Der traditionsreiche US-Industriekonzern hinkt an der Börse seit Jahren hinterher. Doch nun geht es unter einem neuen CEO endlich vorwärts. Die erfolgreiche Aufspaltung von General Electric macht vor, was Investoren bei 3M erwarten könnte.
Der Turnaround ist phänomenal: Noch vor wenigen Jahren als potenzieller Konkursfall von vielen Investoren gemieden, wird General Electric (GE) heute als Paradebeispiel für die erfolgreiche Aufspaltung eines Industriekonglomerats gefeiert.
Die Aktien von GE Aerospace, dem Mutterkonzern mit dem Kerngeschäft Flugzeugturbinen, sind seit dem Tief vom September 2022 inklusive Ausschüttungen (Total Return) 330% avanciert. Der Kurs der Gesundheitssparte GE Healthcare hat seit der Abtrennung im Dezember 2022 rund 33% gewonnen, wogegen der Gesundheitssektor bloss 6% zulegen konnte. Die Titel von GE Vernova, der vormaligen Energiesparte, sind seit dem Spin-off von Ende März dieses Jahres bereits 36% vorgeprescht.
Angesichts dieser eindrücklichen Performance fragt sich, bei welchen Unternehmen am amerikanischen Aktienmarkt ebenfalls Potenzial für eine strategische Neuausrichtung im Stil von GE besteht. Einer der vielversprechendsten Kandidaten ist 3M.
Die Aktien des Traditionsunternehmens, das für Post-it-Klebezettel und Scotch-Klebstreifen weltbekannt ist, enttäuschen seit Jahren. Schwaches Wachstum und unbefriedigende Margen haben den Kurs belastet. Gemessen an der Gesamtrendite resultiert für die letzten fünf Jahre ein Minus von 12%. Der US-Leitindex S&P 500 verbucht derweil einen Gewinn von mehr als 100%.
Doch mit Blick nach vorne ist die Ausgangslage auf diesem Kursniveau interessant. Bei 3M beginnt sich einiges zu bewegen. Das Gesundheitsgeschäft, das neu unter dem Namen Solventum firmiert, wurde kürzlich an die Börse verkauft. Durch die Beilegung von zwei grossen Sammelklagen ist der Konzern bei der Bewältigung von Altlasten ein gutes Stück vorangekommen. Mit der Kürzung der Dividende hat sich ein weiterer Unsicherheitsfaktor aufgelöst. Seit Anfang Mai sorgt ein neuer CEO für frischen Wind.
Die positiven Nachrichten werden an der Börse registriert. Der Kurs von 3M hat seit Anfang März rund 10% angezogen. Diverse Analysten haben die Aktien in den vergangenen Wochen auf «Kaufen» hochgestuft. Das garantiert zwar noch keine überdurchschnittliche Performance. Die Einschätzungen sind aber zumindest ein Anzeichen dafür, dass das Interesse am Investment Case wächst.
Erste operative Fortschritte
3M legt die Zahlen zum ersten Halbjahr voraussichtlich gegen Ende Juli vor. Der Abschluss wird mit Spannung erwartet, zumal der neue CEO Bill Brown dann erstmals in der Öffentlichkeit Stellung nimmt.
Der vormalige Konzernchef des Technologie- und Rüstungsunternehmens L3Harris Technologies hat die operative Leitung Anfang Mai unternommen. Er folgt auf Michael Roman, der den Vorsitz des Verwaltungsrats übernimmt. Roman stand während eines Grossteils seiner sechsjährigen Amtszeit als CEO in der Kritik, wurde aber auch für seine Leistung während der Pandemie gelobt, als 3M die Produktion von Atemschutzmasken nach dem Ausbruch des Coronavirus rasch verdoppelte.
Der Aktienkurs reagierte auf die Ankündigung des Personalwechsels mit einem Tagesgewinn von 5%. Was die künftige Strategie anbelangt, wird Brown wohl kaum schon den grossen Wurf präsentieren. Seit sieben Wochen auf dem CEO-Posten, verschafft sich der 61-Jährige gegenwärtig ein besseres Bild über die verschiedenen Konzernbereiche mit weltweit rund 85’000 Mitarbeitenden. Dennoch könnte er bei der Ergebnispräsentation erste Anhaltspunkte geben, wohin die Reise des 1902 als Minnesota Mining and Manufacturing Company gegründeten Unternehmens geht.
An Wallstreet wird erwartet, dass Brown seine Pläne dann bald im Detail präsentieren wird. «Der neue CEO dürfte zu einem bestimmten Zeitpunkt, vermutlich bei einer Investorenpräsentation in den nächsten neun Monaten, den Kurs zur Freisetzung von Kurspotenzial vorgeben und dem Bull Case zu den Aktien damit mehr Kontur geben», meint etwa Stephen Tusa, Analyst in Diensten von JPMorgan.
Aus operativer Sicht präsentiert sich die Situation besser als auch schon. In den ersten drei Monaten des Jahres ist 3M erstmals seit vier Quartalen zu organischem Wachstum zurückgekehrt. Für 2024 soll der Umsatz mindestens stabil bleiben und bis zu 2% zunehmen. Der Konsens rechnet mit knapp 24 Mrd. $. Die operative Marge soll sich auf bereinigter Basis um 200 bis 275 Basispunkte verbessern, nachdem sie 2023 auf 18,7% lag. Unter dem Strich wird ein Gewinn pro Aktie von 6.80 bis 7.30 $ anvisiert.
Nach Geschäftsbereichen erwarten Analysten für die Sparte Safety & Industrial, die unter anderem Atemschutzmasken, Schleifmittel und Dachgranulat herstellt, einen stabilen Umsatz von 11 Mrd. $. Das entspricht annähernd der Hälfte der konzernweiten Einnahmen. Die Sparte Transportation & Electronics mit Grundstoffen für die Elektronikbranche sowie die Auto-, Luft-, und Raumfahrtindustrie soll organisch im tiefen einstelligen Prozentbereich auf 7,6 Mrd. $ expandieren. Bei der Sparte Consumer, spezialisiert auf Bürobedarf sowie Haushalts- und Gesundheitspflege, wird mit einer ähnlichen Zunahme auf 4,9 Mrd. $ gerechnet.
Erste Altlasten sind abgebaut
Der entscheidende Faktor für die weitere Kursentwicklung ist die finanzielle Verfassung der Gruppe. Ähnlich wie General Electric vor einigen Jahren, sieht sich 3M mit beträchtlichen Altlasten konfrontiert. Sie haben mit verschiedenen Rechtsklagen zu tun, deren ungewisser Ausgang bisher massgeblich für die dürftige Performance an der Börse verantwortlich gewesen ist.
Die Problematik unterteilt sich in zwei Bereiche. Erstens muss das Unternehmen für den Schaden aufkommen, den es in den USA mit der Verschmutzung von Trinkwasser durch Chemikalien verursacht hat. Zweitens hat 3M dem amerikanischen Militär Ohrstöpsel verkauft, die qualitativ mangelhaft waren und mutmasslich Gehörschäden verursacht haben.
In beiden Bereichen gibt es wesentliche Fortschritte. Am 1. April hat 3M mit Klägern aus der öffentlichen Wasserversorgung eine Einigung von 10,5 bis 12,5 Mrd. $ erzielt. Die Massenklage betreffend der Ohrstöpsel wurde am 26. März mit einer Vergleichszahlung von 5,3 Mrd. $ beigelegt. Beide Beträge werden über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstattet. Bezüglich der Trinkwasserversorgung sind drei weitere Verfahren hängig.
Wie gross die zusätzlichen Kosten für diese drei Verfahren sein werden, lässt sich schwer abschätzen. Die Unwägbarkeiten von Rechtsstreitigkeiten dieser Art haben sich beispielsweise bei den Problemen von Bayer mit dem Pflanzenschutzmittel Roundup nach der Übernahme des US-Agrarkonzerns Monsanto gezeigt.
Die Einigungen, die 3M im Frühjahr erzielt hat, geben aber immerhin ein besseres Verständnis zum möglichen Umfang weiterer Kosten. «Wir rechnen damit, dass die beiden Vergleiche rund 40% der gesamten Verbindlichkeiten ausmachen», denkt Andrew Obin, Analyst bei Bank of America. Seinen Schätzungen nach dürften die verbleibenden Kosten demnach die Bilanz des Konzerns mit 25,1 Mrd. $ belasten, wobei sich die Zahlungen in solchen Fällen typischerweise über fünfzehn bis zwanzig Jahre erstrecken.
Wie der Aktienkurs auf weitere Vergleichszahlungen reagieren wird, hängt in erster Linie von deren Umfang ab. Generell begrüssen es Investoren, wenn ein Unsicherheitsfaktor wegfällt. Was bedeutende Rechtsstreitigkeiten betrifft, ergibt sich aus historischer Betrachtung allerdings ein differenziertes Bild.
Die Aktien von Bayer/Monsanto und von Tabakkonzernen beispielsweise schnitten in den zwölf Monaten nach der Beilegung grosser Sammelklagen schlechter als der Gesamtmarkt ab. Im Gegensatz dazu performten Medikamenten-Distributoren wie McKesson, Cardinal Health und Cencora nach der Einigung im Rechtsstreit um die Opioid-Krise besser. Das Gleiche gilt für die Industriekonzerne Owens-Illinois und Sealed Air nach der Schlichtung von Asbest-Klagen.
Bilanz bleibt ein Risikofaktor
Die gute Nachricht ist, dass 3M angesichts der juristischen Verbindlichkeiten bereits Massnahmen umgesetzt hat, um die Bilanz zu stärken. Ein wichtiger Schritt in dieser Hinsicht ist die neue Ausschüttungspolitik.
Mitte Mai hat der Konzern die quartalsweise ausgezahlte Dividende von 1.51 auf 0.70 $ pro Aktie gekürzt. Dies, nachdem er die Barausschüttung zuvor während 64 Jahren unterbruchlos stetig erhöht und damit zu den prestigeträchtigen Dividenden-Aristokraten an der US-Börse gezählt hatte.
Künftig wird sich die Dividende auf 40% des adjustierten freien Cashflows belaufen. Der Analystenkonsens rechnet für das dritte und vierte Quartal mit zwei weiteren Ausschüttungen von jeweils 0.70 $, worauf sie sich ab nächstem Jahr auf 0.79 $ pro Quartal erhöhen sollen. Zum aktuellen Kurs lässt sich daraus für die nächsten zwölf Monate eine Rendite von 2,8% ableiten.
Die Kürzung der Dividende stand seit längerem im Raum. Dieses Jahr wird 3M weniger als 2 Mrd. $ an die Aktionäre auszahlen, nachdem es 2023 über 3,3 Mrd. $ waren. Der Einschnitt ist zwar nicht erfreulich, schafft aber Klarheit. Die Titel reagierten am Tag der Ankündigung denn auch positiv.
Mit der Abtrennung der Gesundheitssparte hat 3M zudem einen ersten grossen Schritt zur strategischen Neuausrichtung gemacht. Der Konzern hat aus dem Verkauf des Geschäfts an die Börse annähernd 8 Mrd. $ eingenommen. Zudem behält er einen Anteil von 19,9% an der vormaligen Tochtergesellschaft, die seit dem 1. April unter dem Namen Solventum in New York kotiert ist. Zur aktuellen Marktkapitalisierung hat die Beteiligung einen Wert von knapp 1,9 Mrd. $.
Die Ratingagentur S&P Global Ratings stuft die Kreditwürdigkeit von 3M im Nachgang des Spin-offs und der Dividendenkürzung weiterhin mit «BBB+» ein. Die Schulden des Konzerns haben damit Investmentqualität, der Ausblick bleibt jedoch negativ. «Die Bilanz von 3M hat nur ein geringes Polster, aber der robuste Cashflow sollte es dem Unternehmen ermöglichen, den Verschuldungsgrad bis 2025 auf etwa das 2,5-Fache zu senken», hält die Ratingagentur fest.
Diese Annahme deckt sich ungefähr mit den Modellen der Aktienanalysten. Ausgehend von zusätzlichen Rechtskosten von 21,5 Mrd. $ rechnet Andrew Obin von Bank of America damit, dass sich das Verhältnis von Nettoschulden zum Ebitda für dieses Jahr auf etwa 3,5 belaufen wird. Nächstes Jahr soll der Verschuldungsgrad auf das 3-Fache sinken und 2026 weiter auf das 2-Fache abnehmen.
Aktien handeln zu einem Discount
Wer in die Aktien von 3M investiert, muss damit auf ein Spektrum verschiedener Szenarien gefasst sein. Der schlimmste Fall wäre eine Verschlechterung des operativen Geschäftsgangs in Kombination mit existenzgefährdend hohen Rechtskosten. Im Optimalfall gelingt es dem neuen CEO, den Konzern zu robustem und profitablem Wachstum zu führen, während die hängigen Verfahren in einem fairen Vergleich beigelegt werden können.
Wahrscheinlich wird es zu einem Szenario kommen, das irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegt. Für ein Investment ist deshalb entscheidend, inwiefern sich die Chancen und Risiken in der Bewertung reflektieren. Anders gesagt: Ob man für die Gefahr eines negativen Szenarios einen angemessenen Discount erhält.
Der Konsens geht davon aus, dass 3M in den nächsten zwölf Monaten einen Ebitda von 6,5 Mrd. $ erwirtschaften wird. Zum Schlusskurs vom Donnerstag sind die Aktien damit zu einem Vielfachen von 10,5 bewertet. Zum Vergleich: Auf dem Allzeithoch von Anfang 2018 handelten die Titel zum Ebitda-Vielfachen von 16,6. Für den US-Leitindex S&P 500 zahlt man derzeit das 14,5-Fache; für den Industriesektor etwa gleich viel.
Interessant könnte es aber vor allem dann werden, wenn sich 3M nach dem Vorbild von General Electric für eine weitere Aufspaltung entscheidet. Das wird zwar nicht von heute auf morgen passieren, erscheint aber nicht abwegig.
Eine naheliegende Möglichkeit ist die Abtrennung der Sparte Consumer. Vergleichbare Konkurrenten wie Procter & Gamble, Colgate-Palmolive oder Clorox handeln auf Basis der Schätzungen für dieses und nächstes Jahr etwa zum 3,6-Fachen des Umsatzes respektive zum 16-Fachen des Ebitda. Das Consumer-Geschäft von 3M könnte somit knapp 18 Mrd. $ wert sein.
Im Industriesektor handeln vergleichbare Unternehmen wie Emerson Electric, Illinois Tool Works oder Rockwell Automation im Durchschnitt zum 4,7-Fachen des für 2024 bzw. 2025 geschätzten Umsatzes sowie zum 18,4-Fachen des Ebitda. Für die 3M-Sparten Safety & Industrial sowie Transportation & Electronics lässt sich daraus ein Wert von insgesamt gut 94 Mrd. $ ableiten.
Rechnet man diese beiden Teile zusammen resultiert ein Unternehmenswert von etwa 112 Mrd. $. Abzüglich Nettoschulden von 11,4 Mrd. $ und der Anrechnung der 19,9%-Beteiligung an der Gesundheitssparte Solventum ergeben sich etwa 102 Mrd. $ als Zwischensumme. Unter konservativen Annahmen kann man weiter rund 30 Mrd. $ für zusätzliche Rechtskosten abziehen. Damit landet man bei einem Marktwert von etwa 72 Mrd. $ oder 131 $ pro Aktie, was zum aktuellen Kurs einem Upside von rund 30% entspricht.
Fazit: Möglicherweise ist es noch etwas früh, und es wird hin und wieder kräftig rütteln. Doch wer die nötige Geduld aufbringt und gute Nerven hat, kann sich durchaus überlegen, eine erste Position in 3M als Beimischung des Portfolios aufzubauen. Tage, an denen der Kurs unter Druck steht, bieten eine Kaufgelegenheit.