Chinas Regierung tut so, als sei in Xinjiang alles gut. Stimmt das? Eine Recherche vor Ort.
Die Gasse, in der Halida Athans drei Söhne einst gewohnt haben, führt einen kleinen Hügel hinauf. Auf der einen Seite liegen Strohballen, auf der anderen Seite stehen Paletten mit leeren Bierflaschen. Zwischen Pfützen, Schlamm und Bauschutt suchen Hühner und Schafe nach Essbarem. Menschen sind nirgendwo zu sehen. Halida Athans Söhne sind schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen, in ihrem Heimatdorf Biesituobie, denn sie sitzen im Gefängnis – weil sie regelmässig gebetet haben.
Die drei Männer sind bei weitem nicht die einzigen Muslime, die in Xinjiang wegen fragwürdiger Anschuldigungen in Umerziehungslagern und Gefängnissen eingesperrt sind. Ab dem Jahr 2014 errichtete die chinesische Regierung in der gesamten Region im Geheimen Hunderte Internierungslager. Angeblich zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wollte Peking dort Personen mit «gefährlichen Gedanken» mit teilweise rabiaten Methoden «umerziehen».
Chinas Regierung versucht einen Neustart in Xinjiang
Zeitweise waren in Xinjiang laut Schätzungen mehr als eine Million Menschen eingesperrt – hauptsächlich Angehörige uigurischer und kasachischer Minderheiten. Ins Ausland geflüchtete ehemalige Lagerinsassen berichteten später von zum Teil grauenvollen Zuständen in den Lagern bis hin zu Folter, Massenvergewaltigungen und Zwangssterilisationen.
Die Provinzregierung in Xinjiang bestreitet die Vorwürfe. «Die Ausbildungs- und Trainingszentren wurden in Übereinstimmung mit den Gesetzen in Xinjiang errichtet», teilt das Amt für auswärtige Angelegenheiten in Xinjiang auf Anfrage mit, «es sind Deradikalisierungs-Schulen.» Es gelte, Anstrengungen zu unternehmen, um die «Ausbreitung von Terrorismus und Extremismus zu bekämpfen.» Die persönliche Freiheit der Schüler sei stets garantiert, und das Programm ziele nicht auf bestimmte ethnische Gruppen ab, so das Amt für auswärtige Angelegenheiten.
Als Pekings Praxis durch Augenzeugenberichte, Satellitenbilder und die Analyse chinesischer Regierungsdokumente weltweit bekanntwurde, taufte die Regierung die Lager kurzerhand in «Ausbildungszentren» um, eine Schönfärberei, die das brutale Vorgehen gegen Uiguren und ethnische Kasachen verschleiern sollte.
Geht es nach dem Willen Pekings, ist all das sowieso Vergangenheit. Die Regierung versucht in Xinjiang derzeit einen Neustart. Die «Ausbildungszentren», so das offizielle Narrativ, gibt es nicht mehr. Stattdessen preist Peking die Region als Touristenziel und Wirtschaftsstandort mit grossem Potenzial an. Regelmässig führt die Regierung jetzt Delegationen mit Diplomaten, Journalisten und Forschern nach Xinjiang, um ihnen die scheinbar neue Normalität vorzuführen. Alle Teilnehmer der Deradikalisierungs- und Ausbildungsprogramme hätten ihre Prüfungen bestanden, erklärt das Büro für auswärtige Angelegenheiten in Xinjiang.
Die NZZ war im November auf eigene Faust in Xinjiang unterwegs. Die Regierung liess die Reporter zwar beschatten, griff aber nicht in die Recherchen ein. Das zeugt vom Selbstbewusstsein der Lokalbehörden. Was ist dran an der Erzählung der Regierung vom grossen Neustart in Xinjiang? Wie frei leben die Menschen wirklich?
Tausende Uiguren sind nach Kasachstan geflohen
Das Dorf Biesituobie, wo Halida Athans drei Söhne gelebt haben, liegt ganz im Westen der chinesischen Provinz Xinjiang, in der Nähe der Stadt Yili. Die meisten Bewohner in der Region haben kasachische Wurzeln und sind Muslime. Bis zur Grenze nach Kasachstan sind es kaum zweihundert Kilometer.
Tausende ethnische Kasachen und Uiguren sind in den vergangenen Jahren vor den Greueln der chinesischen Regierung aus Xinjiang nach Kasachstan geflohen. Viele von ihnen haben Angehörige, die zum Teil seit Jahren auf der anderen Seite der Grenze in Lagern und Gefängnissen eingesperrt sind. Manche der Exilanten treffen sich täglich zu Protestaktionen vor dem chinesischen Konsulat in Almaty, der grössten Stadt Kasachstans. Sie verlangen Gerechtigkeit für ihre Angehörigen. Drei von ihnen, die Frauen Halida Athan, Tursen Sawatkan und Irmekbay Nursat, haben wir in Almaty zum Gespräch getroffen. Ihre Geschichten sind nicht unabhängig überprüfbar, doch sie decken sich mit vielen anderen Zeugenberichten geflohener Kasachen und Uiguren.
Die 69-jährige Halida Athan ist 2015 ausgewandert und hat inzwischen die kasachische Staatsangehörigkeit. Nun will sie die Geschichte vom Verschwinden ihrer drei Söhne in Xinjiang erzählen. Vor sich trägt sie ihre Bilder.
«Ich will, dass meine Söhne nach Recht und Gesetz behandelt werden», sagt Halida Athan. «Sie haben doch nur gebetet.» Chinas Verfassung garantiert eigentlich Religionsfreiheit.
Halida Athans Söhne sind heute 44, 42 und 39 Jahre alt. Bei dem jüngsten klingelte an einem Februarmorgen im Jahr 2017 das Telefon. Die örtliche Polizei forderte den Mann auf, etwas Kleidung zusammenzupacken. Kurze Zeit später wurde er abgeholt. In einem sogenannten Ausbildungszentrum sollte er für vier Monate Chinesisch lernen. Was dort wirklich mit ihm geschah, weiss seine Mutter bis heute nicht.
Tatsächlich entliessen die Behörden den Mann nach vier Monaten. Doch die Freude währte nur kurz. Im Februar 2018 holte die Polizei ihn und seine zwei Brüder ab und brachte sie in ein nah gelegenes Lager, wieder, um Chinesisch zu lernen, wie es hiess. Seitdem hat Halida Athan nur noch über Verwandte und Freunde in Xinjiang von ihren Söhnen gehört. Ein Gericht verurteilte die drei Männer im Jahr 2018 zu Haftstrafen von fünfundzwanzig, zweiundzwanzig und zehn Jahren. Angeblich sitzen sie in verschiedenen Gefängnissen nah beieinander ein. So hat es die Mutter jedenfalls von ihren Schwiegertöchtern gehört.
Kurz nach dem Verschwinden der drei Männer holte die Polizei auch diese ab für einen «Chinesischkurs». Nach zwei Jahren kamen sie frei.
Halida Athan hofft nun jeden Tag, dass auch ihre Söhne freigelassen werden. «Ich möchte noch einmal ihre Stimmen hören, bevor ich sterbe.» Sie weint, als sie diesen Satz sagt.
Manche Lager sind verwaist, die Wachtürme unbesetzt
Es ist schwierig, sich einen genauen Überblick über die derzeitigen Zustände in Xinjiang zu verschaffen. Nach Regierungsangaben sind die Lager geschlossen; sämtliche Insassen hätten ihre Abschlussprüfungen bestanden, heisst es. Tatsächlich scheinen viele Lager stillgelegt oder umfunktioniert worden zu sein, wie eine Reihe von Vor-Ort-Besichtigungen zeigt. So blättert bei einem Lager unweit der Stadt Yili im Nordwesten von Xinjiang der Putz von den weissen Mauern, sämtliche Wachtürme sind augenscheinlich unbesetzt.
Aus einem anderen Lager etwa zweihundert Kilometer südöstlich der Provinzhauptstadt Urumqi haben die Behörden einen Parcours zur Abnahme der praktischen Fahrprüfung gemacht. So weist es jedenfalls das frisch aufgeklebte blau-weisse Schild am Eingang aus. Im Innenhof parkieren mehrere Autos einer Fahrschule. Menschen sind jedoch keine zu sehen. Das kleine Empfangshäuschen am Eingangstor ist verlassen. Ringsherum liegen Geröll und Abfall.
Anders scheint es bei einem Lager in Dabancheng zu sein, einem zu Urumqi gehörenden Bezirk im Südosten der Provinzhauptstadt. Eine Reihe vierstöckiger beigefarbener Flachbauten ist von einer massiven weissen Mauer umgeben, überzogen mit rasierklingenscharfem Stacheldraht. In jedem der Wachtürme steht jeweils ein Mann. Vor dem Haupteingang parkieren mehrere Busse. Das sind ziemlich klare Hinweise darauf, dass in dem Lager noch Menschen eingesperrt sind.
Fragt man Anwohner nach der Einrichtung, erntet man Achselzucken oder Schweigen. Ein Mann, der ein paar Strassen weiter bei eisiger Kälte Spiesse mit grilliertem Lammfleisch verkauft, sagt: «Das ist doch jetzt ein Gefängnis.» Für die Insassen dürfte es allerdings keinen grossen Unterschied machen, wenn die Regierung ehemalige Umerziehungslager jetzt als Gefängnisse etikettiert. Sie bleiben gefangen.
«Chinas Regierung versucht der Welt zurzeit ein freundliches Gesicht zu zeigen», sagt Mamet Tohte. Tohte, Direktor des Uyghurs Rights Advocacy Project, lebt in Kanada und setzt sich für Verfolgte in Xinjiang ein. Bei vielen Lagern hätten die Behörden einfach die Wachtürme entfernt, sagt Tohte, «drinnen sind aber weiterhin Menschen eingesperrt». Vor allem in kleineren Städten, dort, wo sich selten ein Tourist hinverirrt, arbeiteten die Lager wie zuvor weiter. Tohte sagt: «Die Lage abseits der grossen Städte ist sehr angespannt, und die Menschen sind verängstigt.»
Tatsächlich machen die Menschen gerade in kleineren Orten einen eingeschüchterten Eindruck. Die meisten meiden den direkten Kontakt mit den ausländischen Besuchern, oft blickt man in versteinerte Mienen. Nach den Umerziehungslagern gefragt, bekommt man stets dieselben zwei Antworten: Die Lager gebe es nicht mehr, oder diese seien jetzt «normale Gefängnisse». Es hat den Anschein, als hätten Regierungsvertreter den Menschen befohlen, auf Fragen nach den Lagern nach dem immer gleichen Schema zu antworten.
Festnahmen mit fragwürdigen Begründungen
Die Strafverfolgungsbehörden in Xinjiang nahmen und nehmen offenbar noch immer willkürlich und mit fragwürdigen Begründungen Uiguren und ethnische Kasachen fest und sperren sie in Umerziehungslager und Gefängnisse. Das zeigt die Geschichte von Tursen Sawatkan, 60, und ihrem Sohn. Auch sie ist nach Kasachstan ausgewandert. Seit 2005 lebt sie in Almaty. Ihr Sohn blieb in China. Das wurde ihm zum Verhängnis.
Am 20. Mai 2018 schickte er seiner Mutter per WeChat ein seltsames Foto. Es zeigte ein mit einem Bildbearbeitungsprogramm bläulich eingefärbtes Gesicht, das zur Hälfte von einer schwarzen Maske bedeckt ist. «Ich dachte mir gleich, dass etwas nicht stimmt», sagt Tursen Sawatkan. Wenige Tage später erfuhr sie von Freunden in Xinjiang, dass ihr damals 29-jähriger Sohn bereits im März des Jahres festgenommen worden war. Die Freunde hatten bei der örtlichen Polizei nachgefragt.
Ein Gericht verurteilte den Mann im selben Jahr zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe. Die Begründung: Er sei zu oft nach Kasachstan gereist und habe versucht, einen kasachischen Pass zu beantragen. «Jeder Mutter bricht es das Herz, wenn der Sohn ohne wirklichen Grund ins Gefängnis gesteckt wird», sagt Tursen Sawatkan.
Tursen Sawatkans Sohn hatte in Yili als sogenannter Hilfspolizist gearbeitet. In den vergangenen Jahren ernannten die Behörden in Xinjiang zahlreiche Angehörige nationaler Minderheiten zu solchen Hilfspolizisten. Damit wollten sie innerhalb der Minderheiten-Gemeinden Misstrauen und Angst säen.
Ähnliches versuchte die Lokalverwaltung mit dem Bruder von Irmekbay Nursat, einem Imam. Die 49-Jährige ist ebenfalls Teil der Exilgemeinde aus Xinjiang in Almaty. Ihr Bruder hatte eine staatliche Lizenz, die es ihm gestattete, als Imam zu lehren. Einmal war er sogar Teil einer offiziellen Delegation aus Xinjiang und reiste nach Mekka.
Vor der harten Hand der Regierung in Xinjiang hat ihn seine Anerkennung als offizieller Imam jedoch nicht bewahrt. Im Oktober 2018 holte die Polizei den 52-jährigen Mann ab. Er solle für vier Monate Chinesisch lernen, erklärten ihm die Behördenvertreter. Seitdem hat Irmekbay Nursat nichts mehr von ihrem Bruder gehört.
Einmal ist sie sogar in die Hauptstadt Kasachstans, Astana, gereist, um sich Hilfe bei der Regierung zu holen. Immerhin schickten die kasachischen Behörden eine Mitteilung an die zuständige Verwaltung in Xinjiang. Die Antwort darauf versetzte Irmekbay Nursat einen Schock: Ein Gericht habe ihren Bruder zu einer dreizehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, teilten die chinesischen Behörden ihr mit – wegen Störung der öffentlichen Ordnung.
Überwachung aus der Ferne
Generell verdächtig macht sich in den Augen chinesischer Behörden, wer in Xinjiang Kontakte ins Ausland unterhält. Wer es schafft, in Nachbarländer in Zentralasien zu fliehen, den versuchen die chinesischen Behörden noch aus der Ferne zu überwachen. So schlossen die chinesische und die kasachische Regierung im Oktober ein Abkommen über den Austausch von Informationen über in Kasachstan lebende Uiguren und ethnische Kasachen. Die Vereinbarung hat Menschenrechtsaktivisten in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
Grösste Sorgen bereiten der chinesischen Regierung aber Flüchtlinge aus Xinjiang, die es über Zentralasien in den Westen schaffen. «Denn da lernen sie, wie pluralistische und demokratische Systeme funktionieren», sagt der Aktivist Mamet Tohte in Kanada. Oftmals liessen sie sich dort zu Anwälten oder Ökonomen ausbilden, für Peking ein Graus.
Chinas Machthaber setzen deshalb alles daran, die Xinjiang-Diaspora in Zentralasien zu isolieren. Die kasachische Regierung unterstützt sie dabei offenbar nach Kräften: Das kanadische Parlament verabschiedete im Februar 2023 ein Programm, im Rahmen dessen die Behörden 10 000 im Exil lebenden Uiguren ein Aufenthaltsvisum für Kanada erteilen wollen. Doch die Regierung in Astana torpediert das Programm offenbar. So hat das kanadische Konsulat in Almaty unlängst vier Uiguren, die es nach Kasachstan geschafft haben, eine Einreisebewilligung erteilt. Die kasachischen Behörden verweigern den Uiguren allerdings die Ausreise.
Lange Haftstrafen sind Normalität
Dass extrem lange Haftstrafen verhängt werden, wie für die Söhne von Tursen Sawatkan und Halida Athan und den Bruder von Irmekbay Nursat, war in Xinjiang in den vergangenen Jahren üblich. «Vor allem während der Hochphase der Verfolgung zwischen 2017 und 2019 haben die Gerichte fast durchweg äusserst lange Gefängnisstrafen verhängt», sagt Björn Alpermann, Sinologe und Xinjiang-Experte an der Universität Würzburg. Nach seinen Schätzungen sitzen in Xinjiang noch immer Hunderttausende Uiguren und ethnische Kasachen ein. Von neuer Normalität kann keine Rede sein.
Dass die Strafverfolgungsbehörden in den vergangenen Jahren in Xinjiang unverhältnismässig hart zugeschlagen haben, zeigt ein Blick auf die Zahl der Anklagen im Verhältnis zur Bevölkerung. «In Xinjiang liegt die Zahl um ein Vielfaches über dem Landesdurchschnitt», sagt Alpermann. Der Xinjiang-Experte James Millward geht davon aus, dass 20 Prozent aller strafrechtlichen Anklagen Chinas in der Region Xinjiang erfolgen. Die Bevölkerung Xinjiangs macht aber nur 1,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung Chinas aus.
Dass manche Sinologen, die im vergangenen Jahr Xinjiang bereist haben, von einer «Verrechtlichung» der Verhältnisse in Xinjiang sprechen, grenzt für Alpermann darum an Zynismus. «Wenn dem so wäre, müssten die vielen Urteile ja neu verhandelt werden», sagt Alpermann, denn viele von ihnen seien seinerzeit nicht auf der Grundlage geltender Gesetze gesprochen worden.
Vorwürfe der Zwangsarbeit
Unklar ist, in welchem Umfang die Behörden in Xinjiang im Rahmen ihrer Kampagne immer noch zum Instrument der Zwangsarbeit greifen. Zu Spitzenzeiten der Verfolgung verrichteten laut Schätzungen rund 100 000 Uiguren und ethnische Kasachen Zwangsarbeit.
Unlängst geriet der deutsche Chemiekonzern BASF in die Schlagzeilen. Laut einem Medienbericht gibt es den Verdacht, dass der örtliche Joint-Venture-Partner von BASF in Xinjiang Zwangsarbeiter einsetzt. BASF kündigte umgehend eine Untersuchung der Vorwürfe an.
«Meine drei Söhne verrichten alle Zwangsarbeit», behauptet Halida Athan. In den Gefängnissen, in denen die Männer einsitzen, würden sie dazu gezwungen, Bettdecken zu fertigen, ohne dafür entlohnt zu werden, erzählt die Frau. Überprüfen lassen sich solche Vorwürfe kaum.
Zwar gibt es immer wieder Berichte, nach denen es auch in Gefängnissen in anderen Teilen Chinas zu Zwangsarbeit kommt. Doch in Xinjiang scheint der Missstand unverhältnismässig stark verbreitet zu sein. Ungewöhnlich viele Xinjiang-Exilanten in Kasachstan berichten von inhaftierten Angehörigen, die jenseits der Grenze zu Arbeit gezwungen werden.
Klar ist hingegen, dass die chinesische Regierung seit einiger Zeit ein neues Programm umsetzt, bei dem Uiguren und ethnische Kasachen aus ihren traditionellen kleinbäuerlichen Strukturen herausgeholt und in industrielle Arbeitsverhältnisse übergeführt werden sollen, oftmals fern des Heimatdorfs. Die Regierung sagt, das Programm diene der Armutsbekämpfung.
In der Praxis gehen die Behördenvertreter von Haus zu Haus und drängen Familienmitglieder zur Unterschrift eines Arbeitsvertrags. «Es gibt einen sehr hohen politischen Druck, die Arbeitsangebote anzunehmen», sagt Alpermann.
Das Ziel: kulturelle Umerziehung
Doch mit dem Programm verfolgt die Regierung noch ein anderes Ziel. Mittelbar dient es auch der kulturellen Umformung ethnischer Uiguren und Kasachen. Indem die Behörden die Menschen aus ihren agrarischen Strukturen herausreissen, wollen sie diese zu in ihren Augen «modernen Menschen» machen. Oft arbeiten die Uiguren und Kasachen in Fabriken fern ihrer Heimat; die Kinder sind dann in Internaten untergebracht. Damit zerstören die Behörden die traditionellen familiären Strukturen.
Während der letzten Dezemberwoche begann mit Yili die erste Stadt Xinjiangs mit der Umsetzung neuer Regeln, nach denen sich Han-Chinesen und Uiguren sowie Kasachen im Alltag stärker «mischen» sollen. So sorgen die Behörden fortan etwa dafür, dass Angehörige von Minderheiten zusammen mit Chinesen in «gemischten» Quartieren wohnen.
Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping hat in der Vergangenheit mehrfach gesagt, dass er eine einheitliche «chinesische» Kultur anstrebt. Das allmähliche Verschwinden der muslimischen Kultur lässt sich auch im Dorf Biesituobie bei Yili besichtigen. Nur wenige hundert Meter von der Gasse entfernt, in der einst Halida Athans drei Söhne lebten, steht ein rechteckiger ockerfarbener Bau.
Das Gebäude war einmal eine Moschee. Auf dem Dach sind noch die Fundamente zu erkennen, auf denen sich früher die Minarette erhoben. In der vorderen Halle, wo sich die Männer einst zum Gebet trafen, sitzen an einem sonnigen Novembernachmittag vier Frauen an einem Tisch und essen. Im Hof stehen einige Männer und unterhalten sich.
Das Schild am Eingang des Geländes gibt Aufschluss über die jetzige Funktion des Hauses. Die frühere Moschee ist jetzt eine Gedenkstätte für Verstorbene.