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Der Terrorangriff vom Freitagabend in Russland ist nur der letzte in einer langen Reihe seit 1999. Putin nutzte sie oft für den autoritären Umbau des Staates. Zentral war stets die Demonstration von Stärke.
Wenn es einen Satz gibt, der Wladimir Putin noch vor seiner Präsidentschaft berühmt machte, war es dieser: «Wir werden die Terroristen überall verfolgen», sagte der damalige Regierungschef im Oktober 1999, kurz nachdem er den zweiten Tschetschenienkrieg begonnen hatte. «Das heisst auch, dass wir sie im Scheisshaus abmurksen.» Die grobe, harte Sprache des zuvor blassen Geheimdienstlers kam an in der Bevölkerung. Putin signalisierte ihr damit, dass er Russland führen und beschützen werde – und dabei auch nicht vor Gewalt zurückschreckte.
Krieg und Terroranschläge sind seither Konstanten des Putin-Regimes. Die Anschläge waren oft politische Wendepunkte, auch der brutale Terrorangriff vom Freitag mit offiziell 133 Toten wird eine heftige politische Reaktion auslösen, wenn der erste Schock vorbei ist. Im Selbstverständnis des Präsidenten muss er Härte zeigen, egal, ob die Feinde aus dem Kaukasus, dem Nahen Osten oder der Ukraine stammen.
Putins harte Hand in Tschetschenien
Als der damals 47-Jährige am 31. Dezember 1999 Präsident wurde, übernahm er Russland in einer tiefen Krise. Putins Versprechen, sein Land werde sich «von den Knien erheben», bezog sich auf dessen weltpolitische Schwäche, aber auch spezifisch auf den Konflikt in Tschetschenien: Der erste Krieg gegen die dortigen Separatisten in den neunziger Jahren hatte mit einem Waffenstillstand geendet, den Moskau als erniedrigend empfand. Im Oktober 1999 marschierten die Truppen erneut ein.
Militärisch gab es dafür durchaus Gründe, da tschetschenische Freischärler immer wieder russische Soldaten in den Nachbarrepubliken töteten. Doch erst eine Reihe von Bombenanschlägen gegen Wohnhäuser in drei russischen Städten mit über 300 Opfern überzeugte die gleichgültige Bevölkerung, dass ein neuer Krieg unvermeidlich sei. Die Regierung beschuldigte rasch die Tschetschenen.
Eine Untersuchung fand allerdings erst drei Jahre später statt. Diese machte zwei obskure wahhabitische Gruppierungen aus dem Nordkaukasus verantwortlich. In- und ausländische Aktivisten, unter anderen der ehemalige Agent Alexander Litwinenko und die Journalistin Anna Politkowskaja, beide später ermordet, sahen die Anschläge aber als das Werk des Geheimdienstes FSB. Unabhängig aufgeklärt wurden Terrorangriffe in Russland seither nur selten.
Dies gilt auch für die äusserst opferreichen Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und in einer Schule in der nordossetischen Ortschaft Beslan 2004. Die Täter waren radikale tschetschenische Separatisten, die teilweise auch bereit waren, als Selbstmordattentäter zu sterben. In der Hauptstadt brachten sie 850 Menschen in ihre Gewalt, in Nordossetien sogar über 1000.
Brutaler «Krieg gegen den Terror»
Und doch waren die von Putin befohlenen brutalen Befreiungsaktionen ein massgeblicher Grund dafür, dass gesamthaft am Ende über 500 Menschen tot waren, unter ihnen 186 Beslaner Kinder. Die Sicherheitskräfte stürmten die Schule mit Panzern, Kampfhelikoptern und schweren Waffen. Im Theater setzten sie ein Schlafgas auf Fentanyl-Basis ein. Dessen Wirkung tötete neben vielen Terroristen 132 Geiseln, auch, weil die Rettungskräfte nichts vom Einsatz des geheimen Stoffs wussten. Putins Popularität stieg dennoch auf 83 Prozent.
Der Präsident nutzte die beiden Anschläge, um unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung seine Machtbefugnisse stark auszubauen. Als Verbündeter Washingtons im globalen «Krieg gegen den Terror» konnte er dabei auf internationale Unterstützung zählen. Unmittelbar nach Beslan beschleunigte er den autoritären Umbau Russlands. So liess er in der Duma Gesetze verabschieden, welche die relativ lose kontrollierten Regionen seiner sogenannten Machtvertikale in Moskau unterstellten.
Dies galt auch für Tschetschenien, wo Putins Statthalter Ramsan Kadyrow seit 2007 für Friedhofsruhe sorgt. Zu Terrorattacken kommt es dort nur noch vereinzelt. Doch der Nordkaukasus bleibt ein Unruheherd, über den in den letzten eineinhalb Jahrzehnten neue terroristische Gefahren auf Russland überschwappten. Zwischen 2010 und 2017 gab es mehrere Anschläge auf Metrostationen, Busse und Flughäfen in Moskau, St. Petersburg und Wolgograd mit gesamthaft weit über 100 Toten.
Viele der Täter kamen aus dem Nordkaukasus. Nun aber liessen sie sich von internationalen Terrororganisationen rekrutieren. Diese fanden in der verarmten Region mit ihrer gewalttätigen jüngsten Geschichte Männer und «schwarze Witwen» von getöteten Kämpfern, die bereit waren, für ihren Hass auf Russland massenhaft unschuldige Menschen umzubringen.
Russland im Visier des IS
Mit der Militärintervention in Syrien 2015 und der Unterstützung des Diktators Bashar al-Asad gegen Oppositionskräfte und Islamisten wurde Moskau vermehrt zum Ziel des Islamischen Staates (IS). Im November des gleichen Jahres bekannte sich dieser zu einem Bombenanschlag auf ein russisches Flugzeug, das in Ägypten gestartet war. Als Begründung nannten die Terroristen Putins Luftangriffe gegen Jihadisten.
In dem Masse, wie der IS in den arabischen Stammlanden geschwächt wurde, hat er laut Experten seine Aktivitäten verschoben. Das in der Nacht auf Samstag aufgetauchte Bekennerschreiben für den Anschlag in Moskau stammt, so es denn echt ist, vom IS Khorasan. Dieser Ableger ist seit 2018 vor allem in Afghanistan tätig. Laut der Zeitschrift «Foreign Policy» fokussiert die Gruppe ihre Rhetorik seit zwei Jahren verstärkt auf Russland. Dem Putin-Regime wirft sie vor, durch seine Politik der vergangenen Jahrzehnte viel muslimisches Blut an den Händen zu haben.
Laut den Autoren sieht der IS Khorasan Russland durch die Invasion in der Ukraine als geschwächt, was Anschläge wahrscheinlicher mache. Sollte sich dessen Täterschaft erhärten, zeigte dies, dass der Terrorismus in Russland mit dem Angriffskrieg gegen das Nachbarland zusammenhängt.
Vielmehr jedoch demonstrieren die letzten 25 Jahre, dass Putin die Mischung aus Staatspropaganda und Verschwörungstheorien, die Terrorattacken in Russland stets umgibt, für seine Zwecke nutzte. Er weiss, dass sein politisches Überleben auch davon abhängt, gnadenlos durchzugreifen und seine Reaktion als alternativlos darzustellen.
Auch beim Anschlag vom Freitag wird möglicherweise nicht entscheidend sein, wer dahintersteht, sondern, wen Moskau dafür verantwortlich macht. Bei seiner Ansprache am Samstag äusserte sich Putin diesbezüglich zwar zurückhaltend, betonte aber, die Ukraine habe den Tätern die Grenze öffnen wollen, damit sie bei ihr Zuflucht fänden. Dies passt zur seit einigen Jahren wiederholten Erzählung, wonach der Westen bereits früher Terroristen aus dem Nordkaukasus unterstützt habe, um Russland zu schwächen. Sollten sich die Russen dafür entscheiden, Kiew als Drahtzieher darzustellen, wird dies auch auf dem Schlachtfeld Folgen haben.