Vietnam ist ein Land zwischen Kommunismus und Turbokapitalismus. Aber durch den Handelsstreit zwischen den USA und China ist das Erfolgsmodell bedroht.
Vietnams Wirtschaft boomt, dieses Jahr soll sie um 6,5 Prozent wachsen, und damit dürfte das Land besser abschneiden als alle anderen Länder in der Region. Vietnam hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Exportland entwickelt, es liefert Smartphones, Computer und Textilien in die ganze Welt. Die Wirtschaft wächst, davon zeugen die neuen glänzenden Hochhäuser in Hanoi. Vietnam, das ist aber auch ein kommunistisches Land, wo Strassenzüge mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen geschmückt sind.
In Vietnam geht das zusammen: Kommunismus und Kapitalismus.
Wer sich vergewissern will, dass Vietnam trotz Wirtschaftswunder ein kommunistisches Land ist, sollte zum Ho-Chi-Minh-Mausoleum in Hanoi fahren. Hier liegt der Vordenker des vietnamesischen Kommunismus einbalsamiert in einem Glassarg. Hunderte Schulkinder mit roten Halstüchern stehen Schlange, um ihn zu sehen. Im nebenstehenden Museum erklärt ein Zehnjähriger auf einem Schulausflug in fliessendem Englisch, dass Onkel Ho, wie er in Vietnam genannt wird, ein grosser Führer gewesen sei. So hat er es in der Schule gelernt.
Vietnam ist gleichzeitig Turbokapitalismus und Einparteistaat, rote Halstücher für Schulkinder, aber auch qualitativ hochwertiger Englischunterricht. Fast alle jungen Leute in Vietnam sprechen Englisch.
Das Land öffnete sich nach chinesischem Vorbild
Das vietnamesische Wirtschaftswunder begann Ende der 1980er Jahre. 1975 endete der Vietnamkrieg. Zwar gewannen die nordvietnamesischen Kommunisten gegen die amerikafreundlichen Südvietnamesen. Das vereinte Land lag allerdings in Trümmern. Die Krise verschlimmerte sich durch dogmatische Entscheidungen der Machthaber: Kollektivierung und Wirtschaftspläne funktionierten nicht, die Menschen litten Hunger, die amerikanische Regierung hatte das Land zudem vom Westen isoliert.
1986 öffnete die Kommunistische Partei die Wirtschaft, ausländische Investoren wurden angelockt – die Reformen geschahen nach chinesischem Vorbild. Und auch in Vietnam resultierten sie in enormem Wachstum: Ausländische Hersteller strömten ins Billiglohnland. 1995 trat Vietnam dem Wirtschaftsraum Asean bei und unterschrieb ein Handelsabkommen mit dem einstigen Erzfeind USA.
Seither wuchs Vietnams Wirtschaft, abgesehen von den Covid-Jahren, stetig weiter. Das Land hat sich erfolgreich als Hersteller komplexer Elektronik positioniert: Apple produziert in Vietnam, Samsung und auch Nintendo. Als sich der Handelsstreit zwischen China und den USA während der ersten Trump-Regierung anbahnte, war Vietnam einer der grossen Profiteure: Immer mehr ausländische Hersteller wollten sich nicht mehr auf China als alleinigen Produktionsstandort verlassen. Viele verschoben Teile ihrer Produktion nach Vietnam.
Die Bevölkerung profitiert vom Boom. Lag das Pro-Kopf-Einkommen bei der Öffnung des Landes 1986 noch bei 100 Dollar, waren es 2023 4000 Dollar. Vietnam ist zudem ein junges Land, das Medianalter liegt bei 33 Jahren – und ist damit bedeutend tiefer als in China (40) und Japan (50). Es fehlt nicht an Arbeitskräften, die aufsteigen und Geld verdienen wollen.
Die Wirtschaftsreformen führten allerdings zu wenig politischen Reformen. Vietnam ist noch immer ein kommunistischer Einparteistaat. Die Stiftung Freedom House stuft Vietnam als «unfrei» ein. Wer sich kritisch gegen den Staat und die Partei äussert, dem drohen noch immer Haft, eine freie Presse gibt es nicht, stattdessen staatlich kontrollierte Medienorgane.
Vietnam muss zwischen den Grossmächten navigieren
Das Erfolgsmodell Vietnams gerät in diesen Tagen unter Druck. Gerade jetzt, rund um die Feierlichkeiten zu fünfzig Jahren Kriegsende, die Vietnam gross begeht. Die Anfang April angekündigten Zölle der Trump-Regierung waren hoch – höher, als die Regierungsvertreter wohl angenommen hatten: 46 Prozent. Dies, nachdem Vietnam unter der Biden-Regierung noch eine umfassende strategische Partnerschaft mit den USA eingegangen war und sich die Länder weiter angenähert hatten – und obwohl die Regierung Vietnams schon vor der Ankündigung der neuen Zölle signalisiert hatte, den USA entgegenzukommen und ihrerseits Zölle zu senken.
Trumps Zölle sind derzeit ausgesetzt, aber sie wären eine Katastrophe für Vietnams exportorientierte Wirtschaft. Die USA sind der grösste Abnehmer von vietnamesischen Produkten, rund ein Drittel aller vietnamesischen Exporte landet in den USA.
Vor wenigen Tagen publizierte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, To Lam, in den Staatsmedien einen Essay anlässlich des Kriegsendes. Er schrieb: «Heute sind Vietnam und die USA – die einstigen Feinde – umfassende strategische Partner, kooperieren für Frieden und den Wohlstand beider Bevölkerungen und für Sicherheit und Stabilität in der Region.»
Die Trump-Regierung allerdings verordnete ihren Diplomaten laut der «New York Times», den Feierlichkeiten zum Kriegsende fernzubleiben. Ein Bann, der später abgeschwächt wurde.
Die Zölle sind eine amerikanische Warnung an Vietnam: Das Land pflegt auch enge Beziehungen zu China. Diese sind zwar historisch von gegenseitigem Misstrauen geprägt – China marschierte 1979 in Vietnam ein. Allerdings sind sich die Regierungen ideologisch näher. China ist das zweitwichtigste Exportland für vietnamesische Produkte. Der chinesische Präsident Xi Jinping wurde erst im April in Hanoi empfangen. Xi Jinping liess in den Staatsmedien ebenfalls einen Essay veröffentlichen, darin hiess es, Hanoi und Peking sollten enger kooperieren.
Der vietnamesische Kommunismus braucht den Kapitalismus
Vietnam dürfte sich auch in Zukunft weigern, im Handelsstreit klar Position zu beziehen. Zu wichtig sind sowohl die USA als auch China als Exportländer – aus China kommen zudem viele Teile, die in Vietnam zu Smartphones oder Computern zusammengeschraubt werden. Das Land versucht also, durch die Spannungen zwischen den Grossmächten irgendwie zu navigieren: Der Parteiführer To Lam gehörte zu den ersten Staatschefs, die Trump nach der Zollankündigung anriefen. Er bot an, die Zölle für amerikanische Produkte gänzlich abzuschaffen, sollten die USA dasselbe tun. Kurz darauf wurden die neuen Zölle erst einmal für 90 Tage ausgesetzt. Sollten sie tatsächlich eingeführt werden, dürfte die vietnamesische Regierung, ganz in Trumps Sinne, einen Deal machen.
Dass dieser Deal eine Ablösung von China beinhaltet, ist allerdings unwahrscheinlich: Vietnam braucht beide Handelspartner, um der jungen Bevölkerung Wohlstand und Perspektiven zu bieten.
Die jungen Menschen in Vietnam sind gut informiert und weltoffen. Vor kurzem hiess die Partei Studenten, einen Social-Media-Post des Parteiführers zu liken. Das kam nicht bei allen gut an, der Aufruf landete bei Radio Free Asia. Bietet ihnen die Partei irgendwann keine Stabilität und kein Wachstum mehr, könnten sie anfangen, das autoritäre Herrschaftssystem infrage zu stellen. Es ist eine Eigenheit des vietnamesischen Kommunismus, dass er ohne Kapitalismus nicht funktioniert.