An Silent Reading Raves treffen sich Menschen, um gemeinsam zu lesen. Jeder in seinem eigenen Buch, geredet wird nicht. Macht das überhaupt Spass? Ein Selbsttest.
«Kommt und geht, wann ihr wollt», heisst es auf der Website des Veranstalters. Die Kulturbar «Gleis», nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, ist der Austragungsort des heutigen Silent Reading Rave. Ich bin spät dran und haste zügig den Gleisen entlang zum Café, betrete das belebte Lokal, höre die Kaffeemaschinen rattern, gehe durch einen Vorhang – und stehe plötzlich in absoluter Stille.
Im Nebenraum des «Gleis»-Cafés sitzen gut sechzig Menschen, dicht beieinander. Alle haben denselben Kräutertee auf dem Tisch und die unterschiedlichsten Bücher in der Hand. Zwei Stunden lang werden hier die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam ihre selbst mitgebrachten Bücher lesen.
Ich schleiche an vertieften Lesenden vorbei, um einen der letzten freien Plätze für mich zu beanspruchen. Ich werfe einen Blick in den Lesesaal: eine junge Frau liest einen Fantasy-Roman, eine andere ein Sachbuch über Identität, ein Mann mit schicken Schuhen blättert sich durch ein dickes Buch mit einem Titel wie «Krieg dein Leben in den Griff». Ich habe «Kreativ. Die Kunst zu sein» von Rick Rubin dabei.
Eine Welt für sich
Eine Seite des lichtdurchfluteten Cafés ist mit einer grossen Fensterfront ausgestattet. Mein Blick wandert nach draussen. Auf der Terrasse unterhalten sich ein paar Gäste des Cafés, keine Silent Reading Raver. Sie stossen an, lachen laut, unterhalten sich. Hier drinnen hört man nichts davon.
Die Geräuschkulisse im Café ist gedämpft, man hört nur ab und zu, wie jemand seinen Tee umrührt oder eine Buchseite umblättert. Die Stille erinnert mich an mein Studium, an unsere Hochschulbibliothek. Doch dort ging kaum jemand freiwillig in der Freizeit hin. Hier nehmen sich alle die Zeit an ihrem Samstag.
Seit gut fünf Jahren organisiert das Team hinter den Silent Reading Raves solche Veranstaltungen in der Schweiz. Teil des Gründerteams ist Fabian Weingartner, der nach seinem Studium auf die Idee mit den Raves gekommen ist. Er hatte als Student keine Zeit gefunden, eigene Bücher zu lesen – zu gross war der Lernaufwand für den Abschluss. Das wollte er ändern und zugleich das Literaturbewusstsein unter jungen Menschen fördern. Das Team nennt es «gemeinsam einsam lesen». Ein sehr treffender Begriff, denn genau so fühlt sich dieses Beisammensein an.
Silent Reading Raves gehören zu einer wachsenden Zahl von Events, bei denen Menschen bewusst Ruhe und das Offline-Dasein suchen. In Städten wie London und New York etablieren sich seit einigen Jahren «Offline Rooms», in denen Handys und digitale Geräte verboten sind. So sollen die Menschen in der realen Welt präsent bleiben. Es sind Veranstaltungen, die den Wunsch nach Pausen und Entschleunigung zeigen. Durchatmen im modernen Leben, das geprägt ist von Reizüberflutung. Es dürfte diese Sehnsucht sein, die die Räume der Silent Reading Raves jede Woche mit Menschen füllt.
Wortlose Gesellschaft
Es gibt keinen Smalltalk. Ich sehe keine Gesichter, die ich kenne. Und das gleiche Buch wie ich liest auch niemand. Und doch hat das Ganze etwas Beruhigendes. Wir sind alle hier, von der Stille umgeben, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Trotzdem fühlt man sich in guter Gesellschaft.
Am Ende der zwei Stunden betritt Fabian Weingartner wieder den Raum, die Hintergrundmusik der Bar beginnt sich langsam heranzuschleichen. Fabian spricht seinen Dank aus, verkündet den nächsten Veranstaltungsort und verabschiedet sich.
Wir packen unsere Bücher ein. Einige lächeln kurz, flüstern über das letzte Kapitel. Der Mann mit den schicken Schuhen wirkt entschlossen, als habe er ein Ziel gefunden. Ich fühle mich nach fünf Kapiteln Rick Rubin kreativ beflügelt. Wir alle kehren aus anderen Welten zurück. Doch irgendwie verstehen wir uns.
«Fuck off, I’m reading» steht auf einem Lesezeichen, das der Veranstalter als Merchandise anbietet. Ich muss lächeln. Denn diese Philosophie funktioniert.