In der Türkei demonstrieren seit Tagen mehrere hunderttausend Menschen gegen die Inhaftierung von Ekrem Imamoglu. Er ist Istanbuls Bürgermeister und Oppositionskandidat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen.
Volker Pabst: «Er ist jemand, der Erdogan gefährlich werden kann.»
Was bedeuten die Proteste in der Türkei? Und können sie etwas bewirken?
Am Mittwoch, 19. März, wird Ekrem Imamoglu in Polizeigewahrsam genommen.
Volker Pabst: «Das hat eine solche Empörung ausgelöst im Land, dass sich noch am Abend spontan in Istanbul Tausende von Leuten versammelt haben vor dem Rathaus. Es werden immer mehr Menschen in Istanbul, aber auch in anderen Städten des Landes. In den drei grössten Städte des Landes, Istanbul, Ankara und Izmir, gilt eigentlich ein Demonstrationsverbot, aber die Leute setzen sich darüber hinweg.»
Ähnliche Szenen auch in Eskisehir, Adana und weiteren Städten, die Universitäten haben. Denn die treibende Kraft der Proteste sind Studentinnen und Studenten. Es sind die grössten Proteste gegen Erdogan seit 2013. Die sogenannten Gezi-Proteste wurden damals mit massiver Polizeigewalt niedergeschlagen.
Volker Pabst: «Und diese Niederschlagung der Proteste gilt als autoritäre Wende in Erdogans Herrschaftszeit. Heutzutage vergisst man das gerne, aber in den Anfangsjahren unter Erdogan, also in der zweiten Hälfte der nuller Jahre, da war er noch Hoffnungsträger. Die Türkei ist heute an einem anderen Ort. Die Kontrolle Erdogans über die Institution des Staates, über die Justiz, ist viel, viel stärker, als sie es damals war.»
Das zeigt auch die Verhaftung Imamoglus. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Korruption und Zusammenarbeit mit einer Terrororganisation vor.
Volker Pabst: «Die beiden Vorwürfe sind ziemlich aus der Luft gegriffen. So dass man mit einiger Sicherheit sagen kann, dass es ein politisch motiviertes Vorgehen ist. Auf die Justiz ist kein Verlass, die türkische Justiz ist stark politisiert, vor allen Dingen, wenn es um politische Fragen geht.»
Imamoglu ist für Erdogan ein ernstzunehmender Konkurrent und somit ein Dorn im Auge. Die Zustimmung, die Imamoglu in den Vorwahlen erhält, ist gross:
Volker Pabst: «Die CHP, die Partei von Imamoglu, ist sehr gross, hat mehr als anderthalb Millionen Mitglieder, die haben fast alle teilgenommen an dieser Abstimmung. Es haben aber auch nochmals 13 Millionen andere Menschen, also solche, die nicht Parteimitglieder sind, die aber ein Zeichen setzen wollten, ihre Stimme abgegeben. Insgesamt haben sich also 15 Millionen Menschen dafür ausgesprochen, dass Imamoglu Oppositionskandidat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wird. Die Türkei hat 85 Millionen Einwohner, 15 Millionen haben an einer solchen symbolischen Wahl teilgenommen. Das ist ein starkes Zeichen.»
Die Polizei geht jetzt immer heftiger gegen die Demonstranten vor. Es gibt Zusammenstösse und Verhaftungen, und es kommt zum Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern.
Volker Pabst: «Ich glaube, das Entscheidende wird sein, wie die Stimmung im Land ist, was auf der Strasse passiert. Wenn Erdogan sieht, dass sich hier die wirklich die grosse Mehrheit der Bevölkerung empört und dagegen ist, dann könnte es auch zu einem Umschwenken kommen. Es kann aber auch sein, dass in den nächsten Tagen mit noch massiverer Repression gegen die Demonstranten vorgegangen wird und dann sich die Leute trotz Empörung, Enttäuschung und Wut wieder ins Private zurückziehen, weil es ihnen einfach zu gefährlich wird.»