Viele Schweizer Rentner können für die hohen Lebenshaltungskosten nicht mehr aufkommen. Daher schlagen sie ihr Lager auf Zeltplätzen auf.
Es ist später Vormittag, und Ueli guckt etwas verschlafen hinter seiner Brille hervor. Er empfängt in der obligaten Camper-Kluft, in Kapuzenpulli und Wanderschuhen. «Ich bin eher ein Uhu», sagt der 68-Jährige. Er ist abends also fitter als morgens. Gemächlich geht er voran.
Vorbei am Geräteschuppen, vorbei an der Nachbarin, die in einer Art Zirkuswagen wohnt, vorbei an der selbstgezimmerten Bar, wo die Büezer unter den Campern ihre Bierchen stürzen, was Ueli nicht stört, wo er aber nicht mitmacht, weil es ihm dann doch zu «stammtischig» ist.
Dann biegt er ein in den unscheinbaren Weg, an dem Ueli sich eingerichtet hat. Auf welchem Campingplatz im Kanton Zürich wir uns befinden, muss offenbleiben. Das gilt auch für Uelis richtigen Namen. Denn Ueli pflegt eine Wohnform, die in der Schweiz eigentlich nicht erlaubt ist.
Menschen, die in Trailerparks leben, kennt man vor allem aus den USA. Sie können sich ein festes Dach über dem Kopf schlicht nicht leisten. Auch in Deutschland ist das dauerhafte Wohnen auf Campingplätzen verbreitet, laut Schätzungen leben über 300 000 Personen auf diese Art.
Aber es gibt sie auch hierzulande. Die Rede ist nicht von Saison-Campern, die die Sommermonate gemütlich in einem Wohnmobil oder einem Zelt verbringen. Sondern von denjenigen, die den Camper zu ihrer dauerhaften Unterkunft gemacht haben. Auch dann, wenn der Platzwart das Wasser abstellt, damit die Rohre im Winter nicht bersten. Sie verharren in ihren mehr oder weniger fahrtüchtigen Behausungen, wenn die Bise um die dünnen Sperrholzwände bläst und längst keiner mehr zu Besuch kommt.
Gemeinden wollen keine neuen Sozialfälle
Die Gemeinden beäugen derlei Einwohner kritisch. Sie befürchten, dass diese ihnen dereinst finanziell auf der Tasche liegen. Die Furcht ist nicht ganz unbegründet: Vor einigen Jahren seien auch auf seinem Campingplatz «ein paar Pappenheimer» hergezogen mit dem Plan, sie könnten Sozialgelder beziehen, erzählt Ueli. Da habe die Gemeinde schleunigst die Polizeiverordnung angepasst. Seither darf hier nur noch drei Monate am Stück campiert werden.
Natürlich sind sie trotzdem das ganze Jahr über da, Ueli und die rund zwanzig anderen. Die Nachbarin vis-à-vis pendelt jeden Tag zur Arbeit, der Nachbar schräg gegenüber baut sich sein Plätzchen für Zehntausende von Franken zum Eigenheim aus. Die Baustelle sieht professionell aus, nur eben im Miniformat.
«Ich bin ein Phantom», sagt Ueli. Der Trick, wie er und seinesgleichen von den Behörden unbemerkt bleiben: Ihr Lebensmittelpunkt ist offiziell woanders. Gemeldet ist er im Aargau, er zahlt auch dort seine Steuern. Ein Freund hat ihn alibimässig in der WG aufgenommen. Seine Post erhält Ueli trotzdem woanders, nämlich postlagernd in der nächstgelegenen Filiale zum Campingplatz.
Längst wisse die Gemeinde über ihn und die anderen Bescheid, sagt Ueli, ein paar Offizielle seien einmal vorbeigekommen. Aber solange die Camper keine Forderungen stellten, gelte die Devise «leben und leben lassen».
Also hereinspaziert in die gute Stube. Zu seinem Reich gehören ein Wohnwagen und ein vom Schreiner gezimmerter Anbau. Beides ist miteinander verbunden und je drei Meter breit wie lang. Mit Dämmung versteht sich, wintertauglich eben.
Weitere Bauten: ein Vordach, bei dem Freunde mitgewerkelt haben. Ein Gartenbeet, in dem die Nachbarskatze gerade wieder markieren will. Ein kleiner gelber Briefkasten, dem der Pöstler noch nie die Aufwartung gemacht hat, aber wo die Nachbarin manchmal ein Brieflein hineinsteckt. Sowie eine rote Sitzbank, die gerade ziemlich zugestellt ist. Keine Gartenzwerge, dafür Eulen, Gänse und ein Weisskopfseeadler.
Im Innern zeugen ein überladener Schreibtisch und die mannigfaltige Lektüre im Büchergestell von breiten Interessen, die beiden behelfsmässigen Kochplatten sprechen eher für Hausmannskost. Und jetzt erst einmal Kaffee im Garten.
Es ist Mittag geworden, die Sonne brennt vom Himmel. Ueli blickt in sein Blumenbeet. «Ich bin kein Gärtner», sagt er. Und grillieren könne er auch nicht. «Das Klischee des Campers erfülle ich wohl nicht, oder?», fragt er. Genaugenommen ist es keine Frage.
Er lebt von 4000 Franken im Monat
«Gärtnern ist gesund», ruft der Nachbar Markus über den Gartenzaun. Der Mann reisst gerade eine Bierdose auf.
«Na ja, die Leute haben sicher ihre Schicksalsschläge hinter sich», sagt Ueli. Aber dem Klischee, wonach alle Dauercamper Alkoholiker oder Sozialhilfeempfänger sind, will er dann doch entgegentreten.
Alleinstehende seien es, vorwiegend Schweizer und vorwiegend Männer, sagt Ueli. Männer, wie er einer ist. Früher, in einem anderen Leben, arbeitete Ueli in der Werbung. «Ständig Termine und immer am Herumrennen.» Als dann aber seine Abteilung aufgelöst wurde, brauchte es ihn vom einen Tag auf den anderen nicht mehr. Anfang fünfzig war er da. «Ausrangiert», nennt er es.
Es folgte jener langwierige Bewerbungsmarathon, den viele über Fünfzigjährige so fürchten. Hunderte von Absagen kassierte er, zu einer Handvoll Gesprächen wurde er eingeladen, am Ende sprang nie eine Stelle heraus, dafür immer grosses Bedauern und viele gute Wünsche. Mit Mitte fünfzig kam der bittere Tag, an dem sein Abstieg ein Prädikat erhielt: «Ausgesteuert.»
Ueli machte trotzdem weiter, arbeitete freischaffend für verschiedene Medienhäuser, «als Taglöhner» sagt er. Es waren keine lukrativen Jobs, aber es gibt schlimmere. So hangelte er sich bis zur Pensionierung durch. «Ich war nie auf dem Sozialamt, ich habe nie IV bezogen», sagt er. Er sagt es nicht ohne Stolz.
Als auch noch seine Beziehung zerbrach, das Geld weniger und weniger wurde und die Decke in seiner Mietwohnung in der Zürcher Agglomeration immer näher rückte, zog er auf den Campingplatz. Vor zehn Jahren war das.
Ueli beklagt sich nicht, er gehört nicht zu jenen älteren Herrschaften. Im Gegenteil wundert man sich über seine ans Stoische grenzende Gelassenheit, mit der dieser Mann die Schläge des Schicksals empfängt.
Den Campingplatz sieht er nicht als Abstieg. Er schätze die Bedächtigkeit, die Ruhe, die Natur ringsum. «Es wird einem nicht zugetraut, dass man das freiwillig macht und Freude daran hat.» Aber genau so sei es.
Und wie kommt er über die Runden?
Er habe genügend Geld zum Leben, sagt er. Mit 4000 Franken im Monat komme er durch. Er zahlt 400 Franken Miete im Monat, insgesamt braucht er 6000 Franken im Jahr für Wohnen, Wasser und Strom. Weil seine Pensionsgelder auf einem Freizügigkeitskonto lägen, zahle er sich die Rente selber aus, bekomme deswegen aber keine Krankenkassenzulagen, erklärt er. Im Supermarkt schaut er auf Aktionen, «aber ich muss nicht haushalten, ich habe ein Auto und sogar ein Fitness-Abo».
Ueli sieht sich nicht als arm, auch wenn er als Protagonist in einem Buch vorkommt, in dem es um Arme in der Schweiz geht. «Alles hat einen immateriellen Wert, es kommt doch darauf an, was du daraus machst», sagt er. «Ein Alternativer» sei er nicht, wie er anfügt. Aber es nervt ihn, dass man immer von der reichen Schweiz spreche: «Allein im Kanton Zürich leben 120 000 Leute am oder unter dem Existenzminimum.» Darüber denkt er viel nach.
Die Nachbarn wandern nach Ungarn aus
Günstig und bescheiden wohnen ist in den urbanen Zentren der Schweiz schwierig geworden. Besonders jene, deren Einkommen sich in den untersten zwanzig Prozent bewegt, kommen mit der Tragbarkeit ihrer Wohnung an ihre Grenze, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Die Wohnkosten machen für sie ein Drittel ihres Bruttohaushaltseinkommens aus.
«Für viele sind es die Lebenshaltungskosten, die sie zwingen, nach günstigen Alternativen zu suchen», sagt Massimo Gonnella vom TCS, dem grössten Anbieter von Campingplätzen hierzulande. Für zahlreiche Rentner oder Menschen, die Schicksale hätten durchleben müssen, sei das Wohnen im Wohnwagen noch bezahlbar. Die Pandemie habe der Entwicklung zusätzlichen Schub verliehen. Der TCS schätzt, dass schweizweit zwischen einem Drittel und der Hälfte aller 400 Campingplätze mit Dauermietern belegt sind. Wie viele fix dort leben, ist allerdings unbekannt.
Dauerplätze werden zudem immer rarer, auch im Kanton Zürich. Jüngst gingen mehrere auf der Insel Lützelau im Zürichsee sowie welche beim Pfäffikersee verloren. Beim TCS weiss man von «einigen» Gemeindecampings, die ihre Plätze in den kommenden Jahren rein touristisch ausrichten möchten. Es sind trübe Aussichten für Dauercamper.
Manch einer geht da in die Offensive, wie der Nachbar Markus, der mit dem Bier. «Ungarn», erklärt der 67-Jährige selbstgewiss. «Plattensee.» Ein Bauernhaus und 4000 Quadratmeter Umschwung haben er und seine Partnerin dort gekauft. Mit 100 000 Franken sei man dabei. «Mit der AHV kommen wir hier nicht durch, in Ungarn aber feudal», sagt der selbständige Handwerker.
Die Lebenskosten beliefen sich dort auf 1500 Franken im Monat, «für beide», wie er gerne anfügt. Dazu gibt es viele deutschsprachige Auswanderer, viele Haustiere, aber nur einen direkten Nachbarn, der stören könnte. Im Mai sind sie weg.
Ueli aber wird bleiben. Er kommt ja gut über die Runden, wie er sagt, und beschäftigen kann er sich auch. Neue Nachbarn gibt es nun ebenfalls. Der Platz der Ungarn-Auswanderer ist schon wieder vergeben.