Die Volksinitiative für höhere AHV-Renten könnte deutlich über 50 Prozent Ja-Stimmen erreichen. 2016 erhielt eine praktisch gleiche Initiative nur 40,6 Prozent Ja. Auch andere Urnengänge der letzten Jahre deuten auf Haltungsänderungen im Volk. Was ist hier passiert?
Die Schweiz ist in Bewegung – trotz ihrem Ruf als Hort der politischen Stabilität. Die jüngste Illustration liefert die Gewerkschaftsinitiative zur Erhöhung der AHV-Renten um 8,3 Prozent. Deren Chancen stehen gut. Ein Anteil von 50 bis 60 Prozent Ja-Stimmen wäre keine Überraschung.
Damit bahnt sich ein für Schweizer Verhältnisse grosser Sprung an: 2016 hatte eine praktisch gleiche Gewerkschaftsinitiative (Rentenerhöhung um 10 Prozent) an der Urne nur 40,6 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Frühere Volksinitiativen für einen massiven AHV-Ausbau waren in den Jahren 2000 und 2008 ebenfalls durchgefallen.
Linke Volksinitiativen hatten es in der Vergangenheit meist schwer. So scheiterten in den letzten Jahrzehnten unter anderem Vorstösse für die 36-Stunden-Arbeitswoche, ein Minimum von sechs Wochen bezahlten Ferien, ein nationaler Mindestlohn, ein Lohndeckel, höhere Steuern für Gutverdiener und eine staatliche Einheitskrankenkasse. In einer Auswahl von zwanzig Urnengängen von 2000 bis 2016 stiessen wirtschaftsrelevante Volksinitiativen von zumeist linker Herkunft im Mittel auf fast zwei Drittel Ablehnung.
Plötzlich Erfolg mit Initiativen
Doch linke Volksinitiativen können heute mit erhöhten Erfolgschancen rechnen. «Der Durchbruch für die Linke kam mit der Konzernverantwortungsinitiative, die (2020) eine Volksmehrheit erhielt», sagt der Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut GfS Bern: «Seither kamen mit der Pflegeinitiative und der Initiative zur Einschränkung der Tabakwerbung weitere Erfolge hinzu.»
Mit der Volksinitiative für höhere AHV-Renten ist nun für die Linke ein besonders handfester Erfolg nahe gerückt: Es geht um den Ausbau der versteckten staatlichen Umverteilung um etwa 5 Milliarden Franken pro Jahr. Ein ähnliches Kaliber verspricht die SP-Initiative zum Ausbau der staatlichen Verbilligung der Krankenkassenprämien zu werden, die diesen Juni an die Urne kommt. Auch dieser Vorstoss hat gute Chancen.
In den letzten Jahren war die Linke an der Urne zudem mit diversen Referenden erfolgreich. Erfolge mit milliardenteuren Volksinitiativen wären allerdings ein ganz anderes Kaliber.
Verschiebung nach links
Stossen Rufe nach mehr staatlicher Umverteilung und Regulierung heute auf mehr Resonanz als früher? Nebst den erwähnten Beispielen deuteten in jüngerer Zeit auch Parlamentsbeschlüsse zu Vorlagen wie Vaterschaftsurlaub, Lohnkontrollen in den Betrieben und Frauenquoten auf den Chefetagen in diese Richtung.
Die Wahlergebnisse für das Bundesparlament zeigen allerdings kein klares Bild. So kamen die Linksparteien bei den Nationalratswahlen in den letzten dreissig Jahren jeweils auf Stimmenanteile von etwa 27 bis 31 Prozent, und dies ohne klaren Trend. Anders sieht das Bild aus, wenn man die Grünliberalen (die gemäss NZZ-Parlamentarier-Rating eher links von der Mitte anzusiedeln sind) zu den Linksparteien zählt.
Eine politische Verschiebung ist auch bei stabilen Parteienstärken möglich, wenn sich die Parteien selber verändern. Eine Analyse des Instituts Sotomo mit einem Vergleich der Perioden 2011 bis 2016 und 2017 bis 2022 aufgrund von Volksabstimmungen lässt mutmassen, dass sich die Schweizer Bevölkerung und zum Teil auch die politischen Parteien nach links verschoben haben. Die Parteiverschiebungen betreffen vor allem die im Parlament entscheidende Mitte.
Problem der Glaubwürdigkeit
Was hat sich in den Bäuchen der Stimmbürger verändert? Rückfragen bei Politologen, Kommunikationsspezialisten und sonstigen Politikbeobachtern fördern manche Thesen zutage, aber kein schlüssiges Bild. Eine Botschaft ist allerdings von fast allen Befragten zu hören: Die Wirtschaftsverbände haben im breiten Publikum an Glaubwürdigkeit verloren. Der Politologe Lukas Golder spricht von einer «Entfremdung der Wirtschaft, vor allem der grossen internationalen Unternehmen». Die jährlichen Befragungen des GfS Bern zum Vertrauen in die Institutionen zeigen einen rückläufigen Trend des Vertrauens in die Unternehmen (vgl. Grafik).
Eine Folge davon laut Golder: «In der Vergangenheit war bei potenziell teuren Volksinitiativen die Gegenkampagne der Wirtschaftsverbände wirksam – mit dem Hinweis auf die Kosten und mit der Grundbotschaft, dass der Staat ein Interesse an attraktiven Rahmenbedingungen für die Wirtschaft hat. Die Wirksamkeit solcher Gegenargumente hat abgenommen.» Ein Faktor sind gemäss Golder auch die professionelleren Kampagnen der Linken.
Abgekoppelt von Heimatscholle
Verschiedene Wahrnehmungen können bei der mutmasslichen «Entfremdung» eine Rolle spielen. Zum Beispiel: die Präsenz vieler Ausländer auf den Chefetagen und im Aktionariat der grossen «Schweizer» Konzerne; die Mutmassung, dass der wirtschaftliche Erfolg dieser Konzerne vom Erfolg der Schweiz zunehmend abgekoppelt sei; der Mangel an Geschlossenheit innerhalb des Unternehmenssektors etwa in der Europafrage; das nach wie vor breite Unverständnis gegenüber Löhnen von drei, fünf oder zehn Millionen auf den Chefetagen der grössten Konzerne; und das mit der CS-Krise wieder virulent gewordene Sonderproblem der staatlichen Subventionen für Grossbanken.
Die politische Brisanz des Cheflohnproblems ist seit dem klaren Volks-Ja von 2013 zur «Abzocker-Initiative» zurückgegangen. Doch noch immer dürfte das Unverständnis über Millionenbezüge von Angestellten stark verbreitet sein und einen wesentlichen Teil jenes Humus bilden, auf dem linke Initiativen und Referenden gedeihen können.
Dass der Novartis-Chef für seine Arbeit 2023 rund 16 Millionen Franken erhielt, könnte man aus einem gewissen Blickwinkel begrüssen, weil dies für den Staat einschliesslich der AHV hohe Steuereinnahmen verspricht. Doch eine gegenteilige Gefühlslage dürfte weit stärker verbreitet sein. Ein möglicher Ansatz: Wegen solcher «Abzockerei» seien die Medikamentenpreise und damit auch die Krankenkassenprämien viel zu hoch – deshalb müsse der Staat hier eingreifen.
Und wenn auch noch Eskapaden wie jene des früheren Novartis-Chefs Daniel Vasella mit seinem fingierten Wohnsitzwechsel ins steuergünstige Monaco hinzukommen, ist das der schönste Steilpass für Populisten.
Soll der Staat alles richten?
«Das Wohlstandsgefälle zwischen Reich und Arm ist in der Schweiz zu gross.» In einer Umfrage von 2023 durch GfS Bern bei fast 58 000 Personen im Auftrag der SRG zeigten sich 45 Prozent der Befragten «voll» einverstanden mit diesem Satz, und weitere 36 Prozent waren «eher» einverstanden. Das gibt einen Hinweis auf die Gefühlslagen des Momentes. Allerdings sind solche Umfragen mit grosser Vorsicht zu geniessen, weil der Kontext und die Formulierungen die Antworten schon grossenteils vorwegnehmen können. So stiess in der gleichen Umfrage auch folgender Satz auf verbreitete Zustimmung: «Die Menschen in der Schweiz müssen mehr Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, statt sich darauf zu verlassen, dass der Staat alles für sie regelt.» 32 Prozent zeigten sich «voll» einverstanden, und weitere 38 Prozent waren «eher» einverstanden. Doch der politische Trend scheint genau in die Gegenrichtung zu laufen.
Manche Beobachter mutmassen, dass die Pandemie diesen Trend verstärkt hat. Der Staat hatte plötzlich in kurzer Zeit zweistellige Milliardensummen zur Unterstützung von Betrieben und Erwerbstätigen aufgeworfen. Das mag die Erwartungshaltung der Bevölkerung gegenüber dem Staat für künftige Krisen verstärkt haben.
Ein weiterer genannter Faktor ist die Wohlstandsverwöhnung. Es geht den meisten gut, man betrachtet die Wohlstandsinsel Schweiz als Naturgesetz, und die Vergrösserung des Gesamtkuchens ist weniger wichtig geworden als der Verteilungskampf. Das riecht nach Dekadenz. Im Stimmvolk war eine Grundüberzeugung früher mehrheitsfähig: Der Wohlstand fällt nicht vom Himmel – und einen Franken muss man zuerst verdienen, bevor man ihn verteilen kann. Ob diese Grundhaltung auch heute noch zum Mehrheitenprogramm gehört, ist nicht mehr so sicher.
Der Schweizer Wohlstand ist im Vergleich zu früher und im Vergleich zum Ausland enorm hoch. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – hat die Besitzstandswahrung politisch überragende Bedeutung. Wehe, die Löhne oder Renten sinken mal um 5 Prozent. Das spielt nicht zuletzt für die Europafrage eine grosse Rolle: Die Mehrheit wäre kaum bereit, für den Verzicht auf einen Vertrag mit der EU eine Einbusse bei Löhnen und Renten von zum Beispiel 5 Prozent zu akzeptieren. Das Problem der Befürworter liegt aber darin, dass niemand sagen kann, wie viel ein solcher Verzicht kosten würde.
Die Rolle des Portemonnaies
Die kommende Abstimmung über höhere AHV-Renten lässt sich auch aus einer banalen Optik betrachten: Die Mehrheit ist dafür, weil sie finanziell profitiert. Die Tendenz ist klar: Je älter jemand ist, desto stärker profitiert er und desto eher kann er die Kosten auf andere (Jüngere) abschieben. In den acht Jahren seit der letzten Abstimmung über höhere AHV-Renten ist das mittlere Alter der Stimmberechtigten um weitere zwei Jahre gewachsen (von 50 auf 52), und der Anteil der über 50-jährigen Stimmberechtigten ist um etwa drei Prozentpunkte gestiegen. Die Alterung der Stimmbevölkerung könnte allerdings einen Sprung im Ja-Stimmen-Anteil um zehn oder mehr Prozentpunkte kaum alleine erklären.
Stimmen die Schweizer heutzutage einfach stärker mit dem Portemonnaie ab und damit ohne Rücksicht auf Verluste von anderen? Befragte Politikbeobachter orten zum Teil Hinweise für eine solche Tendenz zum Egoismus, doch schlüssig ist das Bild nicht. Eine wiederholt gehörte Mutmassung: Bei verbreiteter Wahrnehmung, dass die Leute auf den Chefetagen abkassieren, sinke die Hemmung, selber auch die hohle Hand zu machen. Manche Leserzuschriften argumentieren ähnlich. Zum Beispiel: Der Staat spreche Milliarden für den Credit-Suisse-Deal und die Ukraine, deshalb dürfte man nun vom Staat auch mehr Geld für die Renten erwarten.
Der Verweis auf Cheflöhne und unerwünschte Staatsausgaben ist eher eine Ausrede: Zu allen Zeiten findet man mutmasslich überzahlte Personen sowie Bundesausgaben, mit welchen man persönlich nicht einverstanden ist – wenn dies als Rechtfertigung reicht, selber auch die hohle Hand zu machen, könnten alle jederzeit die hohle Hand machen. Doch solche Ausreden können politisch bedeutend sein. Firmenchefs mit hohen Bezügen und die Architekten von Subventionspaketen für Grossbanken sollten sich bewusst sein, dass ihr Handeln hohe politische Kosten haben kann.
Ideologie und Geld
In der politischen Theorie zu den Abstimmungs- und Wahlmotiven der Bürger stehen vor allem drei Denkschulen im Vordergrund. Eine betont die Herkunft der Betroffenen, die bestimmt, ob man sich eher zu den Bauern, Industriearbeitern, Bürolisten, Kadern oder Unternehmern zählt. Der zweite Ansatz stellt die Ideologie (Werthaltung) ins Zentrum, die bestimmt, ob man sich eher als Linker oder Bürgerlicher sieht. Die dritte Stossrichtung stellt den Eigennutz ins Zentrum.
Alle Ansätze können Einfluss haben. Laut Politologen spielt das Portemonnaie vor allem dann eine wichtige Rolle, wenn die direkten finanziellen Folgen einer Vorlage klar sichtbar sind und rasch greifen. Die Initiative für höhere AHV-Renten ist ein Musterbeispiel. Eine Kombination von linker Ideologie (je mehr Umverteilung, desto besser) und Fokus auf das eigene Portemonnaie hat hier das Potenzial, mehr als die Hälfte der Urnengänger zu überzeugen.