Stark geschwächt, wirft Premierminister Justin Trudeau das Handtuch. Doch mit Blick auf Donald Trumps Amtsantritt am 20. Januar wäre eine starke Führung in Kanada dringend nötig.
Der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat gestern seinen Rücktritt angekündigt. Das Parlament ist nun bis zum 24. März nicht in Session. Bis dann müssen Trudeaus Liberale einen neuen Parteichef suchen, der sie durch baldige Neuwahlen führen muss.
Trudeau hatte die Regierungsgeschäfte 2015 nach einem überwältigenden Wahlsieg über seinen unbeliebten konservativen Vorgänger Stephen Harper übernommen. Es gelang ihm damals, die Sitzzahl der Liberalen Partei zu verfünffachen. Als deren neuer, erfolgsverwöhnter Hoffnungsträger versprach er, mit seiner Politik die Lage der kanadischen Mittelschicht zu verbessern. Vom damaligen Wahlerfolg ist bei seinem Abgang nichts mehr zu spüren. Seine Zustimmungswerte sind unter 20 Prozent gefallen, und in den vergangenen Monaten haben ihm auch immer mehr Abgeordnete in der eigenen Partei die Unterstützung entzogen und ihn offen zum Rücktritt aufgefordert.
Mittelschicht wendet sich ab
Was ist passiert? Trudeaus Anziehungskraft ist spätestens seit der Corona-Pandemie verblasst, als von ihm verhängte Zwangsmassnahmen bei einem Teil der Kanadier Widerstand hervorgerufen haben. Doch der eigentliche Grund seines Scheiterns liegt darin, dass seine progressive Politik bei der Mittelklasse generell immer mehr an Zustimmung verloren hat.
Trudeau trieb multikulturelle Anliegen voran und verfolgte eine aktivistische Einwanderungspolitik, welche dazu geführt hat, dass allein in den letzten drei Jahren fast drei Millionen Ausländer nach Kanada immigriert sind – bei einer Wohnbevölkerung von 38 Millionen. Zur Bekämpfung des Klimawandels belastete er die Haushaltsbudgets mit einer sukzessiv wachsenden CO2-Steuer, welche bis 2030 nochmals mehr als verdoppelt werden sollte. Trudeaus lockere Budgetdisziplin liess die Staatsausgaben weit über den geplanten Rahmen steigen. Aus Protest trat deshalb im Dezember seine Stellvertreterin und Finanzministerin Chrystia Freeland zurück, eine tragenden Säule seiner Regierung.
Die starke Erhöhung der Lebenskosten liess die Kaufkraft der meisten Kanadier in den letzten Jahren deutlich schrumpfen. Wohnungsbau und Infrastruktur können mit den hohen Migrationszahlen nicht Schritt halten. Trudeaus Immigrationspolitik hat die Wohnkosten massiv in die Höhe getrieben. Die laufend steigende CO2-Steuer ist angesichts der schrumpfenden Familienbudgets immer unpopulärer geworden. Besonders Teile der Arbeiterschaft und der jungen Wähler sind zu Pierre Poilievre abgewandert, dem neuen rechtspopulistischen Star der Konservativen.
Geschwächt gegen Trumps Drohungen
Für Kanada kommt die Führungsschwäche an der Regierungsspitze zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Am 20. Januar tritt Donald Trump in Washington seine zweite Amtszeit an. Mit Drohungen, unmittelbar danach auf kanadischen Importen einen Zoll von 25 Prozent zu erheben, hat er das nördliche Nachbarland aufgeschreckt. Rund 75 Prozent der Exporte Kanadas gehen in die USA. Besonders alarmiert ist die Erdöl- und der Erdgasindustrie, welche ihre Produkte fast ausschliesslich in die USA ausführen. Es werden deshalb gravierende wirtschaftliche Konsequenzen befürchtet, falls Trump mit seiner Drohung Ernst macht.
Die Situation ruft nach einem konzertierten Vorgehen von Politik und Wirtschaft in Kanada, um Trump entgegenzutreten. Doch mit Trudeaus Ankündigung dürfte nun bis mindestens Mitte Jahr unklar sein, wer Kanada in Zukunft führen wird. In den nächsten zweieinhalb Monaten müssen die Liberalen eine neue Führungsfigur bestimmen – in einem Verfahren, das wegen der unüblich kurzen Zeit erst noch definiert werden muss. Danach muss zur Bestimmung des zukünftigen Regierungschefs der Kandidat oder die Kandidatin der Liberalen in nationalen Wahlen gegen Pierre Poilievre antreten. Ein Interregnum, das denkbar schlechte Voraussetzungen schafft für die Bewältigung der Krise mit den USA.