Eine kleine Geschichte des grossen Forums von Davos, das der Schweiz jetzt abhandenkommen könnte.
Immer im Januar wird in Davos die Illusion aufgebaut, die Schweiz bedeute die Welt. Aus allen Himmelsrichtungen fliegen die Privatjets von sogenannten «global leaders» an – man spricht Englisch. Das Motto kann nie gross genug sein: «Collaboration for the Intelligent Age» (2025). Und die Sicherheitsstandards können nicht hoch genug sein, über dem Landwassertal kreisen die Helikopter der Armee. Das World Economic Forum ist ein Jahrmarkt der globalen Eitelkeiten. In den Kongresssälen hängen die Champagner- und Wortwolken von CEO und Staatschefinnen. Alles hängt am Handy, um das wichtigste Prinzip der globalen Elite zu befolgen: überall gleichzeitig zu sein.
In diesen fremden und doch heimischen Kulissen laden sich die politischen Player der Schweiz mit Bedeutung auf: Aus dem Bundesrat reisen meist mehrere Mitglieder an, um den Kleinstaat zwischen den Grossmächten zu positionieren (oder zumindest im Gespräch zu bleiben). Der deutsche Erfinder des WEF, Professor Klaus Schwab, gilt als Freund der Schweiz. Sein Forum generiert dem Land nicht nur Hotelnächte, sondern zusätzliche Relevanz. Journalisten von Regionalzeitungen konstatieren freudig: «Überall Gesichter, die aus CNN bekannt sind. Man wähnt sich mittendrin in der Weltpolitik.» Und schnell formiert sich auch die Anti-Globalisierungs- zur Anti-WEF-Bewegung. So kann sie ihre Anklage nicht nur gegen die Bundesversammlung richten, sondern gegen die Mächtigen aus aller Welt.
Das ist die Illusion, die immer im Januar für einige Tage hält. Und die sich in diesen Tagen aufzulösen droht: Nachdem Klaus Schwab über Ostern entmachtet worden ist, sollen «Kräfte des Neuanfangs» im Stiftungsrat über einen Umzug nach Singapur oder Amerika nachdenken, so hat «CH Media» am Freitag berichtet.
Was das für die Schweiz bedeuten würde?
Gipfelkonferenz und Club Méditerranée
Der Bundesrat würde seine grösste aussenpolitische Bühne verlieren. Franz Blankart, der weltgewandte Chefbeamte und spätere Staatssekretär, berichtet schon 1987: «Auch dieses Jahr war das Symposium eine einzigartige Mischung aus Gipfelkonferenz und Club Méditerranée, (. . .) eine Gelegenheit, einem teils pfauenhaften, teils hochinteressanten Wettkampf in oeko-analytischer Brillanz beizuwohnen.»
Dass Davos für die Schweizer Politik so wichtig werden würde, ist in der Anfangszeit des European Management Symposium (wie es damals heisst) nicht absehbar. Zur Premiere in den Bündner Bergen 1971 versammeln sich über 400 Wirtschaftsvertreter, um über die «Überlegenheit der amerikanischen Managermethoden» zu diskutieren. Zwei Jahre später nehmen erstmals Politiker teil, bald sind sie immer hochkarätiger, heissen François Mitterrand oder Helmut Schmidt, bald kommen sie auch von ausserhalb Europas.
Die Chance, nur 250 Kilometer von Bern entfernt und ohne protokollarischen Aufwand ausländische Staatslenker zu treffen, lässt sich der Bundesrat nicht entgehen. 1989 haben die Kontakte am WEF bereits ein Ausmass erreicht, dass sich «ein systematisches Vorgehen aufdrängt», wie es in einem Aussprachepapier der Landesregierung steht: «Professor Schwab» solle wie bisher die Teilnehmerliste vorlegen, der Bundesrat könne dann nach «gleichbleibenden Kriterien» entscheiden, an wen eine offizielle Gesprächsanfrage gehe.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs erlebt das WEF sein goldenes Jahrzehnt. Die Globalisierung nimmt Fahrt auf. Was Rang und Namen hat, reist nach Davos. Nicht nur der Anlass wird immer grösser, sondern auch die Zahl der bundesrätlichen Delegationen.
1993 beschliesst Adolf Ogi, als erster Bundespräsident am WEF teilzunehmen. Er will in Davos Goodwill schaffen, nachdem die Schweiz einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt hat: «Die Anwesenheit von zahlreichen Premierministern und Staatspräsidenten» mache seine Präsenz nötig, findet Ogi. Er hält nicht nur die Eröffnungsrede («Ich bin stolz, weil unser Treffen den offenen und multinationalen Geist meines Landes zeigt!»), sondern kittet auch die Beziehung zum WEF-Gründer.
Denn «zwischen Bern und dem WEF» sei «eine doch etwas frostige Stimmung auszumachen», hat Schwab geklagt. Aussenminister René Felber habe im Vorjahr keine Tischrede gehalten. Auch später reagiert Schwab pikiert, wenn er sich von Bundesräten zu wenig respektiert fühlt – und droht auch einmal mit dem Wegzug der «bedeutendsten Wirtschaftsveranstaltung der Welt» nach Salzburg.
Die Bedeutung des WEF zeigt sich im Jahr 1997, als sich die Schweiz wegen der nachrichtenlosen Vermögen in der schwersten aussenpolitischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befindet. Fünf Bundesräte reisen an, um ausländischen Politikern ihren Standpunkt zu erläutern. Und als im Jahr 2000 mit Bill Clinton der erste amtierende amerikanische Präsident teilnimmt (Ronald Reagan hatte sich 1982 nur via Satellit zugeschaltet), frohlockt Adolf Ogi nach dem gemeinsamen Gespräch: «Zwischen den USA und der Schweiz gibt es keine Probleme mehr.»
Um die Welt geht aber eine andere Anekdote: Wegen starken Schneefalls kann Clinton nicht per Helikopter nach Zürich reisen. Auf der Rückfahrt im Autokonvoi lässt er an der Raststätte Niederurnen im Glarnerland halten, holt sich ein Stück Pizza und eine Cola light, gibt Autogramme, geht auf die Toilette. Der mächtigste Mann der Welt kann sich frei bewegen – das WEF dient der Schweiz nicht nur zur Diplomatie-, sondern auch zur Charme-Offensive.
Bis am nächsten WEF die Demonstrationen gegen die Reichen und Mächtigen eskalieren, die sich im «verbunkerten» Davos treffen. Die Sicherheitskosten steigen innert wenigen Jahren von 0,2 auf 13 Millionen Franken. Und dies zum Schutz eines privaten Treffens in den Alpen? Der Bund qualifiziert das WEF «angesichts seiner Bedeutung für die internationalen Interessen der Schweiz» als «ausserordentliches Ereignis» und beteiligt sich an den Kosten, was wiederum politischen Protest auslöst. Die rituellen Ausschreitungen enden irgendwann im «Landquarter Kessel», wo die Demonstranten stundenlang festgehalten und kontrolliert werden.
Nichts lässt sich besser angreifen als ein Symbol
Als das WEF bundesrätlich-offiziell zu einem Anlass von nationalem Interesse wird, verlegt sich auch die Globalisierungskritik nach Davos. Je grösser die Macht, desto bedeutender die Kritik daran. Davos ist der «place to be». Eine NGO namens Erklärung von Bern (heute: Public Eye) organisiert im Jahr 2000 erstmals ein Gegenforum, mit eigenen Panels, Aktivistinnen, Kritikern aus dem globalen Süden. Später setzt man auf Prominente und Prangerpreise für Konzerne. Sie sollen dem Kampf gegen das WEF zusätzliche Publizität bescheren. «Warum wir das WEF attackierten? Es war ein Symbol. Und nichts lässt sich besser angreifen als ein Symbol», sagte einmal Andreas Missbach, der frühere Geschäftsführer der Erklärung von Bern.
Wer das WEF angreift, greift die Weltordnung an – oder wie es ein Veteran der Bewegung formuliert: «Das Schöne war: Es ging immer sofort um alles!» Wie sich Manager und Magistraten am WEF selbst profilieren, so versuchen sich linke Politikerinnen und Politiker regelmässig über das WEF zu profilieren. Im Jahr 2001 richtet sich die Fraktion der Grünen mit einem dramatischen Vorstoss («World Economic Forum. Ausnahmezustand») und siebenundzwanzig Fragen an den Bundesrat. Und im Kanton Graubünden kommt die Linke zu nationaler Relevanz: Der damalige SP-Kantonalpräsident Peter Peyer demonstriert nicht nur in Chur und Davos, er wird auch in die «Arena» des Schweizer Fernsehens eingeladen, als das WEF im Jahr 2002 ausnahmsweise in New York stattfindet – offiziell als «Zeichen gegen den Terrorismus» nach den Anschlägen vom 11. September. Dass Peyer später als Regierungsrat die Sicherheit des Forums verantwortet, ist nur eine Pointe des Protests.
Das Ende der Illusion
Die andere Pointe: Nachdem sich das WEF in den 2000er Jahren gegenüber den Medien und dem Protest geöffnet hat und nicht mehr der exklusive Machtzirkel ist, verliert nicht nur das Forum selbst an Relevanz, sondern auch das Gegenforum, «der geschickte Aufmerksamkeitsparasit» («Tages-Anzeiger»).
Vom WEF haben immer sowohl jene drinnen mit dem Mikrofon als auch jene draussen mit dem Megafon profitiert – auch weil die Grenzen übersichtlich waren. Aber dann wird es zu einer Messe unterschiedlichster Interessen. Als im Jahr 2018 der amerikanische Präsident Donald Trump nach Davos kommt, sind die Grenzen endgültig verschwommen. Weil der grösste Globalisierungskritiker jetzt nicht mehr draussen protestiert, sondern, warm empfangen, drinnen am Mikrofon sitzt.
Der Bundesrat schickt weiterhin mehrere Mitglieder ans World Economic Forum. Aber die Illusion, dass die Schweiz immer im Januar die Welt bedeuten könnte, ist kleiner geworden.