Israel hat seit Beginn des Gaza-Kriegs über zweihundert neue Strassensperren im Westjordanland errichtet. Die Kontrollen werden immer aufwendiger – und belasten die Wirtschaft enorm. Ein Tag im Leben des Möbelfabrikanten Mohammed Shakshir.
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als sich Mohammed Shakshir hinter das Lenkrad des grossen Transporters setzt. «Jetzt gerade sieht es an allen Checkpoints gut aus», sagt der Chef eines Möbelunternehmens, als er die Telegram-Gruppen auf seinem Handy öffnet. «Yalla, wir fahren.»
Es ist sechs Uhr morgens an einem Donnerstag im Winter. Der 50-jährige Unternehmer aus Nablus, einer Grossstadt im Norden des Westjordanlands, nimmt einen Schluck Kaffee aus seinem Pappbecher, drückt die Handbremse nach unten und startet den Motor. Rund dreimal die Woche fährt der Besitzer einer grossen Möbelfabrik von Nablus nach Ramallah, um dort seine Stühle und Tische zu verkaufen.
Vor über einem Jahr sahen die Morgen von Mohammed Shakshir noch anders aus: Er stand nicht um fünf Uhr auf, sondern gegen acht. Danach frühstückte er mit seiner Frau und den fünf Kindern, zwischen zehn und elf Uhr verliess er das Haus. Das war vor dem Krieg, als die Strassen noch frei waren.
Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der nachfolgende Krieg haben nicht nur unermessliches Leid über Israel und die Palästinenser im Gazastreifen gebracht. Auch das Leben der rund drei Millionen Palästinenser im Westjordanland, das Israel seit 1967 besetzt, ist seit Kriegsbeginn ein anderes.
Die Attacken jüdischer Siedler sind zahlreicher, die Militäreinsätze israelischer Soldaten rigoroser, die Terrorangriffe palästinensischer Gruppen tödlicher geworden. Am sichtbarsten ist die neue Realität auf den Strassen: Stand November gab es im Westjordanland laut der Uno 793 israelische Checkpoints und Strassensperren, über 200 mehr als noch vor Kriegsbeginn.
Wer heute im Westjordanland von einer Stadt in die andere fahren will, weiss nie, wie lange die Fahrt dauert und ob sie überhaupt möglich ist. Für Leute wie Mohammed Shakshir, die mehrmals wöchentlich das halbe palästinensische Gebiet durchqueren müssen, bestimmen die Checkpoints den Alltag – und führen zu enormen wirtschaftlichen Einbussen.
Das Land der Checkpoints
Schon früher waren Checkpoints der israelischen Armee im Westjordanland allgegenwärtig. An den Übergängen nach Israel stehen feste Grenzanlagen, wo manchmal über zwei Dutzend Soldaten im Einsatz sind.
Innerhalb des Westjordanlands sind die Checkpoints kleiner. Sie bestehen aus einigen Betonblöcken und einem kleinen Aussichtsturm. Dort schieben nur wenige Soldaten Wache, oft sind sie kaum älter als 20 Jahre. Dann gibt es noch die «fliegenden Checkpoints», die mit ein paar Militärfahrzeugen innert einiger Minuten praktisch überall eingerichtet werden können.
Wenn alles gut läuft, braucht Shakshir für die rund sechzig Kilometer von Nablus nach Ramallah etwa eine Stunde. «Einmal habe ich aber auch schon sechs Stunden vor einem Checkpoint gewartet», sagt er. Damals habe die israelische Armee Nablus abgeriegelt. «Im Vorhinein weiss man nie, was einen erwartet.»
Aus israelischer Sicht sind die Checkpoints notwendige Sicherheitsvorkehrungen: Laut dem Verteidigungsministerium haben palästinensische Angriffe im Westjordanland 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 350 Prozent zugenommen.
Mohammed Shakshirs heutige Fahrt nach Ramallah verläuft nach Plan. Auf dem Weg passiert er vier Checkpoints, die an diesem Tag entweder nicht besetzt sind oder die er ohne Kontrolle passieren kann.
Shakshir fährt auf der Route 60, der Nord-Süd-Achse des Westjordanlands. Es ist eine jener Strassen, auf denen sowohl palästinensische als auch israelische Autos fahren dürfen. Wie lange das noch möglich sein wird, ist unklar: Weiter südlich werden derzeit parallel zur Route 60 neue Strassen gebaut, die nur von israelischen Autos befahren werden dürfen. Palästinenser sind auf diesen «Siedlerautobahnen» nicht erwünscht.
«Wir fragen jetzt nicht mehr ‹Wie geht es dir?›, wenn wir uns sehen», sagt Mohammed Shakshir lächelnd. «Sondern wir fragen: ‹Wie sind die Strassen?› Denn die Strassen spielen jetzt eine so grosse Rolle in unserem Leben.»
Kurz nach sieben Uhr erreicht Shakshir Ramallah und parkiert den weissen Lieferwagen vor seinem Laden. Er schliesst auf, schiebt das Metallgitter nach oben und stellt seine Stühle nach draussen. Die Filiale hier in Ramallah hat er bereits vor sieben Jahren eröffnet.
Seit Kriegsbeginn ist dieser Verkaufsraum für ihn unentbehrlich geworden. Denn seine Kunden, die nicht in der Region um Nablus leben, kommen kaum mehr in seinen anderen Laden im Norden – sie wollen die Checkpoints vermeiden.
Die Checkpoints zerstören die Wirtschaft
Im Inneren des 2500 Quadratmeter grossen Fabrikgeländes biegen seine vierzehn Mitarbeiter Stuhllehnen zurecht und hämmern auf Metallstücken herum. «Noch habe ich keinen meiner Arbeiter entlassen», sagt Shakshir. Doch sie machen keine Überstunden mehr und verdienen weniger. Wie hoch sein Umsatz genau ist, will der Unternehmer nicht verraten. «Doch so viel kann ich sagen: Heute verdiene ich nur noch ein Drittel von dem, was ich vor dem Krieg erwirtschaftet habe.»
Laut der lokalen Handelskammer ist das Handelsvolumen in Nablus seit Kriegsbeginn um 60 Prozent geschrumpft, auch der Tourismussektor wurde hart getroffen. Nablus liegt in einem Tal und hat drei grosse Zufahrtsstrassen – an allen befinden sich israelische Checkpoints. Manchmal blockiert Israels Armee sämtliche Zugänge und lässt niemanden hinein oder hinaus.
Mohammed Shakshir bleibt dennoch ein vergleichsweise reicher Mann. Vor dem Verkaufsraum in Nablus stehen seine zwei nagelneuen deutschen Autos, sein Haus neben der Fabrik gleicht einer Villa. Seit sieben Jahren ist er der Geschäftsführer des Familienunternehmens, das 1959 von seinem Vater und seinem Onkel gegründet wurde. Im hell erleuchteten Verkaufsraum in Nablus stehen Dutzende Modelle von Tischen und Stühlen. In seinem Büro lehnt sich der Geschäftsmann tief im gepolsterten Stuhl zurück. Er spricht leise. Mohammed Shakshir ist es offenbar gewohnt, dass die Leute ihm zuhören, wenn er redet.
«Vor dem Krieg waren die arabischen Israeli für 40 Prozent meines Umsatzes verantwortlich», sagt der Unternehmer. Doch wegen der Checkpoints kämen sie kaum mehr ins Westjordanland, vor allem nicht nach Nablus. «Wenn du zwei Stunden für die Hinfahrt und zwei Stunden für die Rückfahrt brauchst, kommst du natürlich nicht mehr.» Zudem hätten viele potenzielle Kunden wegen der angespannten Lage Angst.
Trotz seinem Wohlstand übernimmt der Unternehmer seit Kriegsbeginn Aufgaben, die er vorher einfachen Mitarbeitern übertragen hat. «Heute fahre ich den Lieferwagen selbst zu unserem Geschäft in Ramallah», sagt er. «Meine Arbeiter wollen nicht mehr fahren. Sie haben Angst vor den Checkpoints.» Auch er selbst denke viel über die Kontrollposten nach, bevor er losfahre. Schiessereien zwischen militanten Palästinensern und israelischen Soldaten seien dort häufiger geworden. «Aber wenn ich nicht fahre, macht es niemand.»
«Noch nie war es so schwierig wie jetzt»
Tags darauf steht Shakshir in der ersten Etage seines Ladens in Ramallah. In einer Ecke hat er ein kleines Bett aufgebaut. Wenn er gut durch den Verkehr kommt und so früh wie heute den Laden erreicht, legt er sich manchmal noch für ein paar Stunden hin. Heute schläft Shakshir nicht. Er muss Kunden beliefern, Zahlungen eintreiben und Genehmigungen bei den Behörden einholen.
Die Kartons schleppt Shakshir selbst. Nachdem er ein Einrichtungshaus beliefert hat, verabschiedet er sich und fährt weiter zum nächsten Termin. Den ganzen Tag jagt er seinen Lieferwagen durch Ramallah, zwischendurch kehrt er zurück in seinen Laden, wo seine Sekretärin ihm Kaffee in kleinen Pappbechern serviert.
Als er am 7. Oktober 2023 vom Massaker der Hamas erfahren habe, habe er gewusst, dass auch die Palästinenser im Westjordanland harte Konsequenzen erfahren würden, sagt Shakshir. «Aber die Lage heute ist so viel schlimmer, als ich es mir damals vorgestellt habe.» Er sei davon ausgegangen, dass der Krieg lange dauern würde, vielleicht drei oder vier Monate. Doch niemals habe er gedacht, dass über ein Jahr im Gazastreifen gekämpft werde. «Noch nie war die Situation für mein Unternehmen so schwierig wie heute.»
Eine Blechlawine Richtung Norden
Eines Tages will Shakshir die Firma an seinen Sohn übergeben, bereits jetzt arbeitet dieser für ihn. Doch für die Zukunft seiner Kinder erwartet der 50-Jährige nicht viel. Selbst nach dem Kriegsende im Gazastreifen werde sich am Sicherheitsregime der Israeli im Westjordanland nichts fundamental ändern, glaubt er und sagt: «Jedes Mal, wenn ein Krieg ausbricht, wird es für uns schlimmer», sagt der Geschäftsmann. «Aber weisst du, wir sind Palästinenser. Wir haben schon vieles durchgestanden. Auch das werden wir überleben.»
Am Nachmittag hat Shakshir alle Möbelstücke ausgeliefert. Sein Arbeitstag endet so, wie er begonnen hat: mit einem Blick in die Telegram-Gruppen, die ihm verraten, welche Checkpoints offen sind, wo Stau herrscht und ob er seine gewohnte Route fahren kann.
Wieder sieht es gut aus. Shakshir startet den Motor seines Lieferwagens. Kurz hinter Ramallah staut sich aber eine lange Reihe von Autos neben einer Mauer mit Wachtürmen – die Strasse verläuft direkt neben der Sperranlage, die Israel vom besetzten Westjordanland trennt. «Das ist gar nichts», sagt Shakshir über den Verkehr. «Es könnte viel schlimmer sein, immerhin bewegen wir uns noch.»
Langsam bewegt sich die Blechlawine durch die Täler des Westjordanlands Richtung Norden. Nur noch einmal muss Shakshir an einem Checkpoint kurz vor Nablus etwa eine Viertelstunde warten, als israelische Soldaten den Verkehr aufhalten. Zwei Stunden nach der Abfahrt in Ramallah erreicht Mohammed Shakshir sein Haus – ohne Kontrollposten hätte es halb so lange gedauert. «Heute lief alles sehr gut», sagt der Möbelfabrikant noch auf der Strasse. «Aber natürlich bin ich wütend, dass ich unter solchen Bedingungen fahren muss. Ich weiss nie, wann ich tatsächlich zu Hause ankomme.»
Rewert Hoffer (Text), Samar Hazboun (Bilder und Video), Adina Renner (visuelles Konzept), Ida Götz (Grafik), Samer Shalabi (Mitarbeit), Stefan Günther (Bildredaktion), Franco Gervasi (Webentwicklung), Michel Grautst¨ück (Mitarbeit)