Im April hat die EU den nordafrikanischen Staat als sicheres Herkunftsland deklariert. Nun werden erste Folgen sichtbar: Tunesien räumt Flüchtlingslager und setzt Migranten im Niemandsland aus. Widerspruch wird nicht geduldet.
In Europa leben – das war Mohammed Sakas grosser Traum. Drei Monate lang war der 23-jährige Student aus Guinea-Bissau unterwegs, um sich bis an die tunesische Küste durchzuschlagen. Dort gelang es ihm, einen der begehrten Plätze auf einem Schmugglerboot zu ergattern. Als dieses von einem Strand nahe der Hafenstadt Sfax ablegte und aufs Mittelmeer hinausfuhr, schien Sakas Ziel in Reichweite zu sein – doch es kam anders.
«Unser Boot mit 54 Passagieren hatte schon fast internationale Gewässer erreicht, als wir von einem tunesischen Patrouillenboot abgefangen wurden», berichtet Saka, der eigentlich anders heisst, aber unerkannt bleiben möchte, am Telefon. Der junge Mann wurde nicht nach Sfax zurückgebracht, sondern landete über Algerien in der 2600 Kilometer entfernten nigrischen Grenzstadt Assamaka – in einer Gegend in der Sahara, die von algerischen Beamten auch «Ort ohne Rückkehr» genannt wird.
Abschiebungen ins Niemandsland
«Nach einer Woche in Bussen und nach unzähligen Schlägen von Beamten schlafen wir in einfachen Baracken ohne Betten und sollen nun auf eigene Faust in die Heimat zurückkehren», erzählt Saka. In Assamaka wird er von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) versorgt. Saka ist kein Einzelfall: Nach Angaben der staatlichen nigrischen Medienanstalt Radiodiffusion et Télévision du Niger (RTN) wurden allein im April etwa fünftausend Menschen von Algerien nach Niger abgeschoben.
Drei Wochen ist es her, seit die EU-Kommission eine Liste mit sieben sicheren Herkunftsländern veröffentlicht hat – dazu zählt auch Tunesien. Dieser Status ermöglicht es den europäischen Behörden, Asylanträge im Schnellverfahren abzulehnen und abgelehnte Asylbewerber umgehend in ihre Heimat abzuschieben.
Nun werden in dem nordafrikanischen Land erste Konsequenzen sichtbar: Sicherheitskräfte haben damit begonnen, die informellen Zeltstädte rund um Sfax zu zerstören, in denen seit zwei Jahren mehr als 30 000 Migranten leben. Die mehrheitlich aus Westafrika und dem Sudan stammenden Menschen waren zuvor aus ihren angemieteten Wohnungen vertrieben worden und warten in den selbstorganisierten Lagern auf die Überfahrt nach Italien.
In den vergangenen Tagen wurden 17 Lager entlang der Küste gewaltsam geräumt. Aus Plastikplanen und Holzlatten gebaute Unterkünfte wurden von Bulldozern zusammengeschoben und verbrannt, die Beamten setzten Schlagstöcke und Tränengas ein, um die Migranten tiefer in die Olivenhaine und von der Küste wegzutreiben. In vielen Fällen richteten sich die Migranten jedoch in nächster Nähe neu ein.
Parallel dazu verhindern die tunesische Nationalgarde und Küstenwache mithilfe von aus Europa gelieferten Drohnen und Fahrzeugen die meisten Abfahrten der Schmugglerboote. Auf dem Mittelmeer aufgehaltene Migranten werden nach Sfax gebracht und von dort in Bussen an die algerische oder libysche Grenze gefahren. Einige berichten der NZZ, dass sie ohne Nahrung und Wasser im Niemandsland ausgesetzt wurden und dort von libyschen oder algerischen Uniformierten übernommen und weiter südlich in die Sahara gefahren wurden.
Koordiniertes Vorgehen gegen Migranten
Vieles weist darauf hin, dass die nordafrikanischen Behörden kurz vor dem Frühjahr, für das ein sprunghafter Anstieg der ablegenden Boote erwartet wird, erstmals koordiniert gegen Migranten vorgehen. Der libysche Innenminister Imad al-Trabelsi hatte Mitte April angekündigt, die geschätzten zwei Millionen in Libyen lebenden Migranten abschieben zu wollen. «Die Lage ist ausser Kontrolle, wir verlieren die Identität unseres Landes.»
Mit ähnlichen Worten hatte Tunesiens Präsident Kais Saied schon vor zwei Jahren eine Welle der Gewalt gegen die meist aus dem frankofonen Westafrika stammenden Migranten ausgelöst, die in Tunis, Sfax oder auf Djerba als Tagelöhner in Hotels, Cafés oder auf Baustellen gearbeitet hatten. «Die Migration ist eine Verschwörung gegen die islamische und arabische Identität Nordafrikas», sagte Saied vor den Generälen und Polizeibeamten des Rats für nationale Sicherheit.
Kurz darauf kam es zu Angriffen von tunesischen Strassengangs gegen Migranten, worauf diese in die Olivenhaine bei Sfax flohen. Selbst westafrikanische Studenten der zahlreichen privaten Universitäten landeten in den ersten Tagen der pogromartigen Übergriffe für kurze Zeit im Gefängnis. Mittlerweile schlägt der Präsident zwar versöhnlichere Töne gegenüber Migranten an. Stattdessen ist nun die Opposition ins Visier der Sicherheitskräfte geraten.
Seit zwei Wochen kommt es in Tunis immer wieder zu kleineren Protesten gegen den zunehmend autokratischen Regierungsstil von Kais Saied. Die Demonstranten lehnen die zwischen der EU-Kommission, mehreren europäischen Ländern und Tunesien geschlossenen Abkommen zur Eindämmen der Migrationsströme am südlichen Mittelmeer ab. «Dieser Vertrag tötet» oder «Stoppt die koloniale Politik der EU» steht auf den Plakaten.
Kritik am brutalen Vorgehen gegen die Migranten
Anlass für die Kritik der tunesischen Zivilgesellschaft an den Migrationsabkommen mit Europa ist das brutale Vorgehen gegen die Migranten bei Sfax. Daran, dass Europa die Willkür des tunesischen Justizapparates weitgehend unkommentiert hinnimmt, hat man sich hingegen schon lange gewöhnt. Gegen die Bestechlichkeit von Gerichten, Polizeigewalt und willkürliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaften gehen Menschenrechtsaktivisten bereits seit zwölf Jahren auf die Strasse. Doch inzwischen greift der Staat immer härter durch.
Mitte April wurden vierzig wegen «Verschwörung gegen den Staat» angeklagte Journalisten, Politiker und Rechtsanwälte in einem Massenprozess zu Gefängnisstrafen zwischen 13 und 66 Jahren verurteilt. Als einer der Anwälte der Angeklagten, Ahmed Souab, das Verfahren als Farce bezeichnete, klickten auch bei ihm die Handschellen.
«Irgendjemand im Machtapparat glaubt, mit der Verurteilung wegen Bagatellen die Kritiker der politischen Elite in Angst und Schrecken zu versetzen, aber derjenige irrt», sagt ein Menschenrechtsaktivist aus Tunis. Doch schon seine Weigerung, seinen Namen in einer Schweizer Zeitung gedruckt zu sehen, zeigt, wie gut die Repression vierzehn Jahre nach dem Sturz des ehemaligen Langzeitherrschers Zine al-Abidine Ben Ali in Tunesien weiterhin funktioniert.