Der Liverpool-Captain trotzte allen Widerständen und wurde so zum weltbesten Verteidiger. Van Dijk hat grossen Anteil am Erfolg der «Reds» – er führt das Team besonnen, auf wie neben dem Fussballplatz.
Nach dem Siegtor für den Liverpool FC im englischen League-Cup-Final vor zwei Wochen liess sich Virgil van Dijk beim Jubel in der Nähe der Eckfahne auf den Rasen fallen. Der Sturz des 1,95 Meter grossen niederländischen Nationalspielers sah aus, als könnte er sich nicht länger auf den Beinen halten. So kaputt wirkte der Innenverteidiger, dessen Spielweise immerzu erhaben anmutet, wohl noch nie. Die bisherigen Anstrengungen in dieser Saison machen seine Erschöpfung aber gut nachvollziehbar.
Im Sommer 2023 nahm Liverpool einen ähnlich tiefgreifenden Kaderumbruch vor wie in den Anfangsjahren von Jürgen Klopps mittlerweile fast achteinhalb Jahre währender Amtszeit. Diesmal vollzog der Klub eine Runderneuerung des Mittelfelds; die langjährigen Führungsspieler Jordan Henderson und James Milner verliessen die «Reds». Dafür rückte der Abwehrchef van Dijk in die Captain-Rolle auf. Der 32-Jährige musste zunächst die Eingewöhnung der neuen Spieler gestalten und im Januar den angekündigten Rückzug des Trainers zum Saisonende auffangen.
Van Dijk übernimmt viel Verantwortung
Obwohl dem Premier-League-Klub zuletzt bis zu zwölf Kaderspieler verletzt fehlten, die sonst regelmässig zum Einsatz kommen, verfügte van Dijk, für Klopp ein letztes Mal durchs Feuer zu gehen: «Lasst uns die Saison zu einer besonderen machen», forderte er die Mitspieler auf. Er nahm den Druck auf seine Schultern und bot den Talenten Orientierung.
Eine solch unerfahrene Equipe als Captain zu einem Finalsieg zu führen, sei «sein Meisterstück» gewesen, sagt Les Reed im Telefongespräch mit der NZZ. Der Engländer hat van Dijks Laufbahn als Manager des Southampton FC einst erheblich geprägt. Er sagt, dass Liverpools Personalsituation van Dijk «als Ausrede» hätte dienen können. Stattdessen habe sich dieser gewehrt und Verantwortung übernommen. Weitere Titel könnten folgen: Vor dem Premier-League-Spitzenspiel gegen Manchester City am Sonntag im Anfield-Stadion (16.45 Uhr) führt Liverpool die Tabelle an.
Die Entschlossenheit und die Fähigkeit, gegen Widerstände anzugehen, haben van Dijk schon immer ausgezeichnet. Nach dem Durchbruch beim FC Groningen in der Heimat musste er als 20-Jähriger in seiner ersten Profi-Saison im Frühjahr 2012 am Blinddarm notoperiert werden. Zwei Wochen verbrachte er wegen Komplikationen im Spital. Er habe «dem Tod ins Auge geblickt» und damals sogar ein Testament unterschrieben, sagte van Dijk später. Die Ärzte urteilten, seine Fitness habe ihm das Leben gerettet.
Angesichts der Ernsthaftigkeit der Lage erholte sich van Dijk überraschend schnell und kehrte bereits zur neuen Saison auf den Platz zurück. Er schien jedoch nicht mehr derselbe zu sein; er hatte stark an Statur verloren, wirkte nun geradezu schlaksig. Viele Vereine zweifelten an seiner Beweglichkeit und sahen von einer Verpflichtung ab. Southamptons Interesse verstärkte sich hingegen, Reed hatte vor allem van Dijks Heilungsverlauf beeindruckt.
Zuerst aber holte ihn Celtic Glasgow 2013 für zweieinhalb Millionen Pfund, bevor ihn Southampton 2015 für die fünffache Summe aus dem Vertrag herauskaufte. Der Klub band ihn langfristig und stellte ihm schon im Folgejahr einen neuen Sechsjahresvertrag aus.
Aus Sicht des heute 71-jährigen Reeds verfügt van Dijk über ein erstaunliches Gesamtpaket: die Zweikampfstärke, das Kopfballspiel, der Spielaufbau, die Kommunikation und die Verlässlichkeit. Doch vor allem das Spielverständnis hebe ihn von seinen Konkurrenten ab. Er könne die unterschiedlichen Phasen einer Partie antizipieren und so den Rhythmus einer Mannschaft bestimmen. Dazu zählt auch die eigene Positionierung auf dem Platz.
Auf Anhieb absolvierte van Dijk 56 Premier-League-Partien für Southampton, ohne eine Spielminute zu verpassen – bis er zum Jahresende 2016 eine gelb-rote Karte kassierte. Kurz danach verletzte er sich schwer am Knöchel, fiel die gesamte Rückrunde aus und verpasste als Captain den verlorenen League-Cup-Final. Doch auch dieser Rückschlag geriet ihm nicht zum Nachteil. Liverpool warb im Sommer 2017 vehement um seine Dienste.
Anders als bei den vorherigen Transfers kontaktierte der Klub Southampton nicht direkt, sondern über eine neue Beratungsagentur von van Dijk – mutmasslich um die Ablösesumme zu senken. Der Spieler trat wochenlang in einen De-facto-Streik und versuchte seinen Wechsel zu erzwingen.
Doch Southampton gab nicht nach und prangerte das Verhalten des Konkurrenten an, der sich sogar öffentlich entschuldigte. Nachdem Liverpool in der folgenden Halbsaison mehr als ein Gegentor pro Spiel erhalten hatte, war der Verein im Winter 2018 bereit, den Forderungen Southamptons nachzukommen: Liverpool überwies 75 Millionen Pfund für van Dijk – die damalige Rekordablöse für einen Verteidiger.
Die Mitspieler und der Coach profitieren von seiner Gelassenheit
Seither ist van Dijk in Liverpool aus der Startformation nicht mehr wegzudenken. Vor seinem Kreuzbandriss im September 2021, als er vom Everton-Torhüter Jordan Pickford brutal gefoult wurde, absolvierte er in der Liga 93 Einsätze von Beginn weg am Stück. Er ist Klopps letzter Mann im Spiel, der die Teamkollegen führt.
Aufgrund seiner Besonnenheit könne Liverpool «mit mehr Spielern angreifen», ohne die Defensive zu vernachlässigen, sagt Reed. Obwohl van Dijks Gesichtsausdruck bisweilen zornig wirke, habe er sich «immer total unter Kontrolle». Durch seine Aura ist van Dijk der Ruhepol im Leidenschaftsklub Liverpool. Das gibt den Kollegen und auch dem Trainer Klopp die Freiheit, die eigene Emotionalität auszuleben.
Die Liverpool-Fans haben seine Gelassenheit in einem Sprechgesang verewigt: Darin heisst es, van Dijk passe «den Ball so abgeklärt», wie man es sich nur wünschen könne. Auf diese Weise dürfte er den FC Liverpool weiter durch die Saison führen. Nach seinem Tor im League-Cup-Final stand van Dijk übrigens schnell wieder auf.