Susana Vera / Reuters
Letur war das erste Dorf, das von den Wassermassen zerstört wurde, die am Dienstag im Südosten Spaniens niedergingen. Die Bewohner des Bergortes sind überzeugt, dass die Todesopfer hätten überleben können, wären sie eindringlicher gewarnt worden.
Esperanza Martínez steht etwa zwanzig Meter entfernt von ihrem ehemaligen Haus in der Altstadt von Letur, sie hat Tränen in den Augen. «Ich stand auf meinem Balkon, als gigantische Wassermassen von oben herunterbrachen.» Der Bergbach, der das Dorf in zwei Hälften teilt, hatte sich am vergangenen Dienstag binnen Sekunden in einen todbringenden Strom verwandelt. Es war 13 Uhr 30, als die erste von drei Flutwellen Letur erreichte.
Jonathan und Monica waren Nachbarn von Martínez. Die beiden Enddreissiger wohnten im Haus schräg gegenüber und riefen verzweifelt um Hilfe, als sie sahen, dass ihr Haus von tosenden Wellen umspült war. «Es gab kein Entkommen für die beiden», erzählt Martínez. Ihr Haus brach unter der Wucht der Flut, die nach den schweren Regenfällen im umliegenden Bergland urplötzlich über das Dorf hereingebrochen war, zusammen.
Vier Tage später konnten die Leichname der beiden immer noch nicht geborgen werden. Die gemeinsamen Kinder, ein Mädchen und ein Junge im Alter von drei und acht Jahren, waren zu diesem Zeitpunkt in der Schule. Das Paar zählt zu den fünf noch Vermissten in Letur. Pausenlos fahren jetzt Bagger über die Stelle, an denen ihr Haus stand, und befördern Trümmerteile aus der Altstadt.
Martínez zeigt auch auf das zerstörte Haus von Dolores, einer 92-jährigen Frau. Es hat zwei riesige Löcher an Vorder- und Rückseite, durch die das Wasser sich seinen Weg bahnte und die alte Frau in den Tod riss. Ihr Leichnam, der einen Kilometer flussabwärts gefunden wurde, ist der einzige, den man bisher in Letur bergen und identifizieren konnte. Überall im Dorf liegen auch Schlamm, Baumstämme und Äste, die von der Sierra nach unten gespült wurden. Mit schwerem Gerät werden sie nun abtransportiert.
Eine überraschende Jahrhundertflut
Letur liegt in der hübschen Sierra del Segura auf 750 Metern Höhe. Doch als der schlimmste Sturm dieses Jahrhunderts am vergangenen Dienstag die Regionen Valencia, Murcia und Kastilien-La Mancha heimgesucht hatte, gingen die Bilder aus Letur als Erstes um die Welt. Dabei hatte es in dem Ort mit seinen knapp tausend Einwohnern kaum geregnet. Aber in den umliegenden Bergen fielen in kurzer Zeit bis zu 200 Liter pro Quadratmeter. Sie ergaben die erste riesige Welle, die sich ihren Weg durch Letur bahnte, um in den unterhalb der Stadt gelegenen Fluss Segura zu münden.
Die ahnungslosen Bewohner hatten Mühe, sich vor dem mit Baumstümpfen, Ästen und Geröll beladenen Sturzbach in Sicherheit zu bringen, der binnen kürzester Zeit ihr Dorf erfasste. Es sollte noch Stunden dauern, bis auch die Region Valencia von heftigen Regenfällen getroffen wurde. Dort werden inzwischen mehr als 200 Todesopfer beklagt.
Im Vergleich dazu ist Leturs Bevölkerung glimpflich davongekommen. Aber der Schrecken war nach der ersten Welle nicht vorbei. Zwei weitere grosse Wogen folgten, eine etwa um 14 Uhr 30 und eine letzte abends um 20 Uhr. Sie waren weniger zerstörerisch, aber die Bewohner waren davor ebenso wenig gewarnt worden wie vor der ersten.
Leturs Bürgermeister Sergio Marín steht auf einer Brücke, von der man auf die zerstörte Altstadt sieht. «Wir lassen niemanden mehr hinein, denn nach allem, was passiert ist, sind die Häuser strukturell beschädigt, die meisten sind vermutlich einsturzgefährdet», sagt er. Man habe alle Leute aus den gefährdeten Bereichen der Altstadt evakuiert. Mitglieder der Guardia Civil und der Armee wachen darüber, dass Maríns Anweisungen Folge geleistet wird.
Der 29-Jährige wirkt abgekämpft und mitgenommen. Auch zwei seiner engsten Mitarbeiter sind verschwunden und vermutlich in den Fluten ertrunken. Die beiden fuhren, ohne es zu wissen, mit dem Lieferwagen des Rathauses dem Sturzbach entgegen.
Jeder denkt in diesen Tagen an die verschwundenen Dorfbewohner, die Menschen sind traumatisiert. «Wir sind ein kleiner Ort, hier kennt jeder jeden, wir wissen, wer mit wem redet und wer wann zum Bäcker geht», sagt Marín.
Das Jesuskind und Liebesbriefe gerettet
Für wenige Minuten und nur in Begleitung eines Guardia-Civil-Beamten durften die Menschen Ende der Woche in ihre Häuser zurückkehren. Esperanza Martínez hat ihre Tochter Lucia, die normalerweise in Alicante lebt, vorgeschickt. «Ich schaffe das nicht, es bricht mir das Herz, zumal ich weiss, dass ich mein Haus für immer verloren habe», sagt die 67-Jährige.
Ihre Augen leuchten, als ihre mit Tüten bepackte Tochter zurückkommt und eine grosse Jesus-Puppe unterm Arm trägt. «Sie lag im Kamin unter Schlamm», erläutert die Tochter. Esperanza Martínez nimmt die Jesus-Figur liebevoll in den Arm. «Er hat mich beschützt», sagt sie. Sie hat im Leben einige Schicksalsschläge erlitten, etwa als ihr Mann schon im Alter von nur 26 Jahren starb. Um so wichtiger ist ihr auch das Foto von der gemeinsamen Hochzeitsreise nach Ibiza, das die Tochter ebenfalls mitbrachte.
Auch eine blaue Kladde mit verschlammten Briefen vom Esperanzas erstem Mann konnte Lucia sicherstellen. «Die schrieb er mir, als er beim Militär war, ich werde jedes Blatt sorgfältig trocknen», sagt Martínez.
Traurig beobachten auch José Javier Cantel und seine Schwester Paquita das Geschehen, obwohl ihr Haus unterhalb jenem von Esperanza nur als Ferienwohnung diente. Der Lieferwagen einer Schreinerei wurde direkt an ihre Fassade geschwemmt. Zum Zeitpunkt der Flutwelle waren die beiden nicht da, und ihr Haus hat vergleichsweise wenige Schäden erlitten. Doch die beiden empfinden dies als geringen Trost. «Das Schlimmste ist, dass wir hier unser Paradies verloren haben.»
Letur wird auch als die Perle von Kastilien bezeichnet. Das liegt an seiner einzigartigen Lage und seiner pittoresken Altstadt, wo es etwa ein natürliches Schwimmbecken und einen Park im arabischen Stil gab: An dessen Stelle ist nun nur noch ein riesiges Loch und viel Schlamm. Die Besonderheit des mudejarischer Baustils hat die Folgen der Flutwelle nur noch schlimmer gemacht. José Javier Cantel erläutert: «Ein Haus stützt sich auf das andere. Wenn eines einstürzt – und sei es auch nur eine Wand –, ist dies wie ein Gebilde von Dominosteinen, das zusammenbricht, wenn einer fällt.»
Die Wut auf die Politiker ist gross
Kaum zu glauben, dass das Unglück noch grösser hätte sein können. Genau eine Woche vorher hatte in Letur eine Oldtimer-Ausstellung stattgefunden. «Da waren dreimal so viele Leute im Dorf wie am letzten Dienstag», sagt Cantel.
Das Rote Kreuz hat schnell eine provisorische Unterkunft für 60 Personen gefunden. Die Gebäude der nahe gelegenen Grundschule sind zum Einsatzzentrum für die Hilfskräfte umfunktioniert worden. Hier gibt es auch Wasser und Lebensmittel für die Bewohner der Altstadt, in der es keinen Strom und fliessend Wasser gibt.
Lourdes Corales, eine Lehrerin aus dem nahe gelegen Ort Socovos, ist gekommen, um zu helfen. «Es ist alles so traurig, dieser Ort ist mit Abstand der schönste in der Region.» Sie ist empört, dass die Bevölkerung nicht rechtzeitig gewarnt worden ist. Denn der staatliche Wetterdienst Aemet hatte zwei Tage vor der Katastrophe grosse Regenfälle vorhergesagt. Corales ist überzeugt, dass man Menschenleben hätte retten können.
«Wie sollten die Bewohner denn ahnen, dass so etwas passieren konnte», hält ihr ein anderer Helfer entgegen. Letztmals sei der Letur-Bach vor achtzig Jahren über die Ufer getreten, daran erinnert sich heute niemand mehr.
Corales ist wie viele im Dorf wütend auf die Politiker, die sich nur um ihre eigenen Belange kümmerten, zum Fototermin erschienen und dann schnell wieder verschwanden. «Bei allen Katastrophen der letzten Jahre in Spanien, sei es beim Vulkanausbruch auf der Insel La Palma oder wo auch immer, haben wir gesehen, dass die Betroffenen schon ein paar Wochen später in Vergessenheit geraten.»
Corales grösste Freude ist, dass sie jeden Tag zwei alten Schwestern im Alter von 92 und 94 Jahren Essen bringen kann. Die beiden haben sich den Aufforderungen der Behörden widersetzt und sind in der Altstadt verblieben. Corales äussert Verständnis: In diesem Alter könne man die Leute nicht einfach verpflanzen. «Die beiden leben direkt neben der Kirche, und die ist völlig intakt.»
Dass das gotische Gotteshaus aus dem 15. und 16. Jahrhundert die Sturzfluten unbeschadet überstanden hat, weil diese rechtzeitig eine andere Biegung nahmen, freut auch Esperanza Martínez, die unentwegt ihr Jesuskind streichelt. «Es spricht doch einiges dafür, dass wir zumindest hier in Letur göttlichen Beistand hatten.»