Kleinere Aktien sind zeitweise unter den Buchwert gefallen. Die Anleger schwelgen in Untergangsszenarien für die Wirtschaft, doch viele Geschäftsmodelle sind solide. Solch eine Bewertung war meist eine gute Einstiegschance.
Der Leitindex Dax ist am 2. Dezember erstmals über die Marke von 20’ooo Punkten gestiegen. Doch nichts deutet auf eine allgemeine Boomstimmung für deutsche Aktien hin. Denn der Dax-Anstieg wird nur von wenigen Unternehmen verursacht, wie ein genauerer Blick auf den Index zeigen wird. Jenseits davon herrscht geradezu depressive Stimmung.
Den Gegenpol zur Dax-Spitze bilden die kleineren deutsche Aktien. Diese Nebenwerte sind derzeit ausgesprochen unbeliebt und niedrig bewertet. Das gilt sowohl relativ zur eigenen Börsenhistorie als auch im Vergleich zu grösseren Titeln und internationalen Indizes.
Anlagestratege Steven Schlegel vom Researchanbieter Aletheia Capital bringt die Stimmungslage der Investoren für Deutschland auf den Punkt: «The End of Germany» betitelte er seine Studie. Im vergangenen Monat war fast jeder einzelne Bericht und jede einzelne Nachrichtenmeldung aus Europa massiv negativ, rekapituliert er. «Die deutschen Banken geben schrecklich pessimistische Prognosen für die deutsche und die EU-Wirtschaft ab.» Doch der Stratege fügte bei seinem Studien-Titel zwei Worte hinzu: «Get long».
Die Idee hinter Schlegels Kaufempfehlung für deutsche Small Caps: In den Jahren 2003 und 2009 hätten Anleger gut gelegen, wenn sie nach dem Sturz des Index auf seinen Buchwert investiert hätten. Beide Male ist der MSCI Germany Small Cap danach kräftig gestiegen.
Der Effekt zeigt sich auch beim Leitindex Dax, sagt Jens Ehrhardt, der seit den 1970er Jahren als Vermögensverwalter aktiv ist. «Der Buchwert war in der Vergangenheit ein gutes Kaufkursniveau», urteilt der Gründer von DJE Kapital. Der Dax liegt derzeit allerdings weit über seinem Buchwert, wie die Grafik oben zeigt.
Beim vorigen Rutsch unter Buchwert wäre der Small-Cap-Index von MSCI jedoch eine nervenzehrende Investition gewesen. Nach einer kurzen Erholung ging es für die Nebenwerte erneut abwärts.
Die niedrige Bewertung der deutschen Nebenwerte ist nicht nur am Kurs-Buchwert-Verhältnis zu erkennen. Beim Blick auf das Verhältnis von Kurs und Umsatz zeigt sich die Unbeliebtheit bei den Investoren ebenfalls.
Niedrig bewertet ist nicht nur der MSCI Germany Small Cap, sondern auch der am Heimatmarkt der Deutschen Börse deutlich bekanntere Kleinwerteindex SDax.
Lediglich beim Kurs-Gewinn-Verhältnis können MSCI Germany Small Cap und SDax gut mit dem Leitindex mithalten. Investmentstratege Schlegel geht davon aus, dass viele der kleineren, teils stärker vom Heimatmarkt abhängigen Unternehmen unter der deutschen Wirtschaftsflaute und den hohen Energiekosten leiden und beim Gewinn unter dem Potenzial bleiben.
Eine Hand voll Dax-Gewinner verzerrt den Vergleich
Der Vergleich der Nebenwerte-Indizes mit dem Dax ist derzeit auch deshalb so unvorteilhaft, weil der Leitindex stark vom mächtigen Auftrieb einer Hand voll Unternehmen profitiert. Die Dax-Jahresrendite von mehr als 20% wird zu einem beträchtlichen Teil von diesen fünf Aktien hervorgebracht, die zusammen fast die Hälfte des Leitindex ausmachen. Mit Abstand grösster Index-Treiber war SAP.
Von vierzig Indexmitgliedern notieren seit Jahresanfang fast die Hälfte (17) im Minus, 15 davon mit 10% oder mehr. Zum Vergleich: Im Schweizer Leitindex haben von zwanzig Mitgliedern 2024 bisher lediglich vier an Wert verloren.
Gemessen an den Unternehmensgewinnen für 2025, die Analysten vorhersagen, ist der Dax insgesamt mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von weniger als 14 vergleichsweise niedrig bewertet. Der Swiss Market Index kommt hier auf fast 17, der S&P 500 auf 22 und der Nasdaq auf nahezu 29.
Weitgehende Einigkeit über Abstieg der deutschen Wirtschaft
Nebenwerte hatten es in den vergangenen Jahren international schwer, da die grossen Tech-Aktien die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Doch damit allein lässt sich die schwache Entwicklung der deutschen Small Caps nicht erklären. Denn die Nebenwerte aus der Bundesrepublik fallen auch im Vergleich zu Schweizer oder weltweiten Small-Cap-Indizes stark ab.
Der Grund für die niedrige Bewertung ist vermutlich das, was Schlegel in seiner Analyse beschreibt: Die weit verbreitete Meinung, dass Deutschland wirtschaftlich am Ende sei. «Die Verzweiflung ist verständlich», räumt er ein. Schliesslich stagniert die deutsche Wirtschaftsleistung seit 2019, während die der USA nach oben geschossen ist.
Wie negativ die Stimmung unter Finanzanalysten derzeit ist, zeigt der ZEW-Index. Seit 1991 befragt das Wirtschaftsforschungsinstitut dafür monatlich bis zu 300 Experten von Banken, Versicherungen und Finanzabteilungen ausgewählter Grossunternehmen nach ihren Einschätzungen und Prognosen.
Die Einschätzung der Wirtschaftslage ist auf ein Tief gefallen, dass der ZEW-Indikator nur in Krisenzeiten erreicht hat: in der europäischen Bankenkrise von 1992/1993, im Dotcom-Crash ab dem Jahr 2000, in der Finanzkrise von 2007/2008 und während der Covid-Pandemie.
Die gute Nachricht für Investoren: In der Vergangenheit blieb die Einschätzung der Wirtschaftslage nie lange auf dem Tiefstniveau. Für eine baldige Erholung spricht derzeit auch der ZEW-Indikator der Konjunkturerwartungen. Dafür beurteilen die Finanzexperten nicht die derzeitige Situation, sondern prognostizieren die künftige Entwicklung.
Was 2025 die Stimmungswende bringen könnte
Einen Auslöser für Besserung sieht der in Florida ansässige Aletheia-Capital-Analyst Schlegel in drei politischen Grossereignissen des kommenden Jahres. Donald Trump dürfte nach seinem Amtsantritt als US-Präsident ab Januar mit unternehmens- und börsenfreundlicher Politik die Märkte beflügeln und den Druck zu Veränderungen in Europa erhöhen.
Von Chinas Regierung erwartet Schlegel nach dem dortigen Frühlingsfest (29. Januar) die Verkündung weiterer Stützungsmassnahmen für die Wirtschaft. Das würde auch deutsche Unternehmen stärken, die dort Geschäfte machen. Ausserdem hofft der Stratege, dass die neue Bundesregierung Massnahmen ankündigen wird mit dem Ziel, die hohen Energiekosten in Deutschland zu senken.
Schlegel ist mit seiner Prognose einer neuen Wirtschaftspolitik in Europa nicht allein. Investmentstratege Michael Hartnett von Bank of America nennt ebenfalls die deutsche Bundestagswahl und weitere Konjunkturhilfen aus China als Katalysatoren für eine Trendwende für europäische Aktien. Hartnett erwartet aufgrund der US-Zölle eine regelrechte «politische Panik» in Europa und in Asien im zweiten Quartal 2025 mit vielen Stützungsmassnahmen. Bank of America empfiehlt daher ab dem zweiten Jahresviertel eine Investition in konjunkturabhängige europäische Titel.
JPMorgan sieht wie Bank of America im ersten Jahresviertel zunächst noch weiteres Abwärtspotenzial für europäische Aktien. Die Grossbank erkennt jedoch auch positive Faktoren: Die Bewertungen seien schon sehr tief und die Anleger hätten sich abgewandt. Einen positiven Impuls könne ausserdem die Lockerung der deutschen Schuldenbremse erzeugen, falls diese komme.
Für deutsche Nebenwerte spricht auch, dass einige der Unternehmen sich durch attraktive Geschäftsmodelle und eine starke Marktstellung auszeichnen, wie ein Blick auf die zehn nach dem Börsenwert der frei handelbaren Aktien grössten und deshalb höchstgewichteten Aktien im MSCI Germany Small Cap Index zeigt.
Wer die Top Ten des MSCI Germany Small Cap Index sind
- Das Top-Trio Tui, Freenet und Fuchs schaffte es Anfang Dezember in die Auswahl der zwanzig günstigsten Qualitätswerte in Europa, die The Market regelmässig zusammenstellt. Fuchs ist in der jüngsten Ausgabe beschrieben, TUI haben wurde in der Auswahl vom Oktober vorgestellt und Freenet in der Auswahl vom Juli.
- TAG Immobilien besitzt als Verwalter von Wohnungen in Deutschland und Polen ein relativ konjunkturresistentes Geschäftsmodell, auch wenn die Qualität des Portfolios schwächer ist als beim Branchenprimus Vonovia.
- Beim Hersteller von Pharmaverpackungen Gerresheimer dürfte die starke Nachfrage nach Abnehmpräparaten von Kunden wie dem Pharmakonzern Novo Nordisk für Wachstum sorgen.
- Redcare Pharmacy investiert seit der Einführung des elektronischen Rezepts in Deutschland stark in diesen neuen Markt.
- Beim Chemiekonzern Lanxess ist gerade Greenlight Capital eingestiegen, der Hedgefonds von David Einhorn aus New York. Und Markus Herrmann, Fondsmanager des Loys Premium Germany, sieht das Gewinnpotenzial deutlich über den zuletzt erzielten Ergebnissen.
- Aurubis sorgte am 5. Dezember für einen Kurssprung von 10%, als der Kupferhersteller eine höhere Dividende von 1.50 € verkündete statt der erwarteten Kürzung. Ausserdem erzeugen der Einstieg von Drogeriemarktmilliardär Dirk Rossmann bei Aurubis und das Übernahmeangebot von Günter Papenburg für den Stahlhersteller Salzgitter einige Kursfantasie. Denn Salzgitter hält 30% an Aurubis.
- Der Aktienkurs des Modekonzerns Hugo Boss hat sich in zwölf Monaten zeitweise halbiert, dabei zeigt das Unternehmen durchaus vielversprechende Ansätze jenseits des Stammgeschäfts mit Anzügen.
- Der Gabelstapler- und Lagertechnikhersteller Kion leidet unter der schwachen Konjunktur in Europa und China. Analysten sagen für 2025 einen Umsatzrückgang im unteren einstelligen Prozentbereich voraus. Der Aktienkurs ist auf das Niveau von 2014 zurückgefallen, dabei hat das Unternehmen Umsatz und Gewinn seither ungefährt verdoppelt.
Trotz unabstreitbarer Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft und die einzelnen Unternehmen lässt sich zusammengefasst sagen: Die Bewertung der Nebenwerteindizes auf dem Niveau des Buchwerts ist unverhältnismässig niedrig. Die Erfahrung zeigt, dass die Indizes im vergangenen Vierteljahrhundert nie lange auf diesem Level verharrten, sondern danach meist spürbar stiegen.
Auch wenn die nächste deutsche Bundesregierung die Hoffnung auf eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik enttäuschen sollte und US-Zölle die deutschen Unternehmen härter treffen als befürchtet: Die niedrige Bewertung bietet einen gewissen Puffer und sollte das Abwärtspotenzial in einem Negativszenario begrenzen.
Auf Sicht von 25 Jahren bestätigen die deutschen Daten eindrucksvoll den wissenschaftlich gut belegten Small-Cap-Effekt: Schon 1981 zeigte der Schweizer Ökonom Rolf Banz, dass kleinere Aktien eine höhere risikoadjustierte Rendite bieten.
Für Mutige sind deutsche Nebenwerte schon jetzt eine Investition. Das gilt umso mehr für kleinere Unternehmen mit starkem Geschäftsmodell und günstiger Bewertung, über die The Market immer wieder berichtet.