Die Liebesverbindung von Poesie und Musik war der Angelpunkt seines einzigartigen Künstlerlebens: Dietrich Fischer-Dieskau hat die Massstäbe gesetzt, mit denen sich bis heute jeder Sänger auseinandersetzen muss.
Der Name Dietrich Fischer-Dieskau, dessen Geburtstag sich am 28. Mai zum hundertsten Mal jährt, steht für den universalsten Sänger in der Geschichte der deutschen Musik und für eine der herausragenden Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Er selber hätte freilich bei derart hymnischen Worten erschrocken abgewinkt. Denn obwohl er sich seines Rangs bewusst war, hat er sich doch immer nur als Diener der Musik gesehen. «Wir sind Arbeiter im Weinberg des Herrn und nichts weiter.» So hat er einmal in einem Interview gesagt, als er nach dem Verhältnis des Interpreten zum Komponisten gefragt wurde. Nicht mehr sei er als «Nachschöpfer».
Trotz seinem Weltrang ist Dietrich Fischer-Dieskau denn auch nie ein «Star» gewesen, der seine Stimme und Sängergestalt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit zur Geltung zu bringen suchte. Daran hinderte ihn schon seine unerbittliche Selbstkritik. Nicht ein einziges Mal in seiner langen Laufbahn sei er wirklich mit sich zufrieden gewesen, hat er dem Verfasser einmal in einem Gespräch verraten. Da er nie glücklich über sich selbst war, verschwand er auch meist sofort nach einer Aufführung. Sich bei Premierenfeiern und anderen Anlässen umjubeln, mit Komplimenten überschütten zu lassen, war seine Sache nie.
Nicht menschenscheu, aber öffentlichkeitsscheu ist er stets geblieben. Nur im kleinen Kreis vertrauter Musikfreunde vermochte er sich wirklich zu öffnen und mitteilsam zu werden. So ist er auch nie im oberflächlichen Sinne populär geworden. Die heute üblichen Selbstdarstellungsrituale medienverführter Künstler blieben ihm stets fremd. Er stammte eben aus altem musikalischem Adel, der es nicht wie der Parvenu nötig hat, sich zur Schau zu stellen.
Familiäre Bildungstradition
Er entstammte einer bildungsbürgerlichen Familie, mit etlichen Musikern in ihren Reihen. Johann Sebastian Bach widmete 1742 einem Vorfahren, dem kurfürstlich-sächsischen Kammerherrn Carl Heinrich von Dieskau, die «Bauernkantate» BWV 212. Sein Vater, der Berliner Oberstudiendirektor Geheimrat Dr. Albert Fischer-Dieskau, war der Begründer des Zehlendorfer Gymnasiums; nach ihm ist dort heute noch eine Strasse benannt.
Vom Vater hatte Fischer-Dieskau die Statur: eine didaktische Neigung, die sich nicht nur in seiner Lehrtätigkeit ausdrückte – in seinen Meisterkursen zumal und in seinen Büchern –, sondern auch in der Anlage seiner Liedprogramme und in einer anthologischen Sammeltätigkeit. In allem, was er sang, schrieb und redete, spürte man das Ethos familiärer Bildungstradition; ja etwas Deutsch-Meisterliches – bei aller kosmopolitischen Offenheit – prägte diesen universal gebildeten Künstler, der auch ein beachtlicher Maler und Porträtist gewesen ist.
Fünfunddreissig Jahre verband ihn eine Künstlerehe mit der grossen Mozart- und Verdi-Sängerin Julia Varady. Es war Puccinis Einakter «Il Tabarro» im Münchner Nationaltheater – Wolfgang Sawallisch dirigierte, von Günther Rennert stammte die eindringliche Inszenierung –, der für die beiden in diametralem Gegensatz zur tragischen Handlung zum Liebesschicksal wurde. Ihre gemeinsamen Auftritte und Aufnahmen bildeten über viele Jahre hinweg Höhepunkte, zumal des Münchener Opernlebens.
Kaum war er 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, begann Fischer-Dieskaus beispiellose Sängerkarriere. Schon im Januar 1948 sang er, noch Student bei Hermann Weissenborn, erstmals Schuberts «Winterreise» für den Rias. Im selben Jahr wurde er an die Städtische Oper Berlin engagiert, wo er bereits zwei Partien sang, mit denen sein Name aufs Engste verbunden blieb: den Marquis Posa in Verdis «Don Carlo» und den Wolfram in Wagners «Tannhäuser», mit dem er dann 1952 auch in Bayreuth debütierte. Nun ging es Schlag auf Schlag: 1949 die erste Schallplattenaufnahme mit den «Vier ernsten Gesängen» von Brahms, Gastspiele an den Staatsopern München und Wien, 1951 Mahlers «Lieder eines fahrenden Gesellen» bei den Salzburger Festspielen unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler.
In wenigen Jahren führte ihn seine Karriere in alle grossen Opernhäuser, Festspiel- und Konzertzentren der Welt, wobei Berlin und München bald die Schwerpunkte seines Wirkens waren, die beiden Städte, in denen er bis zu seinem Tod 2012 abwechselnd wohnte. München und seine Umgebung – sein idyllisches Haus in Berg am Starnberger See – wurden ihm immer mehr zur eigentlichen Heimat. Ab 1954 bildete er im Prinzregententheater als Mandryka an der Seite der Schweizerin Lisa della Casa als Arabella ein Traumpaar der Münchner Oper, und vom ersten Tag an – nämlich der Eröffnungspremiere der «Frau ohne Schatten» am 21. November 1963 – gehörte er im wiedererrichteten Nationaltheater zu den Stützen der Bayerischen Staatsoper.
Fischer-Dieskau verkörperte nach dem Krieg in den Augen der Welt wie kein anderer Musiker das bessere Deutschland. Als der Liedinterpret schlechthin des 20. Jahrhunderts, dessen Repertoire rund dreitausend Lieder von etwa hundert Komponisten umfasste, hat er mit seinen Auftritten der von den Nazis geschändeten deutschen Sprache gerade in den Ohren vieler ausländischer Hörer ihre Unschuld wiedergegeben.
Die Zahl seiner Schallplattenaufnahmen – nahezu ein halbes Tausend dürften es sein – macht ihn als Sänger zum absoluten König in der Geschichte dieses Mediums und der Tonaufzeichnung. Dass er neben der zeitverschlingenden Arbeit im Aufnahmestudio und seinen zahllosen Konzert- und Opernengagements die Musse gefunden hat, mehr als zehn Bücher zu publizieren, ist nur durch seine beispielhafte Lebensdisziplin zu erklären. Kein Sänger ist so mit höchsten Ehrungen in aller Welt, Orden und Ehrendoktoraten, bedacht worden wie er. 1980 erhielt er den Ernst-von-Siemens-Musikpreis, der gern mit dem Nobelpreis verglichen wird.
Von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm
Fischer-Dieskaus Repertoire umfasste nahezu alles, was ein lyrischer Bariton auf der Opernbühne und im Konzert singen kann, sämtliche Epochen der Musikgeschichte von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm, und das jeweils mit notorischer Stilsicherheit. Eine stattliche Reihe bedeutender Komponisten hat sich von ihm zu Werken inspirieren lassen. Unter ihnen – um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen – Benjamin Britten im Falle des «War Requiem» (1962), dessen lyrische Texte Fischer-Dieskau selber ins Deutsche übertragen hat; und Aribert Reimann mit dem «Lear» (1978). In dessen genialer Uraufführungsinszenierung durch Jean-Pierre Ponnelle stand er vier Jahre später zum letzten Mal an der Seite von Julia Varady auf der Münchner Opernbühne.
Allein eine alphabetische Liste der Komponisten, deren Werke Fischer-Dieskau uraufgeführt hat, bietet ein repräsentatives Stück Musikgeschichte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Samuel Barber, Boris Blacher, Benjamin Britten, Luigi Dallapiccola, Gottfried von Einem, Wolfgang Fortner, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze, Ernst Krenek, Witold Lutoslawski, Siegfried Matthus, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Igor Strawinsky, Michael Tippett, Isang Yun.
Seine einzigartige Sängerlaufbahn beendete er nach 45 Jahren im Silvesterkonzert der Bayerischen Staatsoper 1992 mit der Schlussszene des «Falstaff» und der dort angestimmten Parole «Tutto nel mondo è burla». Es war gleich in mehrfacher Hinsicht ein denkwürdiges Konzert, mit dem sich Fischer-Dieskaus langjähriger musikalischer Weggefährte und Freund Wolfgang Sawallisch nach einem Vierteljahrhundert von der Bayerischen Staatsoper verabschiedete. Es wurde von Loriot moderiert, Lucia Popp hatte darin ihren vermutlich letzten Auftritt, Julia Varady sang Beethovens «Ah perfido!» – und Fischer-Dieskau, wiewohl in einer seiner Lebensrollen noch einmal in glänzender Verfassung, fasste spontan den Entschluss, von nun an nicht mehr zu singen. Als Dirigent, Pianist und vor allem als Rezitator ist er trotzdem immer wieder ins Rampenlicht getreten.
An den Entschluss, nicht mehr zu singen, hat er sich jedoch konsequent gehalten. Nur auf einer von ihm dirigierten CD mit Wagner-Aufnahmen von Julia Varady, auch sie in der Bayerischen Staatsoper aufgenommen, hat er noch einmal ein paar Takte Wolfram von Eschenbachs selber gesungen. Und bei den Salzburger Festspielen, wo er das «Deutsche Requiem» dirigierte, hat er wenige Jahre vor seinem Tod in der Generalprobe des Werks noch einmal, da der vorgesehene Thomas Hampson gleichzeitig als Don Giovanni im Grossen Festspielhaus auftreten musste, den Bariton-Part gesungen. Der Aufnahmeleiter Gottfried Kraus berichtete, ihm seien die Tränen über die Wangen gelaufen: «Da sang er doch wirklich, als wäre keine Zeit vergangen, mit derselben Stimme die Partie, in der ich ihn fünfzig Jahre zuvor unter Furtwängler zum ersten Mal gehört habe.»
Musik – und Literatur
Fischer-Dieskau hat niemals nur Sänger, niemals nur Musiker sein wollen. Der Literatur gehörte seine Leidenschaft fast ebenso sehr wie der Musik. Die Liebesverbindung von Poesie und Musik war geradezu der Angelpunkt seines künstlerischen Wirkens, seines Denkens und Schreibens. Das zeigen die Themen seiner Bücher, die von Schubert über Schumann, Brahms und Hugo Wolf bis zu Debussy einen bemerkenswerten musikgeschichtlichen Kosmos ausschreiten. Seine erste Monografie, «Auf den Spuren der Schubert-Lieder» (1971), nahm überhaupt zum ersten Mal eine umfassende Sichtung des Textmaterials vor, das in dessen riesigem Liedschaffen Musik geworden ist.
Dieses wie seine Bücher über Reichardt (1992) und Zelter (1997) lassen immer wieder Goethe als Leitstern aufleuchten. Als musikalischer Interpret des meistvertonten Dichters der Weltliteratur hat Fischer-Dieskau selbst ein Stück Wirkungsgeschichte Goethes mitgeschrieben (oder mitgesungen). Zudem hat er allen grossen Goethe-Komponisten von Reichardt bis Wolf einlässliche Monografien gewidmet. 2006 legte er dann eine Biografie des Theatermannes Goethe im Spannungsfeld seiner Zeit vor. Es ist das einzige seiner Bücher, in dem Fischer-Dieskau das musikalische Terrain verlassen hat – kein Wunder, war Goethe doch für ihn, um mit dessen eigenem Wort über Shakespeare zu reden, der «Stern der schönsten Höhe».
Kontroversen um den Gesangsstil
Immer wieder hat er sich gegen den Mythos gewehrt, das Neue seines Gesangs sei, dass er das Melos in den Dienst des Worts gestellt habe. Das ist sowohl im positiven als auch in kritischem Sinne behauptet worden, das Letztere etwa in einer höchst kuriosen Streitschrift gegen Fischer-Dieskau, die immerhin aus der Feder eines der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit stammt. Sie hat aber den kleinen Nachteil, dass ihr Autor von Gesang zu wenig verstand und vor allem kaum Deutsch konnte, was ihn zu gravierenden Fehlschlüssen verleitete. Diese Streitschrift stammt von Roland Barthes und trägt den Titel «Le grain de la voix». Sie hat sogar eine regelrechte philologische Diskussion in Deutschland ausgelöst.
Fischer-Dieskau hat in seinem Buch «Töne sprechen, Worte klingen» und andernorts verdeutlicht, dass es sich bei der rühmenden oder polemischen Behauptung, er habe das Melos in den Dienst des Worts gestellt, um eine falsche Dialektik handelt. Die Indienstnahme des Melos für die Textinterpretation müsse gerade den Text verfehlen, so betonte er nachdrücklich. Denn dessen Vertonung lege Bedeutungsschichten frei, die durch die Priorität der Wortdeklamation verschüttet würden.
Gleichwohl dürfte es kaum je einen Sänger gegeben haben, dessen Liedgesang auch das Verständnis von Lyrik so bedeutend gefördert hat wie Fischer-Dieskau. Dass wir etwa Eduard Mörike, dessen Novelle «Mozart auf der Reise nach Prag» zum besonders geliebten Repertoirestück des Rezitators Fischer-Dieskau gehörte, heute anders lesen und tiefer verstehen als vor einem halben Jahrhundert: Das ist nicht zuletzt das Verdienst seiner Interpretation von Hugo Wolfs Vertonungen, die auch den Text unvergleichlich ausloten.
Je grösser eine Persönlichkeit, desto weiter fallen auch ihre Schatten – die Schatten der Kritik, der Polemik, des Neides, ja des Hasses. Von ihnen ist auch Dietrich Fischer-Dieskau nicht verschont geblieben – doch wo kein Schatten, da auch keine Grösse. So betrieb man lange, insbesondere in München, das Gesellschaftsspiel, Hermann Prey gegen ihn auszuspielen – den Naiven gegen den Sentimentalischen im Sinne Schillers. Auch wenn ihre innere Beziehung gewiss nicht immer spannungsfrei war, gehörten gemeinsame Auftritte der beiden, etwa in «Figaro» und «Così fan tutte», zu den magischen Augenblicken der Operngeschichte des späten 20. Jahrhunderts.
Doch nicht nur Polemik und Neid, auch Anekdoten zieren den Lebens- und Schaffensweg eines grossen Künstlers. Eine sei hier zum heiteren Ausklang erzählt, so wie Fischer-Dieskau selber seine Sängerlaufbahn heiter mit Verdis «Tutto nel mondo è burla» beschlossen hat. In einer Probe zur Matthäus-Passion kommt es bei der Stelle «Meine Seele ist betrübt bis an den Tod» zu einem Dissens zwischen ihm und Otto Klemperer bezüglich des Tempos. Am nächsten Tag berichtet der Sänger dem Dirigenten, er habe in der Nacht von Johann Sebastian Bach geträumt, und dieser habe seine Meinung bezüglich des Tempos der besagten Stelle durchaus geteilt.
Wiederum einen Tag später ruft Klemperer Fischer-Dieskau zu sich und berichtet ihm in seiner charakteristischen Art mit hoher Stimme und schiefem Mund: «Ich habe heute Nacht auch von Johann Sebastian Bach geträumt. Und da kam es heraus: Der kennt Sie gar nicht!»