Der amerikanische Präsident wirkt als Beschleuniger auf dem Weg zu einer multipolaren Welt. Europa muss sich sputen, wenn es dabei eine Rolle spielen will.
Vielleicht ist das der Moment für eine Ehrenrettung. Wie scharf wurde Präsident Emmanuel Macron in den letzten Jahren getadelt, wenn er eine «strategische Autonomie» für Europa forderte! Französische Megalomanie wurde ihm vorgehalten, gaullistische Eigenbrötelei oder ganz banal: Antiamerikanismus.
Jetzt, zehn Tage nach Donald Trumps Wahlsieg und zweieinhalb Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, ist die strategische Autonomie Europas in aller Munde. Wenn nicht als Begriff, dann als Aufgabe: Wie soll Europa, wie soll die EU eigenständiger und unabhängiger ihre aussen- und sicherheitspolitischen Ziele bestimmen und durchsetzen?
Dabei war immer klar: Das bedeutet nicht Autarkie. Bündnisse wie die Nato und eine Partnerschaft mit den USA werden wichtig bleiben – und sich ändern. Im Kern geht es darum, sich aus der selbstverschuldeten Abhängigkeit, wirtschaftlich von China, sicherheitspolitisch von den USA, zu befreien.
Vier lange Jahre mit Trump stehen bevor. Dieser Präsident wird Druck auf die Europäer ausüben. Er wird Zölle erheben und das Engagement für die Verteidigung Europas (inklusive der Ukraine) reduzieren. Ob die EU der Herausforderung standhält und sich organisiert oder ob sie in verschiedene Lager auseinanderbricht, ist für die Zukunft des Kontinents von zentraler Bedeutung. Aber es ist eine offene Frage.
Ihr Zustand heute gibt wenig Anlass zur Zuversicht. «Europa kann auch sterben», sagte Macron im April an der Sorbonne. Aber das Scheitern ist nicht zwingend. Europa kann sich entscheiden, militärisch auf eigenen Füssen zu stehen und wirtschaftlich kompetitiver zu werden. Das muss das Ziel sein.
Wie ist die EU auf Trump 2 vorbereitet? Das Bild ist gemischt: Die Kommission ist besser aufgestellt als die Mitgliedstaaten, vor allem handelspolitisch. Auf diesem Feld hat die EU Macht und auch jetzt schon eine gewisse Autonomie. Sollte Trump abrupt Zölle erhöhen, wird Brüssel zurückschlagen. Die entsprechenden Produktelisten liegen vor. Und es geht diesmal nicht nur um Whisky und amerikanische Motorräder.
Es fehlt das gemeinsame Bedrohungsbild
Aber viel lieber hätte man es einvernehmlich. Das wird allerdings einen Preis haben. Für die EU wird es bedeuten, Trumps harte Haltung gegenüber China mitzutragen. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – ein China-Falke – hätte damit kein Problem. Bei den Mitgliedstaaten sieht es anders aus. Deutschland und seine Autoindustrie wollen einen Handelskrieg mit Peking unbedingt vermeiden. Anderen Ländern in Osteuropa sind dagegen gute Beziehungen zu den USA wichtiger.
Noch viel komplizierter ist die Verteidigung. Sie ist der Kernbereich der souveränen Staaten und wird von den meisten Mitgliedern eifersüchtig von der Vergemeinschaftung abgeschottet. Die europäische Armee, erstmals 1950 von Churchill vorgeschlagen, war und ist eine Fata Morgana. Auch die Rüstungsindustrien sind national organisiert. Warum lässt sich die Zersplitterung so schwer überwinden?
Es fehlt den Europäern ein gemeinsam geteiltes Bedrohungsbild. Die Angst vor Russland ist über den Kontinent ungleich verteilt: Sie nimmt von Nord nach Süd und von Ost nach West tendenziell ab. Immerhin gibt es einen Konsens, dass die Länder mehr für die Verteidigung ausgeben müssen.
Die europäischen Nato-Staaten (fast identisch mit der EU) geben zurzeit im Durchschnitt etwa 1,8 Prozent ihres Bruttosozialprodukts aus, mit steigender Tendenz. Das ist auch Trump 1 zu verdanken, der 2018 mit dem Nato-Austritt drohte, sollten die Europäer nicht mehr zahlen.
Woher soll das Geld kommen? Sparen? Gemeinsam Schulden machen? Beide Modelle sind politisch wenig aussichtsreich. Der Appell, den Gürtel enger zu schnallen, um die Armeen aufzurüsten, lässt sich ausser im Baltikum wohl nirgends durchsetzen.
Die Politik sollte diese Lehre aus dem Kalten Krieg beherzigen: «Not guns or butter, but guns and butter» – frei übersetzt: Rüstung und Rente dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wenn das Militär stärker werden soll.
«Appeaser» und Falken im Ukraine-Krieg
Da böte sich die gemeinsame Verschuldung der EU an. Kaja Kallas, vormals estnische Ministerpräsidentin und künftige Aussenbeauftragte der Union, regte genau das an. Macron hatte den Vorschlag ins Spiel gebracht, und zeitweise sympathisierten auch einige nordische Staaten damit. Aber das Vorhaben ist chancenlos. An Deutschlands Nein kommt niemand vorbei.
Jetzt hat die Kommission einen neuen Weg eröffnet: Ein Drittel des Kohäsionsfonds, der Ausgleichszahlungen innerhalb der Union, kann künftig für Verteidigung und Sicherheit ausgegeben werden. Das ist ein brillanter Schachzug. So werden laut «Financial Times» auf einen Schlag 392 Milliarden Euro für die nächsten drei Jahre frei. Das ist viel Geld und eine echte Chance, die europäische Rüstungsindustrie auszubauen und die Herstellung von Waffen und Munition zu finanzieren.
Der Lackmustest für die europäische Autonomie ist aber die Ukraine. Der russische Überfall im Februar 2022 katapultierte den Kontinent über Nacht in eine neue Epoche. Die EU hat darauf entschlossen reagiert – und nicht, wie viele befürchteten, nur mit Worten.
Sie leistet militärisch und humanitär seit Kriegsbeginn mit 161 Milliarden Euro den Löwenanteil der Hilfe an Kiew. Sie hat vier Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen und eine ganze Batterie von Wirtschaftssanktionen gegen das revanchistische Russland in Kraft gesetzt. Und: Sie hat das angegriffene Land zum Beitritt eingeladen.
Die Union gewann an Statur – doch das geschah in enger Koordination mit dem letzten Transatlantiker im Weissen Haus. Die USA unter Präsident Joe Biden trugen die militärische Hauptlast. Das alles wird bald Geschichte sein. Trump 2 wird mit Vorschlägen kommen, wie dieser Krieg schnell zu Ende gebracht werden soll. Dann wird die EU zum zweiten Mal eine historische Herausforderung annehmen müssen.
Wie gross sind die Chancen, dass sie diesen Test besteht? Wie geht sie mit einem amerikanischen Friedensplan um, der das angegriffene Land in die Knie zwingt? Die Gefahr ist gross, dass es dann zum innereuropäischen Zerwürfnis kommt.
Aufsteiger und Absteiger in Europa
«Appeaser» (wie Ungarn, die Slowakei, vielleicht Österreich und Tschechien) werden den Plan gutheissen, aber die Falken (Polen, die nordischen und baltischen Staaten) ihn ablehnen. Rafft sich dann Deutschland, die europapolitische Leerstelle in der Mitte des Kontinents, auf? Wohl kaum. Es ist unwahrscheinlich, dass die Post-Scholz-Regierung eine Führungsrolle übernehmen wird. Denn in Berlin wird wieder eine heterogene Koalition regieren. Macron wird mitreden wollen, doch sein Wort hat nicht mehr viel Gewicht.
Brüssel kann es sich nicht leisten, weiter zu warten, bis aus Berlin und Paris wieder Lebenszeichen kommen. Die Zeit drängt. Und mit Ursula von der Leyen ist eine Kommissionspräsidentin am Ruder, die mehr als ihre Vorgänger strategischen Überblick und Machtinstinkt vereint. Sie sollte jetzt die Initiative ergreifen und das deutsch-französische Vakuum mit neuen Akteuren füllen: Polen steht bereit, ebenso die nordischen Staaten, Finnland und das Baltikum.
Auch mit Dänemark und den Niederlanden kann gerechnet werden, um Russland die Stirn zu bieten. Die Wiederannäherung Londons an den Kontinent ist ebenfalls ein gutes Zeichen. So könnten in Brüssel ausgehandelte wechselnde Koalitionen von mittelgrossen und kleinen Ländern das tun, was die grossen zwei verschlafen.
Ob Viktor Orban, dem Trump wie die sprichwörtliche Kavallerie am Horizont erscheint, vom starken Mann in Washington wirklich profitiert, ist noch nicht gesagt. Es ist schon bemerkenswert, welchen Status der Ungar, Regierungschef eines 9,5-Millionen-Landes, in Trumps Umfeld geniesst.
Er verdankt dies vor allem der Tatsache, dass sein illiberales Herrschaftsmodell vielen in der Maga-Bewegung als Vorbild dient. Wenn es aber um Realpolitik geht, wird es Washington bald auffallen, dass der Ungar auch der beste Freund von Xi Jinping ist – und sein Land das Tor für chinesische Investitionen in der EU. Dann dürfte der Ton rauer werden.
Wie Macron vermag auch Orban die Zeichen der Zeit zu lesen. Nach Trumps Wahl sagte er: «Die Geschichte hat sich beschleunigt . . . Jetzt beginnt sich die Welt zu verändern.» Das bringt es gut auf den Punkt. Aber man darf sich nicht täuschen.
Trump ist nicht die Ursache für die grossen globalen Verschiebungen. Sie sind schon länger im Gang. Trump ist nur ein Katalysator, der die Aufteilung der Welt in Machtblöcke beschleunigt. Wenn Europa in der neuen Welt eine Rolle spielen will, muss es jetzt rasch handeln, um sich selber verteidigen zu können.