Die 1938 in Riga geborene Künstlerin wird in den USA gefeiert, in Europa gilt sie aber immer noch als Geheimtipp. Jetzt ist sie mit einer fulminanten Schau in der Fondation Beyeler in Riehen zu entdecken.
Als Yves Klein eines Tages im Jahr 1946 in Nizza am Strand lag und nach oben schaute, entdeckte er den völlig wolkenlosen, blauen Himmel. Die Erfahrung des grenzenlosen Raums berührte ihn so sehr , dass er in einem bizarren Tagtraum beschloss, die andere Seite des Himmelsgewölbes mit seinem Namen zu signieren. Der französische Künstler sah darin das perfekte Kunstwerk. Darauf erfand er seine eigene Blaumischung und wurde zum Maler von reinem Blau. Seine tiefblauen Monochrome sind weltberühmt.
Diesen Besitzanspruch hat Vija Celmins nicht. «Die Farbe des Himmels ist meine! Und doch nicht meine», hat sie einmal notiert. Der Himmel gehört allen und niemandem, wollte sie wohl damit sagen. Allerdings verstand sie Yves Kleins Sehnsucht nach dem Blau des Himmels nur allzu gut – die Sehnsucht nach dem, was nicht ganz von dieser Welt ist. Die 1938 in Riga geborene, amerikanische Künstlerin sagte es anders: «Kunst zu schaffen, heisst, dem nachzuspüren, was wir nicht sagen können.»
Auf das Blau des Himmels hat Vija Celmins in ihrer Kunst zwar verzichtet. Dem Unfassbaren des Firmaments aber hat sie ihrerseits intensiv nachgespürt. Und ist dabei in seine tiefsten Sphären vorgestossen. Ihre Himmel sind nicht blau, sondern nachtschwarz. Es sind Himmel jenseits des blauen Himmelszelts. Vija Celmins hat Sternenhimmel gemalt, immer wieder. Und damit in ihre Kunst übertragen, was nicht ganz von dieser Welt ist.
Studien als stille Exerzitien
Sie hat sich schon immer für Dinge interessiert, die kaum fassbar sind, wie sie immer wieder betont hat. Als Kunststudentin in den frühen sechziger Jahren in Los Angeles liessen sie ihre ersten Versuche im Stil des damaligen Zeitgeists – Pop-Art, Minimalismus, Konzeptkunst – unbefriedigt. Sie interessierte sich eben für Dinge wie den «Himmel, der eigentlich nicht existiert. Ein Ding wie den Himmel gibt es nicht – wer weiss, was er ist.»
In der unmittelbaren Umgebung ihres Ateliers in Venice, Kaliforniern, das sie 1962 bezog, gab es vor allem ganz konkretes und fassbares Anschauungsmaterial: eine Tischlampe, einen elektrischen Heizkörper, eine Kochplatte. Sie malte diese Sachen im Massstab eins zu eins und in einer Palette gedämpfter Braun- und Grautöne. Die Herdplatte malte sie glühend heiss, das Orangerot auf ihrem Bild «Hot Plate» von 1964 leuchtet so intensiv, dass es ein Loch in die Leinwand brennen könnte.
Ihre Objektstudien sind geduldige Exerzitien, neutral, bescheiden, leise. Und erinnern an den italienischen Maler Giorgio Morandi. Seine Stillleben von Vasen hatte Vija Celmins erstmals 1960 in New York gesehen. Sie offenbarten ihr, dass Malerei nichts mit Grösse und auftrumpfender Geste zu tun haben muss. «Keine Komposition, keine Gesten, keine künstlerische Farbe, keine Verzerrung, kein Ich», meditierte sie 1964 in ihrem Notizbuch über diesen Befund.
In diesen schlichten Werken suchte die Künstlerin Distanz zu ihren Kindheitserinnerungen. Diese liessen sie anfänglich immer wieder Bilder von Krieg und Katastrophe malen: brennende Kampfflugzeuge, brennende Häuser, aufsteigender schwarzer Rauch, unheilverkündende Wolken. Während des Zweiten Weltkriegs war Vija Celmins mit ihrer Familie vor der Sowjetarmee aus Lettland nach Deutschland geflohen, 1948 emigrierten sie in die USA.
Ende der sechziger Jahre kehrte Celmins narrativen Inhalten den Rücken. Sie suchte nach Anschauungsmaterial, das nichts mit ihrer Biografie, nichts mit der Introspektion in den eigenen vier Wänden des Ateliers zu tun hatte. Es war der Wunsch, grösstmöglichen Abstand zu ihrer eigenen Geschichte zu halten. Am Strand machte sie lange Spaziergänge mit ihrem Hund. Ausflüge führten sie auch in die kalifornische Wüste. Der Ozean, die unendliche Landschaft: Das sind weite, grenzenlose Naturräume. Und darin fand Vija Celmins schliesslich, wonach sie suchte.
Sie interessierte sich plötzlich für Dinge, die eigentlich mit dem Auge schwer fassbar sind: die wellige Oberfläche des Meeres, das steinige Einerlei des Wüstenbodens – Dinge, «die in einem Atemzug verschwinden», wie sie einmal notierte. Daraus begann Celmins Seherlebnisse zu machen. Sie machte die unfassbare Tiefe des Raums visuell fassbar.
Schliesslich malte sie nur noch nach Fotos – Aufnahmen vom Meer, vom Wüstensand, vom Nachthimmel. Wobei sie kein Abbild der Vorlage anfertigt. Vija Celmins arbeitet nicht fotorealistisch im eigentlichen Sinn. Viel eher erschafft sie die Vorlage neu. Selbst Bilder von der Mondoberfläche, die sowjetische und amerikanische Raumsonden machten, dienten ihr jetzt als Arbeitsmaterial. Nach solchen Vorlagen aus Zeitschriften und Büchern zu zeichnen und zu malen, kam für sie einer Befreiung gleich. Entscheidungen kompositorischer oder inhaltlicher Art erübrigten sich nun. Diese Methode ermöglichte es ihr, ihrem Schaffen eine weitere Schicht der Distanz hinzuzufügen.
Tiefe von Zeit und Raum
Heute geniesst die 86-jährige Künstlerin in den USA hohes Ansehen. Gewürdigt wurde sie vor wenigen Jahren mit einer grossen Retrospektive im Metropolitan Museum of Art in New York. In Europa ist sie vor allem unter Kunstkennern bekannt, obwohl sie auch schon im Centre Pompidou in Paris oder im Museum Ludwig in Köln Ausstellungen hatte. Hiesigen Museen ist es bisher nur selten gelungen, eines ihrer raren Werke für ihre Sammlungen zu erwerben.
Nun zeigt die Fondation Beyeler ihr Schaffen in ganzer Breite und Tiefe. Die rund neunzig Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen aus einer Zeitspanne von ihren Anfängen in den frühen sechziger Jahren bis heute vermitteln einen umfassenden Überblick über eine nunmehr sechzig Jahre währende Künstlerkarriere.
Viele ihrer Werke muten beinahe abstrakt an. In zahllosen Schichten von Ölfarbe oder Grafit und Kohle versucht die Künstlerin die fotografische Vorlage bis ins kleinste Detail zu erfassen. Der unendliche Raum wird auf dem Bildträger zur endlosen Fläche. Es gibt darin keinen Horizont oder Fluchtpunkt, der Orientierung gäbe.
In ihren Bildern von der Meeresoberfläche fallen Ruhe und Bewegung, Oberfläche und Tiefe in eins. Es sind Bilder, die «nicht bestimmt und fassbar sind, sondern unermesslich gross, grenzenlose Weiten», wie es die Künstlerin einmal selber ausdrückte. Solche Distanznahme konnte nur noch gesteigert werden mit Vorlagen von Aufnahmen, die Milliarden von Lichtjahren entfernte Galaxien zeigen. Das Hubble-Weltraumteleskop macht seit den neunziger Jahren solche Ansichten möglich. In Celmins’ Sternenfeldern der «Night Sky»-Werkgruppe finden diese erstaunlichen kosmischen Ereignisse ihre künstlerische Entsprechung.
Da gleicht kein Stern dem anderen. Durch das Aufbringen kleiner heller Farbtupfer auf dunklem Grund oder das Ausradieren einzelner Punkte aus dem Grafit unterscheidet sich jeder winzige Lichtkreis vom nächsten. In diesen von Lichtpunkten wimmelnden Bildern hält Vija Celmins Dimensionen von Raum und Zeit fest, die im Grunde jede menschliche Vorstellungskraft überschreiten.
Unendlichkeit im Vertrauten
Schliesslich führte sie ihre Schule des Sehens vom Distanzierten auch wieder zurück zum Nahen und Vertrauten. Um das Grenzenlose im begrenzten Geviert des Bildes zu fassen, diente Celmins selbst die krakelierte Glasur einer Keramikvase oder die verwitterte Oberfläche einer Muschel. Solche Werke von schwindelerregender Detailtreue sprechen nicht nur den Seh-, sondern auch den Tastsinn an.
Auf Spaziergängen begann die Künstlerin auch Steine und kleine Felsbrocken zu sammeln, die ihr gefielen. Zurück im Atelier, verlagerte sie nun das Zeichnen nach fotografischen Vorlagen auf das Duplizieren von Objekten in kleine Skulpturen. Sie goss die Steine in Bronze ab, um dann die Abgüsse so zu bemalen, dass sie dem Original zum Verwechseln ähnlich sehen.
In diesen Arbeiten versichert sich Vija Celmins gleichsam des Gesehenen, indem sie sich den Akt des Sichtens und Entdeckens im Kunstwerk aneignet. Solche Werke gelten ihr als eine Art Meditation über das Schauen und das Schaffen. Malen sei wie Dichtkunst, sagt Celmins selber: «Das Unsagbare, Nichtsagbare, aber Anwesende, in einem anderen Medium wieder erzählt.»
«Vija Celmins», Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 21. September. Katalog: Fr. 62.50.