Der Freiheitskämpfer predigte Versöhnung. Südafrika aber beschuldigt Israel des Völkermords und schont die Hamas. Das hat mit Rechtsprechung nichts zu tun. Es ist postkoloniale und somit rassistische Politik.
Mandela mochte die Juden. Sie seien «in Fragen der Rasse und der Politik aufgeschlossener als die meisten Weissen – vielleicht, weil sie in der Vergangenheit selbst Opfer von Vorurteilen waren», schrieb der Freiheitsheld in seiner Autobiografie «Long Walk to Freedom». Das ist nicht nur schön dahergeredet. Juden waren Mandelas Kampfgenossen, Beschützer und Freunde. Sie trugen massgeblich – mehr als alle anderen Weissen – dazu bei, dass die Apartheid besiegt und das moderne, tolerante Südafrika, die «Regenbogennation» mit ihren Dutzenden von Ethnien, entstehen konnte.
Belastete Geschichte
Heute wirft Südafrika Israel vor, einen Völkermord an den Palästinensern zu verüben, und ist mit dieser Klage vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gezogen. Für Israel, für die Juden weltweit, ist das bitter. Es war die Ermordung von sechs Millionen Juden, die 1948 zur Schaffung des Genozid-Artikels im Internationalen Strafrecht führte. Für Pretoria aber ist die Klage nur konsequent, denn Israel und Südafrika verbindet eine leidvolle, schwierige Geschichte. Solange Israel ein «linker» Staat war, solidarisch mit den Unterdrückten der Welt in Wort und Tat, blühte die Beziehung geradezu. Seit dem Sechstagekrieg 1967 aber gilt Israel den Südafrikanern ebenso wie Teilen der europäischen Linken und vielen im «globalen Süden» als kolonialistischer Staat, als Ausbeuter und bissiger Lakai der USA.
Das stand nicht in den Sternen. Als Nelson Mandela 1990 nach 27 Jahren Haft freigelassen wurde, verströmte er eine derart überwältigende, strahlende Versöhnlichkeit, dass viele Weisse, die bereits auf ihren Koffern sassen, auch Juden, im Land blieben und darangingen, sich eine Zukunft aufzubauen. Die menschliche Grösse Mandelas beeindruckte, und die Geschichte hat dieses Urteil kaum retuschiert. Mandela ist wohl der einzige Politiker weltweit, der fast unisono verehrt wird. Als ähnliche Lichtfigur kann allenfalls Vaclav Havel gelten, der auch lange im Gefängnis sass und auch Präsident wurde. Aber im «globalen Süden» ist er kein Begriff. Mandela dagegen ist eine Ikone – wild geliebt, masslos bewundert, selten hinterfragt.
Der Kontakt zu den Juden kam früh und sollte sich zu verblüffender Intensität auswachsen. Seinen ersten Bürojob hatte Mandela im Rechtsanwaltbüro von Lazar Sidelsky, einem Freund des African National Congress (ANC). Dass der Jude, dessen Eltern aus Litauen vor Pogromen geflohen waren, einen jungen Afrikaner als Referendar aufnahm, war unerhört – und für Mandela ein weiteres Indiz für jüdische Grossmut. Sidelsky war der einzige Weisse, den Mandela je als «meinen Boss» bezeichnete. In seiner Kanzlei lernte er Nat Bregman kennen, seinen «ersten weissen Freund», Jude auch er und später als Kämpfer gegen die Apartheid lange inhaftiert. Ruth First, Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Südafrikas, ihr Mann Joe Slovo, Lionel Bernstein und Harold Wolpe, alle Juden, alle links, alle Helden der Freiheitsbewegung, gehörten zu seinen engsten Freunden.
Bürgerrechtler und Aktivisten
Es waren Juden, die Mandela finanzierten. Es waren Juden, die ihn versteckten, als er abtauchen musste. Juden kämpften für ihn vor Gericht. Israel Maisels leitete von 1956 bis 1961 das Team der Verteidiger im Landesverratsprozess gegen 156 Bürger, unter ihnen Mandela, der mit einer Serie triumphaler Freisprüche endete. Juden waren aber auch mehr als die Hälfte der Weissen, die im Landesverratsprozess angeklagt wurden, und Juden waren ausnahmslos alle Weissen, die zu Beginn des Riviona-Prozesses 1963 angeklagt waren. Der einzige Weisse, der schliesslich zusammen mit Mandela und sechs seiner Mitkämpfer zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, war der Bürgerrechtler Denis Goldberg. Die grossartige Freiheitsaktivistin Helen Suzman, über Jahre die einzige Frau in der südafrikanischen Opposition, die mit ihrer Progressive Federal Party gegen die Apartheid kämpfte, besuchte Mandela im Gefängnis auf Robben Island. In der Haft las er Leo Baeck und Martin Buber. Nach seiner Freilassung zog er nach Houghton, in eine Gegend Johannesburgs, in der viele Juden wohnten.
Das Bild bedingungsloser jüdischer Solidarität bedarf dennoch einiger Retuschen. Die Aktivisten waren laut und erfolgreich, aber eine Minderheit. Die meisten Juden in Südafrika blieben im schwarzen Freiheitskampf diskret. Sie hatten selber traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und Mühe genug, in der brutalen Realität des Apartheid-Alltags die humanistische jüdische Tradition zu leben. Mit den feurigen jüdischen Kommunisten im ANC Mandelas konnten sie wenig anfangen. Sie bewunderten ihren Mut, verstanden aber nicht ganz, warum sie sich derart für Schwarze einsetzten und warum etliche von ihnen die Verbrechen Stalins ignorierten. Manche Juden liess die Apartheid schlicht kalt. Auch der Anklageführer im Riviona-Prozess, Percy Yutar, war Jude. Mandela lud ihn 1995 zu einem koscheren Mittagessen ein.
Eine Machtstellung hatten die Juden in Südafrika nie, aber sie haben das Land geprägt. Von den rund 75 000 Juden, die heute in Südafrika leben, kommen vier Fünftel aus dem Baltikum und von diesen fast alle aus Litauen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert flohen sie vor der Repression im Zarenreich, ein halbes Jahrhundert später vor der Barbarei der Nazis. Ihnen gemein war ein entwickeltes Gespür für soziale Ungerechtigkeit, was sie nicht zu Freunden der Buren machte, die oft mit den Nazis sympathisierten. Von den Englischsprachigen wurden sie sozial geschnitten, und für die meisten Christen waren sie noch immer die «ewig Anderen», bestenfalls geduldet, im Grunde verabscheut.
Respekt für Rabin
Mandela mochte nicht nur die Juden. Anders als heute oft kolportiert wird, akzeptierte er auch ihren Staat und dessen Politiker, und zwar nicht nur in den Anfangsjahren. Die klandestine Kumpanei Israels mit dem Apartheidregime überging er, wo immer er konnte. Dass ihm das Wohl der Palästinenser wichtig war und später seine Aussenpolitik bestimmte, steht ausser Frage. Aber den Zionismus akzeptierte er als Ausdruck des legitimen jüdischen Nationalismus, und als er 1993 den Friedensnobelpreis erhielt, sagte er, Yitzhak Rabin hätte ihn mehr verdient. 1995 besuchte er in einer Johannesburger Synagoge eine Trauerzeremonie zu Ehren des ermordeten Rabin, der unterdessen – zusammen mit Yasir Arafat und Shimon Peres – den Friedensnobelpreis doch noch erhalten hatte. 1996 reiste er mit südafrikanischen Juden nach Israel, um die Risse zu kitten, die die israelischen Avancen gegenüber dem Apartheidregime hinterlassen hatten.
In Israel wiederum fand der Befreiungskampf der Schwarzen in den Gründerjahren die Zustimmung der führenden Linkspolitiker. David Ben-Gurion und Golda Meir umwarben die jungen afrikanischen Staaten und unterstützten Bewegungen, die die kolonialistischen Regime bekämpften. Zusammen mit den Niederlanden gehörte Israel zu den wenigen Ländern, die nach dem Massaker von Sharpeville, bei dem 69 schwarze Demonstranten erschossen wurden, auch in der Uno protestierten.
Glaubt man der linken israelischen Zeitung «Haaretz», so hat Mandela in dieser Zeit sogar vom israelischen Geheimdienst Mossad Waffen- und Sabotagetraining erhalten. Unter Berufung auf ein Top-Secret-Dokument im Staatsarchiv in Jerusalem berichtete die Zeitung 2013, die Ausbildung habe 1962 in der israelischen Botschaft in Addis Abeba unter dem Codenamen «Schwarze Nelke» stattgefunden. In dem Dokument erscheint Mandela als Freund Israels: «Er sagte ‹Shalom›, wenn er hereinkam, war mit den Problemen der Juden und Israel bestens vertraut und machte den Anschein eines Intellektuellen.» Laut «Haaretz» reiste Mandela damals durch eine Reihe afrikanischer Länder, um für Unterstützung im Kampf gegen die Apartheid zu werben. Die Mossad-Agenten, schrieb «Haaretz», hätten allerdings nicht gewusst, wen sie da vor sich hätten.
Mit zweierlei Mass – die Hamas interessiert Pretoria nicht
Südafrika bezieht sich in seiner Anklage gegen Israel nicht auf Mandela. Das muss es auch nicht. Aber man wird in Pretoria heilfroh darüber sein, dass der Freiheitsheld nicht mehr lebt. Was hätte der Herold der Versöhnlichkeit, der Mann, der sogar seinen Todfeinden die Hand reichte, dazu gesagt, dass Israel, das geschändete Land, und nur Israel an den Pranger gestellt wird? Dass niemand über die Hamas zu Gericht sitzt, die Frauen und Kinder abschlachtete? Und dass kein Mensch zu interessieren scheint, warum Südafrika und andere Länder des «globalen Südens» niemals in dieser juristischen Form Anstoss genommen haben an den Schlächtereien eines Saddam Hussein oder Bashar al-Asad?
Der Hinweis, dass nur Länder – und keine Gruppen wie die Hamas – beim IGH angeklagt werden können, läuft ins Leere. Pretoria interessiert sich in offener Nonchalance weder für die Hamas noch für ein Kriegsverbrechen, das jedem jemals aufgeschriebenen Recht hohnspricht. Nein, Pretoria betreibt einfach Politik. Hier geht es nicht eine Sekunde um Recht oder Gerechtigkeit, sondern einzig und allein darum, Israel zu dämonisieren, zu isolieren und an den Pranger zu stellen. Das ist Verrat am Erbe Mandelas.
Zur Erklärung der südafrikanischen Klage bleibt einzig das sinistere Hobby südlicher, meist autokratischer Nationen übrig: der Postkolonialismus, das neue linke Eilverfahren, das Täter und Opfer stets schon kennt, bevor zu Gericht gesessen wird. Kolonisierte Länder werden in diesem Tribunal exkulpiert, westliche Staaten und Regime sind immer die Bösewichte, selbst wenn sie sich Asche aufs Haupt streuen und artige Knickse machen. Nicht Menschenrechte gelten, sondern Minderheitenrechte. Und die werden nicht kritisiert.