dieser Länder gab es bisher keine Angaben zur Trinkwasserversorgung.
Die Daten zeigen, dass insbesondere die Wasserqualität in vielen Gegenden schlechter sein dürfte als bisher angenommen. In Ländern mit tiefem und mittlerem Einkommen hat laut der Eawag-Studie nur jede dritte Person Zugang zu sauberem Trinkwasser. Fast die Hälfte aller Menschen in diesen Ländern würden ausserdem Wasser trinken, das durch Fäkalien verunreinigt ist.
Die Modelle zeigen zudem, wo eine sichere Trinkwasserversorgung am häufigsten fehlt: In ländlichen Gebieten mit wenig Infrastruktur, wo die Temperaturen hoch sind und es je nach Saison stark regnet. Das ist etwa in Ländern südlich der Sahara der Fall. Dort haben laut den Schätzungen von Greenwoods Team weniger als zehn Prozent Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dasselbe gilt für einige Regionen Brasiliens. Laut Greenwood zeigen andere Studien, dass starke Regenfälle oder hohe Temperaturen zur Verunreinigung von Trinkwasser beitragen können.
Überwachung des Trinkwassers ist zentral
Das Forschungsteam des Eawag hofft, mit der Studie zu einer besseren Überwachung der Situation beitragen zu können. Esther Greenwood sagt: «Die Zahl der Menschen, die keinen Zugang dazu haben, könnte erheblich unterschätzt werden.»
Um in Zukunft möglichst vielen Menschen den Zugang zu einer sicheren Trinkwasserversorgung zu ermöglichen, müssen laut dem Eawag Wasserressourcen besser geschützt werden. An vielen Orten sei zwar durch Flüsse und Seen ausreichend Wasser vorhanden. Doch das Wasser sei massiv verschmutzt. Es müssten bessere Methoden entwickelt werden, um Wasser zu Trinkwasser aufzubereiten. Und das Wasser müsse regelmässig getestet werden.