Die Menschen leben immer länger – und es ist kein Ende in Sicht. Für Schweizer gilt das noch mehr als für Deutsche. Der Demograf Roland Rau erklärt, was dahinter steckt: Geld, Demokratie und Ernährung.
Herr Rau, die Lebenserwartung der Menschen steigt und steigt. Wird das immer so weitergehen, oder ist ein Ende in Sicht?
Seit etwa 1840 sehen wir – ausgehend von Europa – tatsächlich einen ständigen Anstieg der Lebenserwartung, der mittlerweile weltweit zu beobachten ist. Die Rekordlebenserwartung der Frauen ist Jahr für Jahr um rund drei Monate gestiegen. In den vergangenen 20 Jahren war der Anstieg nicht mehr ganz so steil, aber der Trend setzt sich fort. Wenn ich wüsste, wann damit Schluss ist, wäre ich reich und berühmt. Ich weiss nur: Es gibt immer noch Luft nach oben. Studien zeigen zum Beispiel, dass Mormonen eine weitaus höhere Lebenserwartung haben als die Durchschnittsbevölkerung. Diese Anhänger einer Glaubensgemeinschaft aus den USA trinken keinen Alkohol und haben einen besonders gesunden Lebensstil.
Wieso konnte bisher nichts diese Entwicklung stoppen? Seit dem 19. Jahrhundert gab es einige Kriege. Wie kann es sein, dass die Lebenserwartung dennoch stark anstieg?
Natürlich sinkt die Lebenserwartung bei einem Krieg enorm schnell nach unten. Aber die Erfahrung zeigt, nach wenigen Jahren schnellt sie wieder nach oben und ist auf dem bisherigen Entwicklungspfad. Das stimmt doch sehr optimistisch – auch für die Zukunft. Die Leute sagen oft zu mir: «Roland, du analysierst Lebenserwartung und Sterblichkeit, das ist doch furchtbar deprimierend.» Und natürlich ist es für jede Familie traurig, einen Sterbefall zu haben. Aber wenn man die Entwicklung anschaut, ist das eine riesige Erfolgsgeschichte.
Warum leben denn die Menschen immer länger?
Am Anfang dieser Entwicklung gingen die Säuglings- und die Kindersterblichkeit stark zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg dadurch an, obwohl die Alten nicht länger lebten. Ungefähr seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts beobachten wir aber, dass die Sterblichkeit vor allem in den Altersstufen ab 60 Jahren enorm nach unten geht. Ein bisschen flapsig ausgedrückt: Jetzt wird hinten länger gelebt. Das liegt zum Beispiel an grossen Fortschritten in der Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Es gibt viele Ratgeberbücher darüber, wie man das eigene Leben durch gesunde Ernährung, Sport und so weiter verlängern kann. Habe ich wirklich meine eigene Langlebigkeit in der Hand?
Die Gene machen vielleicht ein Viertel der individuellen Lebenserwartung aus. Die meisten Faktoren sind tatsächlich veränderbar. Manche davon kann ich durchaus selbst beeinflussen. Ich sage immer: Tu, was deine Mutter dir gesagt hat. Treibe Sport, rauche nicht, trinke nicht. Zieh dich warm an im Winter, und ernähre dich gesund. Den Faktor Ernährung würde ich künftig gern näher untersuchen. Es ist schwierig, zu analysieren, welchen Einfluss sie auf die Lebenserwartung hat. Denn wenn ich mir heute Fast Food reinschiebe, falle ich ja morgen nicht tot um. Zudem kann sich das Ernährungsverhalten einer Person ändern. Hier gibt es noch ein grosses Forschungspotenzial. Dennoch glaube ich, dass die Ernährung einer der wichtigsten Faktoren ist, die man selbst beeinflussen kann.
Und welche veränderbaren Faktoren kann ich nicht selbst beeinflussen?
Hier ist zum Beispiel ein funktionierendes Gesundheitssystem wichtig, zu dem die gesamte Bevölkerung Zugang hat. Das kann ich nicht so ohne weiteres selbst beeinflussen. Meiner Ansicht nach ist etwas anderes aber noch viel wichtiger. Es klingt vielleicht pathetisch, doch meine tiefste, innere Überzeugung ist: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit sind entscheidende Faktoren. Das sieht man besonders deutlich in vielen Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der darauffolgenden Demokratisierung stieg die Lebenserwartung rapide an. Und das nicht nur im Gebiet der ehemaligen DDR, sondern auch in Tschechien, Polen oder Ungarn, um nur einige Beispiele zu nennen.
Hat Geld auch etwas mit der Lebenserwartung zu tun?
Durchaus. Wir haben in Deutschland die Sterblichkeit auf Landkreisebene betrachtet. Dabei haben wir gesehen, dass die Lebenserwartung im Osten auf dem Land relativ niedrig ist. In Westdeutschland ist die Lebenserwartung zum Beispiel im Ruhrgebiet, also in einem städtischen Bereich, besonders niedrig. Was beide Regionen vereint: Dort sind mehr Menschen arbeitslos als in anderen Teilen Deutschlands. Grundsätzlich zeigte sich, je höher das Einkommen, desto höher die Lebenserwartung.
Liegt es allein am Geld?
Wir sehen, dass Menschen mit höherer Rente länger leben. Aber die Frage lautet natürlich, wer hat denn die höhere Rente? Das sind Personen, die zuvor ein höheres Einkommen hatten. Und das haben hauptsächlich Leute mit einem höheren Bildungsniveau. Es ist schwer zurückzuverfolgen, wo der erste Dominostein umfällt, was also tatsächlich die Ursache für die längere Lebensdauer der Menschen mit mehr Geld ist.
Im Moment haben Schweizer im weltweiten Vergleich eine besonders hohe Lebenserwartung. Im Jahr 2022 geborene Mädchen werden im Durchschnitt 85,4 Jahre alt, die Jungen 81,6 Jahre. Mädchen aus Deutschland haben rund zwei Jahre weniger zu leben, Jungen sogar drei weniger. Woran liegt dieser Unterschied?
Vor allem die deutschen Männer im Alter zwischen 60 und 70 Jahren sind für die niedrigere Lebenserwartung im Vergleich zur Schweiz verantwortlich. Bei den Frauen tritt der Unterschied etwas später auf, nämlich im Alter zwischen 70 und 90 Jahren. Es ist schwierig, einzelne Faktoren dafür zu nennen. Doch eine mögliche Ursache liegt im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zwar sind Prävention und Behandlung in den vergangenen Jahrzehnten überall sehr viel besser geworden, aber Deutschland scheint im internationalen Vergleich hinterherzuhinken.
Wie kann man eigentlich voraussagen, dass ein 2022 geborenes Mädchen in der Schweiz durchschnittlich 85,4 Jahre alt wird?
Wir können natürlich keine 120 Jahre warten, bis sie alle gestorben sind. Wir schauen also: Wie war die Sterblichkeit zuletzt in der Gesamtbevölkerung? Und wie lange würde ein Neugeborenes leben, wenn sich daran in den kommenden 120 Jahren nichts ändern würde? Das Ergebnis ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Neugeborenen.
Das klingt sehr unpräzise.
Ja. Und im Normalfall ist die tatsächliche Lebenserwartung viel höher, weil wir ja einen ständigen Fortschritt beobachten. Zum Beispiel lag die errechnete Lebenserwartung von schwedischen Frauen im Jahr 1900 bei 53,6 Jahren. Tatsächlich aber lebten sie im Durchschnitt etwas mehr als 61 Jahre. Dennoch sind die Schätzungen wichtig. Denn so können wir zum Beispiel mit einer einzigen Zahl die Sterblichkeitsverhältnisse zwischen Ländern beschreiben.
Ich möchte ja eigentlich wissen, wie alt ich selbst werde. Was bringen mir Durchschnittswerte? Kann man die Voraussagen nicht stärker individualisieren?
Das halte ich für einen utopischen Wunsch. Was wir aber sehen: Das Sterben konzentriert sich mehr und mehr auf eine bestimmte Lebensspanne. Es stirbt kaum jemand mehr vor einem Alter von 60 oder 70 Jahren. Man kann nicht voraussagen, wie alt genau ein einzelner Mensch werden wird. Dennoch gab es keine Zeit in der Menschheitsgeschichte, in der die Zukunft planbarer war für das Individuum.
Ist ein langes Leben eigentlich automatisch ein besseres, oder werden die Leute vor allem alt und krank?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Das Bild ist nicht so eindeutig wie bei der Sterblichkeit. Unterschiedliche Studien finden sowohl Anzeichen für eine sogenannte «Kompression», andere für eine «Expansion» und wiederum andere für ein «dynamisches Gleichgewicht».
Das müssen Sie erklären.
Rein theoretisch angenommen, ich habe eine Lebenserwartung von 80 Jahren und lebe davon drei Viertel, also 60 Jahre, in Gesundheit und ein Viertel, nämlich 20 Jahre, in Krankheit. Würde nun die Lebenserwartung von 80 auf 84 Jahre steigen und würden die Anteile gleich bleiben, dann würde ich drei weitere Jahre in Gesundheit und ein weiteres in Krankheit leben. Das wäre das dynamische Gleichgewicht. Steigt der Anteil der gesunden Jahre stärker, spricht man von Kompression, bei einem stärkeren Anstieg der Lebensjahre in Krankheit von einer Expansion. Die Forschung zeigt bis jetzt nicht eindeutig, welche Hypothese zutrifft.
Was heisst überhaupt «in Krankheit»? Auf welche Einschränkungen müssen sich die Menschen im Alter einstellen?
Wir beobachten, dass der Anteil der leichten Einschränkungen geringer geworden ist. Das liegt auch an banalen Erfindungen wie dem Rollator. Dieser Metallrahmen mit ein paar Rollen dran ist meiner Ansicht nach eine der besten Ideen der Menschheit. Damit können alte Leute wieder selbstbestimmt am sozialen Leben teilnehmen und länger für sich selbst sorgen. Es ist doch erstaunlich, vor 55 Jahren war der Mensch auf dem Mond, aber da hat es diese schnöde Erfindung noch nicht gegeben. Trotz allen positiven Entwicklungen sollten wir aber eine Entwicklung nicht ausser acht lassen: Demenz war im Jahr 2022 die häufigste Todesursache von Frauen in Deutschland. In der Schweiz liegt sie auf Platz drei der Todesursachen von Frauen. Und es ist kein Geheimnis, dass dies gerade am Ende des Lebens mit starken Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit einhergeht.
Sie beschäftigen sich beruflich mit der Sterblichkeit. Was tun Sie selbst für Ihre Langlebigkeit?
Ich bin sicher kein Selbstoptimierer, der sich die Lebensqualität mit dem ständigen Blick auf die Smartwatch vermiest. Was ich aber tue, weil es mit guttut: Ich praktiziere Intervallfasten. Und hinter mir sehen Sie meinen Fahrradhelm. Ich versuche, mich möglichst viel zu bewegen. Zudem lasse ich mich jährlich vom Arzt durchchecken. Seit ich stärker auf meine Gesundheit achte, haben sich meine Blutwerte enorm verbessert.