Die neue Regierung in Damaskus will sie entwaffnen, Israel umgarnt sie als Verbündete: Die syrischen Drusen geraten ins Fadenkreuz der Mächte. Ein Besuch in der Hochburg einer eigensinnigen Minderheit.
Seit einer Stunde steht Sami Zeynadi mit ein paar anderen Leuten in der Mitte eines Kreisverkehrs in Suweida. Der 71-jährige Bauer mit dem dünnen Schnauz ist hergekommen, um die Gefallenen zu ehren. Sein Sohn Chaldun ist einer von ihnen. Der gelernte Elektriker hatte sich 2011 den Anti-Asad-Rebellen angeschlossen. 2013 fiel er im Kampf gegen die Truppen des Diktators. «Er ist für die Freiheit gestorben, Gott beschütze ihn», sagt Zeynadi und hält ein Bild des Toten empor.
Trotzdem herrscht an diesem Wintermorgen immer noch die Euphorie des Neuanfangs in Suweida, der schmucklosen Hauptstadt der gleichnamigen Drusenprovinz im Süden Syriens. Anfang Dezember ist das brutale Regime des Diktators Bashar al-Asad gestürzt worden. Auf dem Hauptplatz der Stadt läuft Musik, junge Frauen machen Fotos mit Besuchern. «Wir alle sind glücklich», sagt Zeynadi. «Wir haben schon immer für die Freiheit gekämpft.»
Doch die neue Freiheit ist womöglich in Gefahr. Denn in Damaskus herrschen nun die Islamisten der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die die aufmüpfigen Drusen und ihre Milizen am liebsten entwaffnen wollen. Laut Medienberichten sollen die Drusenführer zwar jüngst ein Abkommen mit dem Übergangspräsidenten Ahmed al-Sharaa geschlossen haben, wonach ihre zivilen und militärischen Strukturen in den neuen syrischen Staat integriert werden sollen. Das Misstrauen gegenüber den islamistischen Machthabern bleibt jedoch gross.
Rebellen und loyale Bürger
Anfang März war es in der gemischtreligiösen Damaszener Vorstadt Jaramana, wo ebenfalls viele Drusen leben, zu heftigen Schiessereien zwischen Regierungstruppen und drusischen Kämpfern gekommen. Auch in Suweida stehen die lokalen Milizionäre Gewehr bei Fuss. Kurz nach den Kämpfen vor den Toren der Hauptstadt kündigten einige ihrer Gruppen an, nun einen gemeinsamen Militärrat zur Verteidigung zu bilden.
Dann schaltete sich auch noch jene Macht ein, die in Syrien jahrzehntelang als Erzfeind Nummer eins galt: Israel, das schon seit dem Sturz Asads Gebiete in Syrien besetzt hält. Man werde nicht zusehen, wie die Islamisten der HTS die Drusen niedermachten, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kürzlich – und wies seine Armee an, notfalls auf Seite der Minderheit in den Kampf zu ziehen. Die angespannte Lage in den Drusengebieten ist eine von vielen Zerreissproben, die sich dem neuen Syrien stellen.
Dass die Drusen im Zentrum dieser Entwicklung stehen, ist keine Überraschung. Die Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft, die sich im 11. Jahrhundert von der schiitischen Sekte der Ismailiten abgespalten hatte, sind in der Geschichte des Nahen Ostens immer wieder zwischen die Fronten geraten. Über mehrere Länder verteilt lebend, schwanken sie zwischen Rebellion, Anpassung und Pragmatismus.
In Israel paktierten die Drusen von Anfang an mit den jüdischen Staatsgründern, dienen seither im Militär und gelten als loyale Bürger. Im benachbarten Libanon schufen sie unter der Führung des Jumblatt-Familienclans während des Bürgerkriegs einen separaten Kanton mit eigener Miliz und wechseln je nach politischer Grosswetterlage die Seiten. In Jordanien sind sie – wie etwa der eloquente Aussenminister Ayman Safawi – treue Diener des haschemitischen Königs.
«Wir haben uns selbst befreit»
In Syrien standen die Drusen wie alle Einwohner lange Zeit unter der Knute der Asad-Dynastie, die das Land mehr als fünf Jahrzehnte beherrschte. «Trotzdem haben wir uns aber immer eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt», sagt Muhsina al-Muheithawi in ihrem schlicht eingerichteten Wohnzimmer am Stadtrand von Suweida, wo sie Süssigkeiten und Kaffee serviert. «Die werden wir uns von den neuen Machthabern nicht nehmen lassen.»
Die 54-jährige Verwaltungsangestellte war im Dezember von den neuen Machthabern als Gouverneurin von Suweida nominiert worden. Bislang hat sie ihr Amt noch nicht angetreten. Dass aber ausgerechnet zum ersten Mal in Syrien eine Frau für ein solches Amt ausgesucht wurde, zeigt, dass die Dinge in den Drusengebieten anders laufen. «Bei uns waren die Frauen immer Teil der Gesellschaft. Sie arbeiteten auf den Feldern und gingen zur Schule», sagt Muheithawi.
Für ihren Eigensinn zahlten die syrischen Drusen jedoch stets einen hohen Preis. Während Jahrhunderten wurden sie von den sunnitischen Machthabern in Damaskus verfolgt. Später erkämpften sie sich zeitweise eine Art De-facto-Staat. Nach der Unabhängigkeit Syriens 1946 war damit allerdings Schluss. Mit brutaler Härte unterwarf die stramm arabisch-nationalistisch ausgerichtete Staatsmacht die aufmüpfigen Bergbewohner.
Als 2011 der Aufstand gegen Bashar al-Asad losbrach, hielten sich die Drusen zunächst zurück. Später mussten sie sich gegen Angriffe des islamischen Staates zur Wehr setzen. In der Endphase der Asad-Herrschaft erhoben sie sich dann doch noch. In den letzten Jahren vor dem Sturz des Regimes hatten Asads Schergen in Suweida kaum mehr etwas zu melden. Dauernd kam es zu Protesten. «Am Ende haben wir uns selbst befreit, ohne fremde Hilfe», sagt Muheithawi.
Israels Teile-und-herrsche-Politik birgt Risiken
Im Dezember hatte die neue Regierung in Damaskus mit Mustafa al-Bakur einen Verwalter für die Übergangszeit nach Suweida geschickt. Bei einem Besuch der NZZ Mitte Januar sitzt der aus Idlib stammende Funktionär mit Salafistenbart selbstbewusst im Gouverneurspalast und stempelt Dokumente ab. Die Bewaffneten vor seinem Büro gehören jedoch nicht etwa zur HTS, sondern zu den lokalen Milizen. Das Verhältnis zur Bevölkerung sei gut, sagte Bakur damals.
Inzwischen sind die Fronten jedoch verhärtet. Der Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa, der auch wegen der jüngsten Aufstände von Asad-Loyalisten in den Küstenprovinzen unter Druck steht, weiss ganz genau, dass er die unzähligen selbständigen Milizen im Land entwaffnen muss, wenn er die Kontrolle nicht verlieren will. Mit dem angeblichen Abkommen mit den Drusen scheint ihm das hier zumindest auf dem Papier gelungen zu sein. Viel ausrichten kann er in Suweida jedoch nicht. Da sich die Israeli als Beschützer der syrischen Drusen aufspielen, sind ihm die Hände gebunden.
Man werde keine HTS-Truppen südlich von Damaskus akzeptieren, sagte Netanyahu kürzlich. Israel setzt darauf, bei der Minderheit Verbündete zu gewinnen und so die neue Regierung in Damaskus zu schwächen. Demnächst sollen syrische Drusen in einem Pilotprojekt gar als Arbeitskräfte nach Israel geholt werden. Aber diese Teile-und-herrsche-Politik in der Nachbarschaft birgt Risiken. Sie hat sich schon einmal als fatal erwiesen: In den 1970er und 1980er Jahren unterstützten die Israeli die Christen in Libanon – und blieben daraufhin selbst im Sumpf des blutigen Bürgerkriegs stecken.
Die syrischen Drusen stehen der ungefragten Waffenhilfe aus dem jüdischen Staat bis anhin eher ablehnend gegenüber. Zwar gab es teilweise Zuspruch. Die einflussreichen Führer der Gemeinschaft betonen aber immer wieder, dass sie sich nicht abspalten möchten. «Wir wollen uns zwar um unsere eigenen Belange kümmern», sagt auch ein Mann auf dem Marktplatz von Suweida. «Aber wir sind trotzdem Syrer.»