Noch immer sind 59 Geiseln im Gazastreifen – darunter ist auch Nimrod Cohen. Im Interview sagt seine Mutter, weshalb sie auf Donald Trump vertraut und warum sie trotz allem Zuversicht verspürt.
Als die Hamas am Morgen des 7. Oktober 2023 die Militärbasis Nahal Oz überfällt, sind dort lediglich zwei Panzer der israelischen Armee stationiert. In einem von ihnen sitzt der damals 19-jährige Nimrod Cohen, sich mit seiner Mannschaft den Terroristen entgegenstellt. Doch der Panzer kommt unter Beschuss, die Besatzung muss ihn verlassen – und die jungen Soldaten geraten in die Hände der Hamas.
Seit jenem Tag wird Nimrod Cohen als Geisel im Gazastreifen gehalten. Und seit jenem Tag kämpft seine Familie unermüdlich für seine Freilassung. Vater Yehuda Cohen ist nach Paris, Den Haag, Rio de Janeiro und fünf Mal in die USA gereist, um sich für seinen Sohn einzusetzen. Yotam, Nimrods Bruder, tritt regelmässig an Protesten in Israel auf. Und Mutter Vicky Cohen kommt mehrmals pro Woche zum «Platz der Geiseln» in Tel Aviv, um zu demonstrieren. Dort empfängt die zierliche Frau mit dem Lockenkopf die NZZ zum Gespräch.
Frau Cohen, Sie haben kürzlich ein Lebenszeichen von ihrem Sohn erhalten. Wie war das für Sie?
Vor ein paar Tagen hat die Hamas ein Video veröffentlicht. Darin ist Nimrods Gesicht verpixelt. Doch wir haben ihn an der Tätowierung auf seinem Arm erkannt. Wir wussten zwar, dass die Armee davon ausgeht, dass er noch lebt. Aber dieses Video war das erste sichtbare Lebenszeichen. Zu sehen, dass Nimrod auf seinen Füssen steht, hat mich glücklich gemacht. Gleichzeitig mache ich mir nun noch mehr Sorgen um ihn.
In dem Propaganda-Video verabschiedet sich Yair Horn kurz vor seiner Freilassung am 15. Februar von seinem Bruder und anderen Geiseln. Haben Sie sich inzwischen mit Yair getroffen?
Mein Mann hat mit ihm gesprochen. Dabei hat er erfahren, dass Nimrod und die anderen in Tunneln festgehalten werden, ohne frische Luft, Sonnenlicht oder Nachrichten. Die einzigen Informationen, die sie erhalten, stammen von ihren Entführern.
Was wissen Sie über den Gesundheitszustand Ihres Sohnes?
Laut Yair geht es ihm körperlich gut. Aber er sei sehr, sehr aufgebracht und spreche viel über seine Familie. Er wisse, dass wir alles tun, um ihn zurückzubringen. Yair hat uns eine Nachricht von Nimrod überbracht: «Sag meinen Eltern, dass es mir gut geht, dass ich sie liebe und dass sie sich keine Sorgen machen müssen.» Das ist so typisch für Nimrod. Er denkt immer an die anderen, nie an sich selbst, sogar in diesem Tunnel.
In den letzten Wochen sind 24 Geiseln lebend aus dem Gazastreifen zurückgekehrt. Sie wussten, dass Nimrod nicht darunter sein würde – als Soldat soll er erst in einer zweiten Phase freikommen. Das muss sehr aufwühlend gewesen sein.
Ich hatte gemischte Gefühle. Einerseits war ich froh, dass diese Geiseln endlich zu ihren Familien zurückkehren konnten. Andererseits hatte ich grosse Angst um Nimrod. Wann werde ich in der Lage sein, meinen Sohn in die Arme zu schliessen und ihm zu sagen, wie sehr ich ihn vermisst habe? Ich weiss es nicht. Ich bin beunruhigt über die vielen Stimmen in der Regierung, die eine zweite Phase ablehnen. Umso mehr müssen wir Druck auf Ministerpräsident Netanyahu ausüben.
Der jüngste Protest am Samstagabend stand unter dem Motto «Die Zeit läuft ab».
Die Geiseln befinden sich seit mehr als 520 Tagen in Haft. In den vergangenen Wochen haben wir gesehen, in welch furchtbarem Zustand sie zurückgekehrt sind. Wir haben gehört, wie sie behandelt wurden. Sie haben keine Zeit mehr. Wir haben die Pflicht, sie sofort zurückzubringen.
Erhört die Regierung ihren Protest?
Wir alle wissen, dass die Regierung nicht genug tut, um die Geiseln zurückzubringen. Netanyahu handelt nur in seinem eigenen Interesse. Die Verschleppten kümmern ihn nicht. Doch es geht nicht nur um die Geiseln oder ihre Familien. Es geht um die traumatisierte israelische Gesellschaft, die nach dem 7. Oktober wieder aufgebaut werden muss. Aber Netanyahu ignoriert das.
Es gibt Minister in der Regierung, die sagen, die Vernichtung der Hamas sei wichtiger als die Befreiung der Geiseln. Was sagen Sie dazu?
Während mehr als einem Jahr des Krieges ist es uns nicht gelungen, die Hamas zu zerstören. Wieso soll das nun anders sein? Wenn wir den Krieg wieder beginnen, gefährden wir nicht nur das Leben der Geiseln, sondern auch das Leben unserer Soldaten. Wir müssen eine Vereinbarung mit der Hamas erzielen. Wir haben die Unterstützung der Amerikaner. Mit ihnen müssen wir eine Lösung finden, dass die Hamas keine Gefahr mehr für Israel darstellt und sich der 7. Oktober nicht wiederholt.
Wollen Sie damit sagen, dass man das Problem der Hamas auch noch später angehen kann?
Ja. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, Leben zu retten. Eine riesige Mehrheit der Israeli ist der Meinung, dass es eine zweite Phase geben muss. In der Gesellschaft gibt es diesen Konsens, in der Politik nicht. Klar ist: Geht der Krieg wieder los, verlieren alle.
Israel hat die humanitäre Hilfe und die Stromversorgung für den Gazastreifen gestoppt, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen. Glauben Sie, dass das helfen wird, Ihren Sohn zurückzubringen?
Von den Geiseln, die zurückkamen, haben wir gehört, dass jede Reduzierung der humanitären Hilfe durch Israel Auswirkungen auf die Verschleppten hatte: Sie bekamen weniger Nahrung. Deshalb mache ich mir vor allem Sorgen.
Sie haben die Unterstützung der USA angesprochen. Welche Rolle spielt Donald Trump?
Trump ist sehr wichtig für uns. Wir vertrauen ihm, denn wir sehen, dass die Geiseln seinetwegen zurückgekommen sind. Bevor er gewählt wurde, ist nichts passiert. Wir vertrauen darauf, dass er Druck auf die Hamas und unsere Regierung ausübt, um diesen Krieg zu beenden. Wobei es vor allem unsere Regierung ist, die sich weigert.
Wie haben Sie am 7. Oktober herausgefunden, dass Nimrod entführt worden war?
Am jenem Samstag sah mein Mann ein Video, in dem er Nimrod erkannte. Darin ist zu sehen, wie die Terroristen ihn aus dem Panzer holen und über den Boden schleifen. Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich konnte nicht atmen. Wir riefen bei der Armee an, baten um Antworten. Sie sagten, sie würden sich melden. Aber niemand meldete sich, niemand wusste etwas. Erst am Sonntagabend kam ein Offizier zu uns und sagte, dass Nimrod entführt wurde. Von diesem Moment an änderte sich unser Leben.
Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?
Zuerst sprachen wir nicht öffentlich über Nimrod. Die Armee hatte uns gesagt, dass die Hamas alle Informationen gegen ihn verwenden könnte. Also haben wir geschwiegen. Aber irgendwann haben wir verstanden, dass Nimrod in Vergessenheit gerät, wenn wir nicht über ihn sprechen. Dass wir protestieren müssen.
Inzwischen haben Sie ihre Stelle gekündigt, um sich für Vollzeit für die Geiseln einzusetzen. Wie sehen Ihre Tage seitdem aus?
Ich gebe Interviews, ich komme auf den «Platz der Geiseln» in Tel Aviv, ich treffe andere Angehörige von Verschleppten. Und ich bin eine Mutter. Ich habe noch zwei weitere Kinder. Wir brauchen einander, damit wir nicht verrückt werden. Jeden Abend verbringen wir Zeit miteinander, um uns gegenseitig zu unterstützen. Jeder von uns hat manchmal einen schlechten Tag. Aber wir geben uns gegenseitig Kraft. Wenn Nimrod zurückkommt, braucht er eine starke Mutter.
Trotz allem wirken Sie auf mich optimistisch.
Das bin ich. Ich bin ein spiritueller Mensch. Wenn ich alleine bin, mache ich kleine Meditationen und schicke positive Energie an Nimrod. Ich glaube, dass er das spürt. Und ich glaube, dass gute Tage kommen werden. Netanyahu wird nicht für immer Ministerpräsident sein. Wir brauchen eine neue Regierung, die an das Wohl des Landes denkt und nicht nur an sich selbst.