Luca Bruno / AP
Die geplante Eintrittsgebühr für Tagestouristen erhitzt die Gemüter in der Lagunenstadt. Bringt nichts, sagen die Kritiker. Nichts tun ist keine Alternative, meinen die Befürworter.
Bald schon ist der Zauber vorbei, dann ist hier wieder die Hölle los. Jetzt aber, wo ein fahles Januar-Licht auf die weite Wasserfläche vor dem Dogenpalast scheint, passiert das, wogegen selbst der abgebrühteste Reisende kein Mittel kennt: Die Stadt entfaltet ihre ganze Magie, raubt einem den Atem, berührt die Seele.
Vom Lido her frischt der Wind auf und kräuselt das Wasser, die Gondeln sind fest vertäut und schwanken leicht, hinter Santa Maria della Salute, einer der beiden barocken Votivkirchen, versteckt sich die Sonne. Es ist kalt und feucht – und gleichzeitig unfassbar schön.
Nur ganz wenige Touristen haben sich dieser Tage nach Venedig verloren. Aber niemand, wirklich niemand, vermisst sie: Nicht der Verkäufer von Mützen und Hüten vor San Marco, nicht die Kellnerin, die später in der Osteria das Abendessen serviert, nicht der dick eingepackte Verkäufer auf dem Fischmarkt bei der Rialto-Brücke. «Abbiamo bisogno di riposo», wir ruhen uns aus, die Stille tut gut, sagen sie übereinstimmend.
Venedig ist eine Stadt am Rand des Kollapses. Oder, wie manche Gesprächspartner meinen, eine Stadt, die bereits kollabiert ist, unrettbar zusammengebrochen unter der schieren Menge an Menschen, die täglich aus Zügen, Bussen, Autos, Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen ausgespuckt werden und ein normales Leben verunmöglichen.
Magische Schwelle
Täglich kehren drei Einwohner der Stadt den Rücken; vor kurzem wurde eine magische Schwelle überschritten, als die Zahl der Touristenbetten diejenige der Venezianer überstieg. Bei unserem Besuch zeigte der Zähler im Schaufenster der Apotheke am Campo San Bartolomeo die Zahl 49 166 an. So viele Leute wohnen noch in Venedig. Ende der siebziger Jahre waren es noch doppelt so viele.
Der Zähler ist ein leiser Protest der verbleibenden «residenti», der Einwohner, die sich besser «resistenti» nennen würden, Menschen, die sich gegen den Trend stemmen. Matteo Secchi ist einer von ihnen. Nachts arbeitet er als Concierge in einem Hotel, am Nachmittag engagiert er sich als Aushängeschild der Bürgerplattform «Venessia.com». Er ist von seiner Organisation so überzeugt, dass er sich deren Namen hat auf den Unterarm tätowieren lassen. Secchi aktualisiert alle zwei Tage den Zähler in der Apotheke und gleicht ihn mit den Zahlen des Einwohneramts ab.
Jetzt sitzen wir in einer lauten Bar irgendwo im Gewirr der Gassen. Zu uns gesellt sich Gloria Lazzaretti. Auch sie tut mit bei «Venessia.com», auch sie verdient ihr Geld in der Hotellerie. «Nichts gegen die Touristen», sagen beide, «schliesslich leben wir davon.» Aber Venedig brauche einen anderen Tourismus, einen, der es verstehe, die Bedürfnisse der Einwohner und der Gäste unter einen Hut zu bringen.
Vieles müsste man dafür ändern, sagen sie und zählen mögliche Massnahmen auf. Letztlich aber handle es sich um ein simples Platzproblem. Secchi plädiert für eine zahlenmässige Begrenzung der Touristen, 50 000 pro Tag zum Beispiel. «Wenn zu viele kommen, geht es allen schlecht», ergänzt Lazzaretti. Der Massentourismus zerstört, was er sucht.
Von einer harten Obergrenze will die Stadtregierung nichts wissen. Stattdessen will sie eine Zutrittsgebühr für Tagestouristen einführen. Dieses Jahr wird getestet, an rund dreissig Tagen, erstmals in der Woche vom 25. April bis zum 1. Mai. Wer dann nach Venedig einreisen will, muss sich online registrieren und, je nachdem, 5 Euro Gebühr entrichten. Einmal korrekt angemeldet, erhält man einen QR-Code auf sein Smartphone, das an den Kontrollstellen vorgewiesen werden muss. Seit dem 16. Januar ist die Website online, auf der man sich registrieren und bezahlen kann.
«Echte Pionierarbeit»
«Am ersten Tag haben sich bereits 2500 Personen registriert», sagt Simone Venturini, der für Tourismus zuständige Gemeinderat. Wir treffen den jungen Mann weitab vom historischen Zentrum, in seinem Büro in Mestre, dem Stadtteil auf dem Festland. Mestre bildet zusammen mit Marghera und der historischen Stadt in der Lagune die Metropolitanstadt Venedig.
2500? Das ist doch eine ganze Menge – dafür, dass der April und das Ticket-Obligatorium noch weit weg liegen. «Nun, es haben vor allem Leute unsere Website besucht, die eine Ausnahme von der Gebühr beantragen», sagt der 33-jährige Venturini. Für Experten sind genau die zahlreichen Ausnahmen eine der vielen Schwächen des neuen Systems.
Gäste, die in Venedig übernachten, müssen die Gebühr ebenso wenig zahlen wie Berufspendler, Studenten, Familienangehörige und Betreuungspersonen, Handwerker, Lieferanten – und alle Bewohner des Veneto, der Region zwischen Verona und der Adria. Gerade die Besucher aus dem Veneto aber machen einen nicht unerheblichen Teil des Tagestourismus aus, vor allem an den Wochenenden.
Weit über 50 Prozent der Venedig-Besucher könnten eine Ausnahmebewilligung in Anspruch nehmen, schätzen Experten und halten die Massnahme für weitgehend wirkungslos. Ganz abgesehen vom niedrigen Tarif, der sowieso niemanden abschrecke.
Ein Teufelskreis
Es sind viele Interessen im Spiel in Venedig, zu viele. Für die Betreiber von Taxischiffen, die Vermieter von Bed-and-Breakfast-Zimmern, die fliegenden Händler, die Inhaber von Schnellimbissen und Restaurants sind die Besucher eine Goldgrube. Selbst Massimo Penna, der seit Jahrzehnten als Fischverkäufer auf dem Rialto-Markt arbeitet, hofft auf viele Gäste. Manch ein Tourist bereite sich in seiner Ferienunterkunft eine schöne Dorade oder eine Seezunge zu, sagt er, während er die nicht verkaufte Ware in Styropor-Kisten packt.
Andere haben es schwerer: Coiffeure, Handwerksbetriebe, Haushaltgeschäfte – sie finden immer weniger Kunden und können die hohen Mieten nicht mehr zahlen. Damit geht städtische Lebensqualität verloren. Es ist ein Teufelskreis.
Viele Bürgerinnen und Bürger bekunden Mühe mit der Vorstellung, dass sie künftig für den Zutritt zu ihren Häusern Dokumente vorlegen müssen. Einige Kommunalpolitiker haben bereits zu zivilem Ungehorsam aufgerufen und bieten Rechtshilfe an für diejenigen, die sich zur Wehr setzen. Der oppositionelle Partito Democratico hält die Massnahme für einen plumpen Versuch der Mitte-rechts-Stadtregierung, Kasse zu machen.
Der Gemeinderat Venturini kennt die Argumente – und weist sie von sich. Er selbst nehme viel Zustimmung bei den Leuten wahr. «Natürlich gibt es auch Ängste», räumt er ein, «aber sehen Sie: Es gibt kein magisches Rezept für dieses Problem.» Die jetzige Stadtregierung sei die erste, die es ernsthaft angehe. Jahrzehntelang habe man diskutiert, Studien angefertigt, Masterpläne aufgelegt – aber geschehen sei nichts. «Wir leisten jetzt echte Pionierarbeit.» Nach der Auswertung der Versuchsphase wisse man, an welchen Stellschrauben man noch drehen müsse. Auch über die Höhe der Gebühr werde sicher noch einmal diskutiert.
Fragwürdige Einigung mit der Unesco
Auch die jetzige Stadtregierung unter Luigi Brugnaro brauchte indessen mehrere Anläufe – und zuletzt einen Schubs durch die Unesco. Die Uno-Kulturorganisation hatte damit gedroht, Venedig auf die rote Liste des bedrohten Weltkulturerbes zu setzen, weil die Stadt aufgrund des Massentourismus und des Klimawandels irreversiblen Veränderungen ausgesetzt sei. Plötzlich ging es rasch: Was immer wieder verschoben wurde, wird jetzt Realität.
Kritiker vermuten allerdings einen faulen Deal. Die politischen Instanzen der Unesco hätten sich von Bürgermeister Brugnaro über den Tisch ziehen lassen und die Drohkulisse im Wissen darum, dass das Ticket wenig bis nichts bringe, verdächtig rasch fallen gelassen. Matteo Secchi von «Venessia.com» hat nur Hohn und Spott für die Weltkulturorganisation übrig. «Sie müsste viel mehr Druck machen.»
Jan van der Borg sieht das ähnlich. Er ist Professor für Tourismuswirtschaft und -management an der Katholischen Universität im belgischen Löwen und koordiniert an der Universität Ca’ Foscari in Venedig die Masterstudiengänge in Tourismuswirtschaft. Daneben berät er als unabhängiger Experte die EU-Kommission und war auch schon als Berater einer früheren venezianischen Stadtregierung tätig. Er sei sehr enttäuscht, sagt er, dass die Unesco sich mit dem Ticket habe abspeisen lassen. Denn dieses löse keines der Probleme.
Was Venedig vielmehr benötige, sei eine langfristige Strategie. Der Tourismus bringe der Stadt zwar viel Geld, aber nur ganz wenige, meist global tätige Unternehmen profitierten wirklich davon. Die meisten lokalen Firmen und die Bevölkerung hingegen hätten die negativen Folgen zu tragen.
Das belgische Flandern mit seinen Top-Destinationen Brügge oder Gent habe die Weichen kürzlich anders gestellt. Dort setze man auf Qualität statt Quantität. Die Tourismuspolitik sei ganz auf die lokale Wirtschaft ausgerichtet worden. Das sei der richtige Ansatz. Es brauche zum Beispiel ein besseres Kulturangebot, Anreize, länger in der Stadt zu bleiben, ganz generell den Mut, «elitärer zu werden» – hochstehender, nicht teurer, wie er präzisiert.
Jan van der Borg weiss aber auch: Es gibt für Venedig keine einfachen Lösungen. Die Einführung einer Maximalzahl von Besuchern zum Beispiel hält er für zu restriktiv und autoritär – schliesslich gebe es ein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit. «Wer soll entscheiden, welche Personen in die Stadt eingelassen werden und welche nicht?»
Eine Weltregierung?
Aber halt! Venedig war doch die Königin der Adria, ja des Mittelmeers. In ihren Glanzzeiten spielte die Stadt trotz geringen Ressourcen und verstreuten Herrschaftsgebieten eine geopolitische Rolle. Selbst Grossmächte wie Byzanz und das Heilige Römische Reich vermochten Venedig nicht in die Schranken zu weisen. Die Stadt setzte die Schlagkraft ihrer Kriegsflotte gnadenlos ein, sie verfügte Handelsblockaden, wenn sie es für richtig hielt, und sie verstand es, zur rechten Zeit auch die feinere Klinge ihrer überlegenen Diplomatie zu führen. Und nun soll sie mit den Touristen des 21. Jahrhunderts nicht fertigwerden?
Ein letzter Gesprächstermin also, diesmal bei einem Historiker. Riccardo Calimani holt uns bei der Vaporetto-Station Ca’ d’Oro ab und führt uns in seinen Palazzo. Von seinem Arbeitszimmer geht der Blick direkt auf den Canale Grande. Calimani verfügt über eine imposante Bibliothek, die eigenen Werke des 78-jährigen Autors beanspruchen darin nicht wenig Platz. Mehrere Dutzend Bücher hat er verfasst, darunter Standardwerke über die Geschichte der Juden in Venedig. Bis vor wenigen Jahren war er Honorarkonsul der Schweiz. Seine Familie ist seit über fünfhundert Jahren in Venedig ansässig.
«Lächerlich und dumm» nennt er die Beschlüsse der Stadtregierung. Es zeuge von wenig Stil und Eleganz, wenn man die Gäste nun mit einer Registrierungs- und Bezahlpflicht behellige. Was der Stadt fehle, sei eine Idee davon, wie sie sich in Zukunft entwickeln solle. Venedig habe Potenzial, die Stadt sei eigentlich sehr modern. «Haben Sie schon bemerkt, dass man die Leute hier miteinander sprechen hört?», fragt Calimani und fügt an: «Das ist doch einmalig, wenn man es mit anderen Städten vergleicht, wo der Autoverkehr alle menschlichen Geräusche übertönt.»
Die Stadt müsste ein «pensatoio» werden, meint er, ein Ort des Denkens, des Austauschs, des Gesprächs, ein Reich des Immateriellen. Hochschulen, Verlage oder Filmproduktionsfirmen würden hier ideale Voraussetzungen finden, und man könnte so das Image der Stadt ändern.
Dafür müsste man die Stadt aber den lokalen Interessengruppen entreissen. «Venedig ist eine Stadt für die Welt, es müsste eigentlich von den weltweit besten Experten regiert werden, jedenfalls nicht von den Venezianern und auch nicht von den Italienern.»
Eine Weltregierung also für eine Weltstadt? Riccardo Calimani weiss, dass das utopisch klingt. Ist er trotzdem optimistisch für Venedig? Er stehe, antwortet er nach einer kurzen Pause, immer mit einem Bein auf dem Vaporetto und mit dem anderen noch auf der Haltestelle. «Da ist die Gefahr gross, dass man ins Wasser fällt.»