2021 erschoss die Polizei einen mit einem Messer bewaffneten Schweizer im Bahnhof Morges. Das sei Notwehr gewesen, sagt die Staatsanwaltschaft. Für die Kläger bleiben viele Fragen offen.
Am letzten Montag des August 2021 fährt der Zürcher Roger Wilhelm, bekannt unter dem Namen Nzoy, mit dem Zug in die Westschweiz. Aus unbekannten Gründen steigt er in Morges bei Lausanne aus. Wilhelm hat psychische Probleme, hält sich lange auf einem Perron auf. Der laut seiner Schwester gläubige Christ betet, dann steigt er hinab auf ein Gleis.
Ein Bahnmitarbeiter fürchtet, dass Wilhelm sich vor einen Zug werfen will. Er fordert per Notruf Hilfe an und kann Wilhelm zunächst beruhigen. Vier Polizisten eilen auf das Perron. Wilhelm erhebt sich vom Gleis, steigt zurück auf das Perron und geht schnellen Schrittes auf einen Polizisten zu. Er trägt ein Messer.
Der Polizist weicht zurück, schiesst zwei Mal. Wilhelm geht zu Boden, steht wieder auf, geht erneut auf den Polizisten los. Der Beamte schiesst ein drittes Mal. Wilhelm geht definitiv zu Boden. Bis auf Atembewegungen rührt er sich nicht mehr.
Erste Hilfe leisten die Polizisten nicht
Die Polizisten legen ihm Handschellen an, entfernen einen Gegenstand, offenbar das Messer. Erste Hilfe leisten sie nicht. Das tut erst Minuten später eine Fachperson. Wilhelm stirbt auf dem Perron. Hat die Polizei richtig gehandelt?
Diese Woche ist Bewegung in den Fall gekommen, der wegen der Polizeigewalt gegen einen Schwarzen auch international Aufsehen erregte. Am Dienstag stellte die Waadtländer Staatsanwaltschaft ihr Verfahren ein, wie sie es vor einem Jahr in Aussicht gestellt hatte. Am Mittwoch veröffentlichte der Westschweizer Rundfunk RTS Details zur Einstellungsbegründung. Und für diesen Freitag ruft das Unterstützungskomitee Justice4Nzoy zu einer Demonstration in Zürich auf, für kommende Woche auch in Lausanne.
Die Staatsanwaltschaft sagt, der schiessende Polizist habe aus Notwehr gehandelt. Der Beamte sei mit einem potenziell tödlichen Angriff konfrontiert gewesen, zitiert RTS aus der Einstellungsverfügung. Der Polizist habe sich vom Angreifer wegbewegt, diesen gewarnt und damit «scheinbar» alle angemessenen Massnahmen ergriffen, um Schüsse zu verhindern. Erst im letzten Moment habe er geschossen.
Der Anwalt von Wilhelms Familie sieht das ganz anders. Generell sei es nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft, «über einen Notwehr-Fall wie diesen zu entscheiden», sagt Ludovic Tirelli. «Es stellen sich viele Fragen.» Die müsse ein Gericht klären.
Als fragwürdige Punkte nennt Tirelli «das Vorliegen einer Bedrohung, die Wahrnehmung einer Bedrohung und Alternativen zum Umgang mit dieser Bedrohung». Konkreter will er im Gespräch nicht werden – die Argumente hebe er sich für den Einspruch vor dem Kantonsgericht auf.
Staatsanwaltschaft nutzt Rekonstruktion einer NGO
Die Staatsanwaltschaft betont in ihrer Mitteilung vom Dienstag, dass sie eine Rekonstruktion des Geschehens in Morges durch die Genfer NGO Border Forensics gesichtet und teilweise für ihre Untersuchung genutzt habe. Der Anwalt Tirelli kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft nur bestimmte Elemente des NGO-Berichts berücksichtigt habe und andere ignoriere.
Border Forensics kam vor einem Jahr anhand von Videomaterial zu dem Schluss, dass der in Handschellen auf dem Boden liegende Wilhelm keine Bedrohung mehr für die Polizisten gewesen sei und diese ihm somit erste Hilfe hätten leisten müssen.
Ein Psychologe der NGO befand gar, dass Wilhelm «in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt aggressiv» gewesen sei. Er sei gestresst gewesen und habe psychologische Hilfe benötigt. Zusammenfassend befand die NGO, Wilhelms Tod müsse im Kontext von tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze gesehen werden. Zwischen 2017 und 2021 starben in der Waadt vier schwarze Männer in den Händen der Polizei.