Was der Wasserverlust für Menschen, Landwirtschaft und Klima bedeutet – eine Recherche aus Italien und Deutschland.
«Ohne Wasser zu sein, ist Folter», sagt Vittoria Camboni. Die 49-jährige Literaturlehrerin sitzt an einem bewölkten Dezembermorgen am Holztisch in ihrer Küche. Sie ist müde und frustriert – vom andauernden Kampf um den Zugang zu einem der grundlegendsten Güter überhaupt.
Camboni wohnt in Ortona, einer Küstenstadt der Provinz Chieti in den Abruzzen, etwa 200 Kilometer östlich von Rom. Hier erhebt sich das Majella-Massiv. Und hier liegen einige der reichsten Grundwasserreserven Italiens.
Trotzdem waren in der Provinz von Juni 2024 bis März 2025 etwa 130 000 Haushalte fast jeden Abend und jede Nacht ohne Trinkwasser. Die zuständige Firma hatte es abgestellt. Der Grund? Über 60 Prozent des Wassers gehen im Leitungssystem verloren: durch undichte Rohre.
Was sich an diesen Orten in den Abruzzen abspielt, rückt einen bis anhin übersehenen Aspekt der zunehmenden Wasserknappheit in Europa ins Licht: den Wasserverlust. Fast zwei Drittel des Trinkwassers und ein Viertel des landwirtschaftlichen Nutzwassers werden in Europa durch Grundwasser gedeckt. Aber vielerorts werden die Reserven schneller verbraucht, als sie sich erholen können.
Der Klimawandel ist nicht der einzige Grund dafür, dass das Grundwasser in vielen Regionen unter Druck steht. In ganz Europa belaste schlechtes Wassermanagement den Wasserhaushalt, sagt die Geografin und Wasserexpertin Fanny Frick-Trzebitzky vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main. Marode Infrastruktur, abgeleitetes Regenwasser und schlechte Auffangsysteme erschweren in vielen Ländern den Zugang zu Grundwasser und seine natürliche Erneuerung.
Die Verschwendung ist menschengemacht
Der Wassermangel zeigt sich auf unterschiedliche Weise: In Italien gehen durchschnittlich 42 Prozent des Trinkwassers durch undichte Leitungen verloren. Das grösste Problem in Deutschland entsteht durch Entwässerungsgräben, städtische Abwasserkanäle und versiegelte Flächen. Statt die Grundwasserspeicher aufzufüllen, fliesst der Regen ab und ist in grossen Teilen nicht verfügbar – etwa für die Landwirtschaft.
Was die beiden Länder eint: Die Wasserverschwendung ist menschengemacht.
Pauschale Aussagen über das Grundwasser sind schwierig. Doch in Italien sind sich alle befragten Expertinnen in einer Sache einig. Cristina Di Salvo, Umweltgeologin am Nationalen Forschungsinstitut Italiens (CNR), drückt es so aus: «Mehr als mit dem Klimawandel ist das Problem des Grundwassers in Italien mit der Bewirtschaftung verbunden.»
Vor allem in der südlichen Mitte fehle es an Überwachungsnetzen, die eine genaue Einschätzung der Grundwassermenge ermöglichten, sagt Di Salvo. Ausserdem sind die meisten Anlagen zur Wasserversorgung im Land über 30 Jahre alt, ein Viertel älter als 50 Jahre.
Experten sehen das Hauptproblem in der grossen Anzahl öffentlicher und privater Träger, die die Speicherung und die Verteilung des Wassers verwalten: «Weil es viele kleine Betreiber gibt, fehlen ihnen die Kapazitäten und das Geld, um die Wasseranlagen gemeinsam gut zu verwalten», erklärt Luigi Berardi, Professor für Wasserbau an der Universität Gabriele d’Annunzio in Chieti Pescara.
Fachleute sagen: Der Ausbau und die Modernisierung der Wasserinfrastruktur in Italien wurden in der Vergangenheit vernachlässigt.
Bei einer öffentlichen Veranstaltung im März räumte der Direktor der Società Abruzzese per il Servizio Idrico integrato (Sasi) ein, dass der Grossteil des von ihr verwalteten Netzes im Schnitt 60 bis 65 Jahre alt ist. Das Unternehmen Sasi verwaltet die Wasserversorgung und -aufbereitung von insgesamt 87 Gemeinden in der Provinz Chieti. Tausenden Haushalten wird regelmässig das Wasser abgestellt. 40 Gemeinden sind auf eine einzige Quelle angewiesen. Sie wird wegen ihres smaragdfarbenen Wassers «verde» genannt, auf Deutsch: grün.
Öffentlich begründet das Unternehmen die Unterbrechungen der Wasserversorgung immer mit Wassermangel. Doch die Daten erzählen eine kompliziertere Geschichte.
Es ist genügend Wasser da
Der Hauptsitz der Sasi ist in Lanciano, einer Stadt zwischen dem Majella-Massiv und der Adria. An einem sonnigen Wintermorgen zeigt Fabrizio Talone, der Leiter der Versorgungs- und Verteilungsnetze, auf einem grossen Bildschirm, wie sich die Durchflussmenge der Verde-Quelle in den vergangenen Jahren verändert hat.
Während im Juni 2017 noch mehr als 2000 Liter pro Sekunde flossen, waren es im Oktober 2024 weniger als 900. Aus Sicht der befragten Expertinnen und Experten reicht die Wassermenge selbst dann aus, um den Bedarf der Gemeinden zu decken.
Wenn genug Wasser vorhanden ist – warum muss die Bevölkerung dann regelmässig ohne auskommen? Aus Sicht der Fachleute liegt die Antwort im technischen Zustand der Infrastruktur.
Etwa 20 Personen, die in den betroffenen Städten leben, dort Geschäfte betreiben und für diese Reportage befragt wurden, erzählen von unterschiedlichen Problemen: von hohen Kosten für den Einbau eines Drucksystems in ihrem Haus oder für Wasser in Flaschen bis hin dazu, dass sie nicht selbst entscheiden können, wann sie duschen oder kochen.
So wie Andrea Altobelli, ein 47-jähriger Friseur aus Ortona. Er rechnet vor, dass er in den letzten Jahren zwei bis drei Monatseinkommen verloren hat: an den Abenden, an denen er seinen Laden schliessen musste, weil es kein Wasser gab, oder er Kundinnen und Kunden absagen musste, die den Termin nicht verschieben konnten. «Man schafft Unzufriedenheit, auch wenn es nicht von einem selbst abhängt», sagt Altobelli.
Die täglichen Unterbrechungen können auch gesundheitliche Risiken für die Betroffenen bedeuten. Durch den schwachen Druck in den Leitungen könne verunreinigtes Wasser über undichte Stellen in das Netz eindringen, erklärt der Ingenieur Luigi Berardi. Ausserdem beschleunige das tägliche Entleeren und Füllen der Leitungen den Verfall des Systems. Das führe zu mehr plötzlichen Brüchen und weiteren Unterbrechungen für die Verbraucher.
Die Einwohner beschweren sich bei den Behörden
Die Anwohnerin Vittoria Camboni ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins Acqua Nostra und eine der Initiatorinnen von «Ortona Sasi Class Action», einer Facebook-Gruppe, die derzeit rund 1600 Mitglieder hat und die Beschwerden der Bevölkerung über den Wassermangel sammelt.
Ende Januar 2025 reichten Camboni und etwa 40 weitere Betroffene eine Beschwerde bei Sasi ein. Darin beschreiben sie das Leid, das den Haushalten durch die Wasserabschaltungen entsteht, fordern Massnahmen zur Lösung und Entschädigungen. Bevor sie sich an ein Gericht wenden, warten sie nun auf Schlichtung durch die Regulierungsbehörde für Energie, Netze und Umwelt.
Insgesamt hat Sasi vom Infrastrukturministerium mehr als 52 Millionen Euro für die Verbesserung des Wasserversorgungssystems der Verde-Quelle erhalten. Auf Anfrage teilt das Ministerium mit, dass diese Massnahmen bis März 2026 abgeschlossen sein sollen.
Am 12. März 2025 verkündete Sasi in einer Pressekonferenz das Ende der planbaren Wasserunterbrechungen aus der Verde-Quelle. Trotzdem waren laut der Website des Unternehmens noch bis zum 14. April zwölf Gemeinden betroffen, neun davon sind auf die Verde-Quelle angewiesen. Dort wird das Wasser weiter jeden Abend abgedreht.
Auch in Deutschland mangelt es an Wasser
In den Abruzzen sind es tropfende Leitungen, die Wasser verlieren. Rund 1150 Kilometer Luftlinie nordöstlich, im ostdeutschen Bundesland Brandenburg, verschwenden alte Rohrleitungen ebenfalls Wasser – allerdings auf ganz andere Weise als in Italien.
Ein Maisfeld in der Märkischen Schweiz, einem Naturschutzgebiet, etwa eine Stunde Zugfahrt von Berlin. An einem Septembermorgen zeigt das Thermometer 27 Grad. Die meisten Maispflanzen sind verdorrt, ihre faserigen Blätter gelb. An einer Seite des Feldes, ein paar Meter unter den Pflanzen, ragt ein Rohr aus dem Boden, aus dem ununterbrochen Wasser plätschert: Während zehn Sekunden rund zwei Liter, so besagen es Daten des Landesamtes für Umwelt in Brandenburg für September 2024. Das entspricht rund 115 vollen Badewannen am Tag.
Das Wasser ist versickerter Regen. Abgeleitet wird er aus dem Boden durch ein Entwässerungssystem aus der DDR-Zeit – während gleichzeitig die Pflanzen auf den Feldern austrocknen. Mitarbeiter des Naturparks Märkische Schweiz messen hier im Rahmen eines Pilotprojekts regelmässig nach, wie viele Liter Wasser aus dem Boden ab- und über Bäche in Flüsse eingeleitet werden. Die Ergebnisse bilden nur eine kleine Datenmenge, doch schon sie ist eine Ausnahme in Brandenburg.
Das Rohr am Rande des Maisfeldes ist eines von vielen in der Region. Über das gesamte Bundesland bilden sie ein Netz aus Abertausenden von Kilometern. Sie sind Teil eines Entwässerungssystems, das unter der Erde verläuft.
In der DDR wurden diese Rohrsysteme, sogenannte Drainagen, stark ausgebaut. Ziel war es, den Boden zu entwässern und die landwirtschaftlichen Flächen flacher, grösser und profitabler zu machen. Doch heute wissen weder Landwirte noch Behörden viel über die alten Rohre und ihre Auswirkungen.
Das wenige Wissen stammt aus lokalen Studien, etwa im benachbarten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Dort werden 38 Prozent der Landesfläche künstlich entwässert, wodurch jedes Jahr rund 1,16 Milliarden Kubikmeter Wasser verlorengehen.
Landwirte kämpfen gegen die Trockenheit
Brandenburg leidet bereits heute so stark wie kaum ein anderes Bundesland unter dem Klimawandel. Landwirte kämpfen schon lange mit den Folgen. Das wenige Wasser, das vom Himmel fällt, bleibt kaum in der Landschaft. Es wird von den jahrzehntealten Entwässerungssystemen quasi sofort wieder abgeleitet.
Im Winter 2024/2025 ist in Brandenburg so wenig Niederschlag gefallen wie in keiner anderen deutschen Region. Jan Sommer sitzt erschöpft auf einer Bank seines Hofes im Schatten. «Ich bin noch ein bisschen durch den Wind», murmelt er und rückt seine Brille zurecht. Am Vorabend sass er bis 1 Uhr früh auf dem Traktor, um die vertrockneten Felder zu bewässern.
Sommer bewirtschaftet 70 Hektaren Acker- und Gemüseland. Als Biobauer war er immer davon überzeugt, zu den «Guten» zu gehören. Er setzte auf klimaresistente Nutzpflanzen und vielfältige Anbaumethoden. Doch dann stiess er auf ein verstecktes Netz von Drainagerohren unter seinen Feldern. Plötzlich zweifelte Sommer daran, ob sein Bioanbau als Beitrag für den Klimaschutz ausreichend war.
Er sei entsetzt gewesen, sagt Sommer, als er feststellte, wie viel Niederschlag durch die Rohre verlorenging. Selbst an den trockensten Tagen seien mehr als 200 Kubikmeter Wasser, über 1000 volle Badewannen, durch die Rohre abgeflossen und seinen Feldern entzogen worden.
Die Rohre des Entwässerungssystems mussten geortet werden
Mit Unterstützung von Naturschützern und Hydrologen hat Sommer Teile des Entwässerungssystems verschlossen, um den Regen zu sammeln und die Feuchtigkeit im Boden zu halten. Dazu mussten die Rohre geortet und freigelegt werden. «Das Feld sah aus wie eine archäologische Ausgrabungsstätte», sagt er. «Es war faszinierend und brutal zugleich.»
Die Hydrologin Dörthe Tetzlaff von der Humboldt-Universität zu Berlin erklärt, dass Entwässerungssysteme nicht per se schlecht für den Boden seien. Je nach Region könnten sie sogar zur Wasserspeicherung beitragen, etwa mit Rückhaltebecken. Doch ein Umdenken sei dringend nötig: Viele dieser Systeme müssten stillgelegt werden. «Um mehr Wasser in der Landschaft zu halten, brauchen wir ein Bündel an Massnahmen – dazu gehört auch die Wiederherstellung von Feuchtgebieten und der Rückbau von Entwässerungsrohren, aber auch ein angepasstes Landnutzungsmanagement», sagt Tetzlaff.
Die Umweltorganisation Nabu Brandenburg hat ein Rechtsgutachten zu Felddrainagen in Auftrag gegeben. Es liegt der NZZ vor und kommt zu dem Schluss, dass viele der unterirdischen Leitungen illegal sein könnten. Das Gutachten verweist auf das Wasserhaushaltsgesetz, das vorschreibt, dass für die Einleitung von Wasser in Flüsse oder Gräben eine Genehmigung erforderlich ist – die aber oft fehlt. Alte Genehmigungen aus DDR-Zeiten, so heisst es, seien in der Regel abgelaufen.
Papierkarten, die in Archiven verstauben
Da es kaum Informationen über die Entwässerungssysteme gibt, mangelt es an Kontrolle. Das wenige Wissen über die unterirdischen Leitungen ist auf verstaubten Papierkarten in den Archiven der Wasser- und Bodenverbände (WBV) eingezeichnet. Die WBV sind für wasserwirtschaftliche Aufgaben im öffentlichen Interesse zuständig, etwa für die Pflege von Gewässern.
In Brandenburg existieren mehr als 20 dieser Verbände. Auf Nachfrage sagen die meisten, sie seien nicht für die Instandhaltung von Drainagen zuständig. Viele schreiben, dass sie nur «sporadische» oder «lückenhafte» Kenntnisse über deren Lage hätten, manche geben grobe Schätzungen an. Die konkreteste Zahl kommt von Frank Schröder, dem Leiter des WBV Prignitz: In seinem Teilgebiet des Landkreises sollen rund 24 000 Kilometer Rohre unter der Erde liegen. Das ist länger als eine halbe Erdumrundung.
Wasser müsse nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Gebieten Europas länger in der Landschaft gehalten werden, sagt die Wasserexpertin Fanny Frick-Trzebitzky. Wichtig sind etwa Massnahmen wie das Anlegen von Schwammlandschaften – das sind natürliche Gebiete wie Moore, Auen oder feuchte Wiesen, die Wasser aufnehmen können – sowie die Entsiegelung von Flächen. Alte Wasserleitungen müssen ersetzt werden, besonders dort, wo marode Infrastruktur den Wasserverlust verschärft, wie etwa in den italienischen Abruzzen.
Landwirt Jan Sommer versucht, mehr Wasser zu speichern. Neben einer Lösung für die Drainagen arbeitet er auch am Aufbau seiner Felder. Er experimentiert mit «keylines», hügeligen Linien aus Erde auf dem Feld, die das Regenwasser besser auffangen, und pflanzt Bäume, um den Abfluss zu verlangsamen.
Sommer erinnert sich noch gut an die Nacht, in der er am Steuer seines Treckers beim Bewässern einschlief. Das war irgendwann in den Dürrejahren von 2018 oder 2019. Im Sekundenschlaf rammte er ausgerechnet einen Hydranten am Feldrand. Der Zusammenstoss war für den Landwirt ein Signal: Wasser war für seinen Betrieb zur Überlebensfrage geworden.
In den Abruzzen tropft das Wasser aus undichten Leitungen; in Brandenburg rinnt es durch alte Drainagen davon. Die Tatsache ist unübersehbar: Wasser wird immer umkämpfter – nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch wegen jahrzehntelanger Versäumnisse im Umgang damit.
Dieser Artikel ist Teil einer Cross-Border-Recherche über die Folgen der Grundwasserknappheit für Gemeinden in Deutschland, Italien und Rumänien. Die Untersuchung wurde von Journalismfund Europe unterstützt und in Zusammenarbeit mit der freiberuflichen Journalistin Adina Florea durchgeführt.