Ein Besuch an einem Orientierungstag der Armee für Frauen.
Orientierungstag der Armee für Frauen, Waffenplatz Zürich-Reppischtal, Birmensdorf, vormittags um Nullneunhundert militärischer Zeit: Hauptmann Sabrina Hauri steht in Tarnanzug und Kampfstiefeln im Unterrichtsraum der Kaserne. Hauri ist 27 Jahre alt, hat den Grad eines Hauptmanns, arbeitet in der Militärverwaltung Zürich und organisiert Orientierungstage für die Armee. Hauri hat in der Panzertruppe gedient. Sie weiss, was es heisst, alleine unter Männern zu sein.
«Von Frau zu Frau», steht hinter Hauri auf der ersten Powerpoint-Folie. Der Orientierungstag in Birmensdorf ist von Frauen für Frauen, um über Themen zu sprechen, die Frauen im Militär betreffen: Leistungsdruck, Menstruation, Sexismus.
Die Orientierungstage sollen helfen, Frauen in die Armee zu holen. Die Verteidigungsministerin Viola Amherd will bis 2030 einen Anteil von zehn Prozent. Frauen würden in der Armee neue Sichtweisen und Ansätze einbringen, sagte Amherd. Es gehe darum, die besten Soldaten zu rekrutieren. Oder eben: Soldatinnen.
Derzeit liegt die Zahl der Frauen in der Armee unter zwei Prozent. Auch kommen nur wenige Frauen an die Orientierungstage. Der Kanton Zürich hat allen Frauen, die 18 oder 21 Jahre alt sind, eine Einladung geschickt. 35 Frauen sind der Einladung gefolgt. Nun sitzen sie in einem Raum in Birmensdorf. Und zweifeln.
Frauen seien für die Armee ungeeignet
Vor Hauptmann Hauri lauscht eine Gruppe junger Frauen zwischen 18 und 24 Jahren. Sie arbeiten als Automechanikerin, Kauffrau, Köchin. Die Teilnehmerin Julie sagt, sie wolle in der Armee ihre Grenzen austesten, sich selbst etwas beweisen. Marija interessiert sich für die Kameradschaft unter den Rekruten, von der sie oft hört in ihrem Umfeld.
Die Frauen nennen die Landesverteidigung oder den Dienst an der Gesellschaft erst als dritten oder vierten Grund, um zur Armee zu gehen. Ähnlich ist es bei den Männern, wie Studien der Armee belegen. Hauptmann Sabrina Hauri wird an diesem Tag immer wieder sagen, dass sich der Armeedienst fürs Berufsleben lohne, dass man sich selbst etwas beweisen könne, sich persönlich weiterentwickle. Es geht oft darum, was der Dienst einem für das spätere Leben bringt. Was die Armee für den Soldat tut. Nicht umgekehrt.
Am Orientierungstag begegnen die Frauen zum ersten Mal weiblichen Soldaten. «Sie isch voll de Fätze», sagt eine Teilnehmerin über eine der Frauen im Militärtenue. «Ja gäll, sie isch abartig en Fätze», so stimmt die Freundin ein. Die jungen Frauen sind beeindruckt davon, dass Frauen Leutnant oder Hauptmann werden können. Und wirken plötzlich bestärkt.
Bundesrätin Amherd lässt derzeit die Möglichkeit prüfen, den Orientierungstag für Frauen obligatorisch zu machen. Bis jetzt kennen die meisten Frauen die Armee nur über die Geschichten ihrer Väter und Brüder. Die feuchtfröhlichen Abende in der Beiz, die primitiven Taufen für Neulinge, das Warten und Jassen und Rauchen.
Wenn die Frauen von ihrem Interesse am Militärdienst erzählen, reagiert das männliche Umfeld oft kritisch. Sie würden von Männern hören, dass die Rekrutenschule für eine Frau zu anstrengend sei, sagen mehrere der Teilnehmerinnen in Birmensdorf. Sie würden von den Männern belächelt für ihr Interesse an der Armee.
Die Ansicht, Frauen seien für den Militärdienst ungeeignet, hält sich hartnäckig. 1869 schrieb Oberst Emil Rothpletz, Professor für Militärwissenschaften an der ETH in Zürich, Frauen hätten die Aufgabe, ein «gesundes, kräftiges Geschlecht» zu gebären. Das «Weib» habe eine für den Krieg und die Zukunft des Vaterlandes bedeutungsvolle, aber «doch nur primitive Aufgabe». Und noch 2009 schrieb das Bundesgericht in einem Urteil, Frauen seien im Durchschnitt weniger gut geeignet für den Militärdienst, da «gewichtige physiologische und biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern» bestünden. Daher sei die Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer zulässig.
Im Jahr 2024 wirken solche Sätze wie schlechte Witze. Und wenn Frauen heute hören, was die Jungs im Militärdienst so treiben, dann fragen sie sich schon, warum sie weniger geeignet sein sollen.
Frauen dienen zudem seit langem in der Armee. Sie pflegten im Ersten Weltkrieg als Rotkreuzschwestern die verletzten Soldaten, die bei einem Gefangenenaustausch in die Schweiz gebracht wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Frauenhilfsdienst gegründet: Frauen waren Sekretärinnen, Pflegerinnen, sie versorgten die Truppen und kümmerten sich um die Haltung der Brieftauben. 1934 führte die Armee den Luftschutzdienst ein, der für unverheiratete Frauen zwischen 20 und 23 Jahren obligatorisch war.
Als im Kalten Krieg die Angst vor einem Atomangriff stieg, sollten Frauen lernen, wie man einen Schutzraum einrichtet und Erste Hilfe leistet. 1957 wollte der Bundesrat den Zivilschutz für Frauen obligatorisch machen, die Vorlage kam zur Abstimmung, die Männer sagten Nein. Ab den 1980er Jahren gab es den «militärischen Frauendienst». Frauen konnten Brigadiers werden, der höchste Rang für Milizoffiziere in der Schweizer Armee. Seit den 1990er Jahren tragen Frauen eine Waffe. Doch erst seit der Armeereform 2001 stehen ihnen alle Funktionen offen.
Ein Schritt nach dem anderen, und es dauert ewig. Wie auf einem Hundertkilometermarsch.
Die Debatte über die Wehrpflicht der Frauen ist so alt wie die erste Schweizer Bundesverfassung. Doch die Idee, dass Frauen Militärdienst leisten müssen, ist auch 2024 nicht mehrheitsfähig. Selbst Frauen, die in der Armee dienen oder gedient haben, sind sich uneins. Das häufigste Argument: Solange Frauen mehr Pflege- und Erziehungsarbeit leisteten und es eine Lohnungleichheit gebe, sollte ein Militärdienst freiwillig bleiben. Andere sagen: Wer dieselben Rechte fordert, muss dieselben Pflichten haben.
Doch abseits der politischen Debatte hat sich in den letzten Jahren in der Armee etwas getan. Erstmals leitet eine Frau das Verteidigungsministerium. Und die Frauen, die in der Armee gedient haben, fordern Veränderungen. Es scheint, als sei etwas in Gang gekommen.
Mehr Gleichberechtigung dank Wehrpflicht?
Caroline Weibel ist Leutnant in der Infanterie und im Vorstand des Vereins «Frauen im TAZ». Der Verein wurde 2020 von dreizehn Frauen gegründet, er ist das erste Netzwerk für Frauen in der Armee und der Sicherheitsbranche; der TAZ ist der Tarnanzug der Schweizer Armee. Für Weibel hat der Militärdienst mit Gleichstellung zu tun: «Wenn ich Gleichstellung fordere, muss ich auch einen Beitrag leisten», sagt sie. Doch der Beitrag müsse nicht derselbe sein, um gleich gewertet zu werden.
Frauen gehe es in der Armee oft darum, von Männern aufgenommen und respektiert zu werden, sagt Weibel. Frauen hätten das Gefühl, sie müssten das Gleiche können wie die Männer. «Doch Inklusion bedeutet nicht, sich den Männern anzupassen.» Sie selber sei von den Männern in der Armee grundsätzlich respektiert worden, auch wenn sie wegen der körperlichen Voraussetzungen mehr kämpfen musste, um mithalten zu können. Dafür habe sie sich öfter freiwillig für unbeliebte Aufträge gemeldet. Und immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Kameraden gehabt.
Weibel hat als Zugführerin im Infanteriebataillon gedient. Sie hat also Gruppen von Männern geleitet. Die Führungsrolle helfe ihr im Berufsleben, sagt sie. Und es helfe den Männern, weil sie lernen würden, sich von Frauen führen zu lassen.
Die Armee sei eine kollektive Erfahrung, eine Lebensschule und Ausbildung zur Führungsperson, sagt Weibel. «Doch solange die Armee sich ausschliesslich auf Männer bezieht, werden die Frauen von diesen Möglichkeiten ausgeschlossen.»
Weibel setzt sich dafür ein, dass mehr Frauen zur Armee gehen. Und sie ist für eine allgemeine Wehrpflicht. Mehr Frauen in der Armee zu haben, würde laut Weibel helfen, die von Männern aufgebauten Strukturen zu verändern. Und vielleicht würden dann die männlichen Denkweisen stärker hinterfragt, die männliche Sprache, der männliche Habitus. All der mit dem Militär verbundene Machismo.
Heute gibt es in der Armee für Frauen einen Ausgänger, einen Tarnanzug und einen knielangen Rock mit einer schwarzen Lederhandtasche. Doch der Tarnanzug ist auf den Männerkörper zugeschnitten, die Frauen nähen sich die Hosen zu Hause selbst um. Die Ärmel der Jacke krempeln sie hoch. Frauen können heute alles werden, heisst es in der Armee. Doch die Kleider, die sie jeden Tag tragen sollen, passen ihnen nicht.
In vielen Kasernen fehlen Frauengarderoben und -toiletten. Frauen schlafen in Einzelzimmern, die für Offiziere gedacht sind. Sie halten sich somit häufig in anderen Gebäuden auf als die Männer, das grenzt sie sozial aus. Und militärische Grade wie Hauptmann oder Soldat existieren in weiblicher Form nicht. Sie heissen Hauptmann Hauri und Leutnant Weibel.
Weibel sagt, dass das Bewusstsein für die strukturellen Probleme von Frauen in der Armee fehle. Der Verein «Frauen im TAZ» hat der VBS-Chefin Amherd eine Liste mit Massnahmen überreicht, die die Stellung und die Sichtbarkeit von Frauen in der Armee verbessern sollen. Eine Forderung ist die Arbeit an wissenschaftlichen Studien, denn wenn es exakte Zahlen und Berichte über die Situation der Frauen gäbe, täte sich vielleicht etwas.
Das VBS hat 2022 die Fachstelle «Frauen und Diversity in der Armee» gegründet, die nun eine Umfrage zu Sexismus in der Armee durchgeführt hat. Die Studie hätte im Dezember publiziert werden sollen. Doch nun, sagt das VBS, komme sie frühestens im Juni.
Die Armee wirbt um Frauen
Sexismus in der Armee ist auch bei den Teilnehmerinnen am Orientierungstag in Birmensdorf ein Thema. Männer würden ihnen sagen, dass Frauen von den männlichen Rekruten blöd angemacht und mit sexistischen Sprüchen beleidigt würden. Eine Teilnehmerin sagt: «Ich frage mich, wie ich in der Rekrutenschule mit der Menstruation umgehen soll. Manche Frauen krümmen sich vor Schmerzen, wenn sie ihre Tage haben. Wo kann ich es ansprechen, wenn es während eines Marsches passiert?»
Hauptmann Sabrina Hauri sagt, sie habe sich vom Gynäkologen als Vorbereitung für den Militärdienst beraten lassen und für sich die beste Lösung gefunden. Sie rät jeder Frau, sich Gedanken über die Monatsblutung während des Dienstes zu machen. Zudem sollen sich die Frauen darauf vorbereiten, sich gegen mögliche sexistische Sprüche zu wehren.
Sind es wirklich die Frauen, die lernen sollten, sich zu wehren? Oder sind es nicht vielmehr die Männer, die sensibilisiert werden müssten? Und warum liegt die Verantwortung allein an der Frau, wenn sie im Militär glücklich werden will? Darauf liefert der Orientierungstag keine Antworten.
Das VBS versucht mittlerweile, die Frauen mit Werbekampagnen von der Armee zu überzeugen. Der Slogan lautet: «Sicherheit ist auch weiblich». In einem Bericht von 2021 schreibt die Arbeitsgruppe «Frauen in der Armee», Frauen sollten für den Schutz der Bevölkerung oder die militärische Friedensförderung motiviert werden. Etwa durch Soldatinnen oder Influencerinnen in sozialen Netzwerken.
Die Teilnehmerinnen Julie und Marija sagen, sie wollten gleich angesprochen werden wie die Männer. Den Orientierungstag für Frauen fänden sie trotzdem gut. Sie könnten herausfinden, was zu ihnen passe. Auf dem Programm steht: mit Pistolen und Sturmgewehren auf fiktive Ziele an Bildschirmen zielen. In einen Panzer klettern. Sich auf die Militärpritsche legen. Kampfstiefel anziehen.
Im Materialraum zieht eine Teilnehmerin, 1 Meter 50 gross, eine übergrosse Splitterschutzweste an, wirft einen vollbepackten Rucksack auf den Rücken und hievt sich eine Granatwaffe auf die Schultern. «Das Equipment ist schwerer, als ich dachte», sagt sie. Sackt leicht zusammen. Und marschiert los.