Während des Zweiten Weltkriegs haben ukrainische Nationalisten im Grenzgebiet Wolhynien Tausende von Polen ermordet und vertrieben. Die Ukraine erlaubt nun Nachforschungen im Land.
Kiew hat Warschau überraschend grünes Licht für Exhumierungen in der Westukraine gegeben. Sieben Jahre lang haben sich die Ukrainer zuvor geweigert zu erlauben, dass die Polen im Grenzgebiet Wolhynien nach Überresten der Opfer suchen, die während des Zweiten Weltkriegs von ukrainischen Nationalisten umgebracht wurden. Diese Weigerung ist zum grössten bilateralen Problem der beiden Nachbarländer angewachsen.
Laut dem polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski ist das Eingeständnis das Ergebnis des zweiten Polenbesuchs seines ukrainischen Amtskollegen Andri Sibiha vom Dienstag. Der erst im September von Staatspräsident Wolodimir Selenski ernannte Minister betonte, dass beide Länder alles tun müssten, um Missverständnisse zu vermeiden.
«Es gibt keine Einschränkungen für polnische Institutionen oder Privatpersonen, in Zusammenarbeit mit den ukrainischen staatlichen Organen Exhumierungen vorzunehmen», bekräftigten Sibiha und Sikorski in einer gemeinsamen Erklärung. «Jede Familie hat das Recht, die Erinnerung an ihre Vorfahren zu ehren», erklärte Sibiha vor der Presse.
Unter deutscher Besetzung haben sich antikommunistische Partisanen der 1942 gegründeten Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) an der polnischen Zivilbevölkerung vergangen und rund 100 000 Polen umgebracht. Zwischen den Ländern kam es in den letzten Jahren zu Streit darüber, wie nun die nachfolgenden Generationen mit dieser ethnischen Säuberung umgehen sollen: Die UPA-Kämpfer werden in der Ukraine insbesondere seit der Maidan-Revolution von 2014 als Volkshelden gefeiert; in Polen wiederum gelten sie als feige Kriegsverbrecher.
Angestiftet von Stepan Bandera
Die UPA-Partisanen hatten nach der Beteiligung an der Ermordung von gut einer halben Million Juden Ende 1942 eine sogenannte «antipolnische Aktion» gestartet, bei der das Grenzland Wolhynien mit den Zentren Riwne und Luzk nun auch von den Polen gesäubert werden sollte. Angestiftet wurden die Partisanen von dem damals bereits von den deutschen Besetzern im KZ Sachsenhausen eingesperrten Nationalistenführer Stepan Bandera – dem Chef der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN).
Den äusserst brutal durchgeführten ethnischen Säuberungen in Hunderten von Dörfern fielen laut Historikern 50 000 bis 120 000 polnische Zivilisten zum Opfer, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Von den 1,5 Millionen Polen, die in dem Gebiet wohnten, wurden 400 000 zur Flucht nach Zentralpolen gezwungen, das ebenfalls von den Deutschen besetzt war.
Die UPA konnte bei ihren Verbrechen – zumindest bis zum Wiedereinmarsch der Roten Armee 1944 – auf die Unterstützung der mehrheitlich ukrainischsprachigen Bevölkerung zählen. Sie waren zumeist wie die Polen Bauern mit sehr geringer Schulbildung. Manche Ukrainer fühlten sich durch die Ansiedlung von Veteranen des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht.
UPA-Partisanen werden als Volkshelden gefeiert
Erst im Laufe des Jahres 1943 stellten die Polen Selbstverteidigungskräfte in vielen Dörfern auf, die teilweise von der im Untergrund tätigen Heimatarmee (AK) unterstützt wurden. Bei Racheakten der Polen sollen bis zu 3000 Ukrainer in Wolhynien getötet worden sein. Polens führender Historiker für dieses polnisch-ukrainische Grenzland, Grzegorz Motyka, stellt das Massaker in Wolhynien im Zweiten Weltkrieg in eine Reihe mit dem Völkermord der kroatischen Ustascha an den Serben und der Liquidierung von über 600 weissrussischen Dörfern durch die deutsche Wehrmacht im Kampf gegen sowjetische Partisanen.
Motyka bemängelt eine eindeutige Verurteilung der UPA-Aktionen mit Völkermord-Charakter durch ukrainische Politiker und die Eliten. Der Historiker zeigt aber Verständnis für die heutige Bewunderung des antisowjetischen Kampfs dieser Partisanen.
Warschau, das Kiew seit der Unabhängigkeit in seinen westlichen Ambitionen unterstützt, hat jüngst die Wolhynien-Frage gar zu einem Hindernis für den für 2030 geplanten EU-Beitritt der Ukraine erklärt. «Die Ukraine wird der EU nicht beitreten, ausser wenn diese Frage geklärt wird, Exhumierungen durchgeführt werden und ein angemessenes Gedenken stattfindet», sagte der Vizeregierungschef und Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz Anfang Oktober in Warschau.
Exhumierungsverbot nach Denkmalstreit
Kiew hatte die seit 1992 möglichen, aber selten erlaubten Exhumierungen von Opfern der UPA im Frühjahr 2017 ganz verboten. Als Grund wurde ein von polnischen Rechtsextremen zerstörtes UPA-Monument in der Nähe der Stadt Przemysl angeführt. Das Denkmal mit dem Dreizack und der ukrainischsprachigen Aufschrift «Ehre den UPA-Helden, Ehre den Kämpfern für eine freie Ukraine!» wurde von vielen Polen wegen des Wolhynien-Massakers als Provokation erachtet.
Besonders schlimm für Kiew war zudem, dass die Zerstörung des Denkmals ausgerechnet auf den 80. Jahrestag der kommunistischen «Akcja Wisla» (Aktion «Wechsel») fiel, der Zwangsumsiedlung von 140 000 Ukrainern von Südostpolen nach Masuren.
Die beiden Aussenminister wollen die Spannungen nun mit einer Arbeitsgruppe in den jeweiligen Kulturministerien abbauen. Laut dem heutigen Direktor des Instituts des nationalen Gedenkens der Ukraine (UINP), Anton Drobowycz, soll auch bald eine bereits 2003 ins Leben gerufene binationale Historikergruppe ihre Arbeit wiederaufnehmen.
Nur jedes zehnte Skelett identifiziert
Karol Nawrocki, der Direktor des polnischen Instituts des nationalen Gedenkens (IPN) und seit Sonntag auch parteiloser Präsidentschaftskandidat der konservativen Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mahnte bei einer Pressekonferenz Mitte Woche, dass den Worten der Politiker auch Taten folgen müssten. «Zu oft gab es bisher schöne Politiker-Deklarationen», sagte Nawrocki und fügte an, dass sämtliche IPN-Exhumierungsanträge nun in Kiew positiv beantwortet werden müssten. Das IPN beschäftigt im Moment rund sechzig Archäologen und Historiker, die sich mit Vermissten beschäftigen. In zwanzig Jahren wurden etwa 2000 Exhumierungen vorgenommen; nur zehn Prozent der Skelette konnten identifiziert werden.