Das Team rund um Präsidentin Ursula von der Leyen hat endlich losgelegt. Wie kann gleichzeitig die Bürokratie abgebaut, die Wehrfähigkeit erhöht und die Umwelt gestärkt werden?
Jetzt geht es los. Wochenlang hing der Start der neuen EU-Kommission an einem seidenen Faden, das Parlament blockierte die Bestätigung der Kommissare aus parteitaktischen Motiven. Doch dann ging es plötzlich schnell. Am Mittwoch sagte eine – historisch tiefe – Mehrheit Ja zum fein austarierten Team von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Und bereits am Sonntag nahm die neue «EU-Regierung», die über eine Mischung aus exekutiven und legislativen Befugnissen verfügt, die Arbeit auf.
Nur wenige Stunden nach ihrer Amtsübernahme reisten die neuen aussenpolitischen Spitzenvertreter der EU zu einem symbolträchtigen Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. EU-Ratspräsident António Costa und Chefdiplomatin Kaja Kallas wollen dort Präsident Wolodimir Selenski treffen und ihm Beistand angesichts des anhaltenden russischen Angriffskrieges zusichern. Zu den Verhandlungspunkten gehört auch der Nato-Beitritt der Ukraine.
Innereuropäische und geopolitische Herausforderungen
An Herausforderungen wird es der neuen EU-Kommission in den kommenden fünf Jahren nicht mangeln. Eigene Versäumnisse müssen korrigiert werden, die EU steht wirtschaftlich geschwächt da. Doch auch das aussenpolitische Umfeld hat sich zu Ungunsten des Staatenbundes entwickelt. Stichworte: Ukraine-Krieg und neue Trump-Administration.
Den geopolitischen Kontext kann die EU zwar nur bedingt beeinflussen, aber sie muss darauf reagieren. Die Ungewissheit wird grösser, gefordert sind mehr Autonomie und Handlungsfähigkeit. Dass sich die Prioritäten verändert haben, zeigt schon die Ausgestaltung der neuen Kommission: Zum ersten Mal verfügt die EU über einen Kommissar für Verteidigung, auch den Posten für Startups, Forschung und Innovation oder denjenigen fürs Mittelmeer gab es zuvor nicht.
Das Portfolio allein bringt jedoch nichts, die Kommissare müssen auch handeln. Wollen sie die EU in eine prosperierende Zukunft führen, sind besonders in den folgenden fünf Themenfeldern Handlungen notwendig – mit direkten Auswirkungen auch aufs Nichtmitgliedsland Schweiz.
Wettbewerbsfähigkeit erhöhen
Der mittlerweile berühmte Bericht von Mario Draghi von September war ein richtiggehender Weckruf. Schonungslos zeigte der ehemalige Zentralbankchef auf, wie sich die im Vergleich mit China und vor allem mit den USA tiefere Produktivität der EU negativ auf den Wohlstand ausgewirkt hat.
Um dagegen anzukämpfen und soziale Errungenschaften zu bewahren, braucht die EU mehr Wachstum – was ohne Grossinvestitionen in Technologiebranchen und einen Abbau von regulatorischen Einschränkungen nicht möglich sein wird. Die EU-Kommission hat den Ball aufgenommen.
Erst am Mittwoch hat von der Leyen angekündigt, dass ein «Kompass für Wettbewerbsfähigkeit» die erste bedeutsame Handlung der neuen Kommission sein werde. So will man die Bürokratie abbauen und Jungunternehmen einen vereinfachten Zugang zum europäischen Binnenmarkt ermöglichen. Dass die hehren Worte in der Praxis zuweilen einen schweren Stand haben, zeigte sich allerdings just am Tag danach. Das EU-Parlament beugte sich über einen Vorschlag der Kommission (in alter Zusammensetzung), der rauchfreie Zonen ausweiten wollte und neue Regularien bedingt hätte.
Verteidigungsfähigkeit ausbauen
Der russische Überfall auf die Ukraine hat eine Zeitenwende eingeläutet: Frieden auf dem Kontinent, dieses zentralste Bestreben des europäischen Integrationsprozesses, ist nicht mehr selbstverständlich. Rundherum wurden seither die Verteidigungsbudgets erhöht. Doch ausreichend sind die Ausgaben nicht.
Gemäss Angaben der Kommission investieren die 27 EU-Staaten gerade einmal 1,9 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in ihre Armeen, in Russland sind es 9 Prozent. «An dieser Gleichung ist etwas falsch», sagte von der Leyen kürzlich und forderte eine Erhöhung der Ausgaben. Der Kommission schweben 500 Milliarden Euro über zehn Jahre vor, doch die Finanzierung ist offen. Soll das Tabu der gemeinsamen Schulden, wie während der Pandemie, erneut gebrochen werden? Der neue Verteidigungskommissar und die Aussenbeauftragte wollen nach hundert Tagen ein Strategiepapier präsentieren.
Der Ruf nach einer «echten Verteidigungsunion», bei der die Mitgliedsländer zu gegenseitiger Unterstützung verpflichtet wären, wird gerade angesichts der unsicheren Zukunft der Nato grösser. Einfacher dürften allerdings gemeinsame Rüstungsprojekte sowie eine Aufstockung der Grenz- und Küstenwache zu bewerkstelligen sein. Nicht zuletzt war auch die Erweiterungspolitik der EU stets ein geopolitisches Instrument zur Wahrung der eigenen Sicherheit – doch der Prozess ist ins Stocken geraten. Im Westbalkan erleidet die EU einen fortwährenden Machtverlust, und der Beitritt der Ukraine ist erst recht in weiter Ferne, auch wenn er versprochen ist.
Migrationsströme eindämmen
Die illegale Migration gilt als Hauptgrund dafür, dass sowohl bei den Europawahlen vom Juni als auch bei verschiedenen nationalen und regionalen Wahlen Rechtsaussenparteien stark zulegen konnten. Entsprechend nervös wurde Brüssel – und plötzlich werden Rezepte salonfähig, die vor wenigen Jahren noch einen Tabubruch dargestellt hätten.
Ein Meilenstein war der Asyl- und Migrationspakt. Erst im Frühling wurde er verabschiedet, er soll nun zügiger als geplant umgesetzt werden. Doch in Teilen ist er bereits überholt: Die EU will Personen mit positivem Asylentscheid mehr Rechte einräumen und gleichzeitig strikter gegenüber jenen sein, die keinen Schutzanspruch haben.
Das Zauberwort der Stunde heisst «innovative Lösungen». Dies könnten beispielsweise sogenannte «Return Hubs» sein, also Rückkehrzentren in sicheren Drittstaaten. Das Schengen-System steht derweil unter Druck: Reihenweise haben Mitgliedsstaaten an ihren Binnengrenzen wieder Kontrollen eingeführt – im Zug der stärkeren Sicherung der Aussengrenze sollen diese sukzessive wieder abgebaut werden.
Kohäsion stärken
Länder wie Ungarn oder die Slowakei torpedieren gemeinsame Ziele regelmässig – und in Rumänien hat kürzlich ein prorussischer Kandidat den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen gewonnen. Brüssel ist nervös.
In diesem Kontext ist zu lesen, dass von der Leyen dem italienischen Kommissar Raffaele Fitto – der zwar einer Rechtsaussenpartei angehört, seine proeuropäische Gesinnung aber stets betont – unbedingt eine der wichtigsten Rollen innerhalb der Kommission geben wollte: Mit der Einbindung von gemässigteren Kräften soll noch radikaleren Parteien der Boden unter den Füssen weggezogen und letztlich die Auflösung der Union verhindert werden. Ob diese Strategie verfängt, könnte sich demnächst in Frankreich zeigen, wo Marine Le Pen und ihr Rassemblement national an die Macht drängen.
Gerade angesichts der derzeitigen Schwäche Frankreichs und Deutschlands, der einstigen Zugpferde Europas, können «Koalitionen der Willigen» ein Rezept sein, um dem lähmenden Prinzip der Einstimmigkeit und drohendem Stillstand zu entkommen. Ein Beispiel dafür ist das besonders russlandkritische, NB 8 genannte Format der Skandinavier und Balten. Polen will sich da nun anschliessen.
Green Deal umsetzen
Kurz nach Beginn der letzten Amtszeit präsentierte die EU-Kommission den Green Deal, dank dem man bis 2050 klimaneutral sein will. Heute geniesst das Thema keine höchste Priorität mehr. Das zeigt sich an der neuen Zusammensetzung der Kommission.
Zwar betont von der Leyen, dass man auf dem grünen Pfad bleiben wolle. Gleichzeitig wird eifrig am Gesetzeswerk gesägt: So sollen die umfassenden Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten, über welche die Unternehmen klagen, entschlackt werden. Die Einführung der Entwaldungsverordnung wurde soeben um ein Jahr nach hinten verschoben. Auch das Verbrenner-Aus könnte wackeln. Ist griffiger Umweltschutz und Bürokratieabbau ein innerer Widerspruch? Den Gegenbeweis zu erbringen, wird eine der grössten Herausforderungen der neuen Kommission sein.







