Das Pädagogische Zentrum Pestalozzihaus in Elsau-Räterschen gibt Einblick in einen gesellschaftlichen Mikrokosmos und den Wandel geltender Erziehungsprinzipien.
Sechs Männer, drei Frauen und zwei «Fräuleins» befinden am 18. Januar 1922 in der «Krone» zu Winterthur über das Schicksal eines Kindes. Sie entscheiden, dass Walter Bachmann (Name geändert) von der Pflegefamilie, bei der er seit sechs Jahren wohnt, wegmüsse. Er könne zu einem Bauern in der Nähe. «Der Zögling ist nicht ganz normal», schrieb der Aktuar später in seiner schönen Handschrift mit Tinte ins Protokoll.
An diesem Mittwoch um 17 Uhr sass in steife Kragen und feine Stoffe gekleidet die «Kommission für die Kinderversorgung im Bezirk Winterthur» am Tisch. Sie war 1889 von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks gegründet worden und hatte den Auftrag, sogenannt «verwahrloste» Kinder von der Strasse zu holen und sie zwecks «Besserung» in Pflegefamilien unterzubringen.
In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte sich die Textil- und Maschinenindustrie rasant entwickelt. Auch in die zweitgrösste Stadt des Kantons waren daher viele Haushalte zugewandert. Nicht selten arbeiteten beide Elternteile in den Fabriken. Die Schulen Winterthurs waren überfüllt, nach dem Unterricht blieben viele Kinder ohne Betreuung auf der Strasse.
Bürgerliche Kreise begannen mit dem Aufbau von privaten Armenvereinen und Kinderheimen, den sogenannten «Anstalten». Auf der Basis ihrer Moralvorstellungen wurde nach Wegen gesucht, um die «verwahrlosten» Kinder in familiärer Geborgenheit und Ordnung aufwachsen zu lassen. Mitglieder der Kommission waren Pfarrer, Ärzte, Lehrerinnen, Pflegerinnen, Hausfrauen oder höhere Beamte.
Ein Heim für die «schwierigsten» Kinder
Weil Walter Bachmann «geistig anormal» sei und übrigens in wenigen Monaten volljährig werde, könne seine Platzierung in der Landwirtschaft allerdings nicht von Dauer sein, hiess es. Schon im Oktober schien sich dies zu bestätigen: Walter war «in seiner Aufführung gegen den Meister gefährlich» geworden. Seine Heimatgemeinde, die jetzt für den inzwischen 20-Jährigen zuständig war, erwog, ihn «in eine Zwangsarbeitsanstalt [zu] stecken». Die Damen und Herren am Tisch glaubten hingegen, Bachmann gehöre «in eine Irrenanstalt».
Man entschied, den Bezirksarzt zu Rate zu ziehen. Der empfahl, dass der junge Mann trotz «verminderter Zurechnungsfähigkeit» am besten weiterhin in einer Landwirtschaft aufgehoben wäre. Als daraufhin der bisherige Meister anbot, Walter «noch über den Winter [zu] behalten», war man einverstanden.
Im April 1923 stand er dann aber wieder arbeitslos, volljährig, «debil» und ohne jeden Schulabschluss auf der Strasse. Die Kommission zeigte sich nun bereit, es in der eigenen Landwirtschaft zu versuchen.
Im Jahr 1900 hatte sie in Räterschen, in ländlicher Umgebung vor den Toren Winterthurs, ein Haus mit angrenzender Landwirtschaft erworben, das Gut zum Felsenhof. Hier sollten die «schwierigsten» Kinder untergebracht werden, solche, die in Pflegefamilien aufgrund ihres Verhaltens nicht bleiben konnten.
Walter, entschied die Kommission, könne im Stall arbeiten und in der «Anstalt» zusammen mit den «Zöglingen» wohnen und essen. Er wurde «gegen eine Entschädigung von fr. 5.– per Woche» als Hilfsknecht angestellt. Walter würde die nächsten Jahre im Pädagogischen Zentrum Pestalozzihaus (PZP) bleiben. Um ihn dauerhaft beaufsichtigen zu können, installierte die Kommission ab 1935 eine Vormundschaft für ihn. Diese wurde in den Folgejahren von Hausvater zu Hausvater weitergegeben.
Armut, Arbeitslosigkeit und Krieg
Heute feiert das PZP sein 125-jähriges Bestehen. Es entwickelte sich von der «Anstalt» mit einem Erziehungsauftrag, der von strengem Arbeitsethos und rigiden Moralvorstellungen geprägt war, zur zeitgemässen sozialpädagogischen Institution.
Krankheit und Armut, Tod und schicksalhafte Ereignisse im Leben der Eltern waren in den ersten Jahrzehnten die Hauptgründe für eine Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien oder «Anstalten».
Ab Mitte der 1930er Jahre hinterliess dann die Weltwirtschaftskrise in vielen Familien ihre Spuren. Das gilt auch für Winterthur. Zeitweilig war hier ein Viertel aller potenziell Berufstätigen arbeitslos.
Etliche Familien konnten jetzt das «Kostgeld» für ihre bereits in Heimen platzierten Kinder nicht mehr aufbringen. Die Spendengelder brachen ein, und die staatliche Unterstützung war noch wenig ausgebaut. Die Kommission entschied in mehreren Fällen, den Engpass aus eigenen Mitteln zu überbrücken, so dass die betroffenen Kinder bleiben konnten. Es gelang, das Heim und seine Bewohner durch die Krise zu bringen.
Walter Bachmann trug seinen Teil dazu bei: Er arbeitete weiterhin als Hilfsknecht in der Landwirtschaft.
«Erziehung durch Arbeit»
Die nächste grosse Herausforderung liess nicht lange auf sich warten. Am 10. Oktober 1939 – sechs Wochen zuvor hatten die Deutschen Polen überrannt – nahm erstmalig die Hausmutter anstelle des Hausvaters Platz am Sitzungstisch der Kommission. Nicht nur im Heim, auch in etlichen Familien und Pflegefamilien waren die Männer in den «Aktivdienst» eingezogen worden. Einige Kinder wurden nun aus diesem Grund in der «Anstalt» platziert.
Es gab aber auch andere Gründe: Willi, 9 Jahre alt, kam aus sogenannt «bedenklichen Verhältnissen». Sein Vater hatte die sechs Kinder mit Revolver und Gewehr bedroht. Albert trat mit 14 ein, weil er Geld, Uhren und Brieftaschen gestohlen hatte und erwischt wurde, als er sie verkaufen wollte. Bei ihm könnten, liess die Kommission protokollieren, nur strenge körperliche Arbeit und ständige Aufsicht noch eine Besserung bewirken.
«Erziehung durch Arbeit» war die wichtigste Losung, an der sich die Entscheidungsträger zu jener Zeit orientierten. Den Kindern «das geben, was ihnen fehlt», war eine weitere. Gemeint war die familiäre Geborgenheit.
Die Dauer und die Ängste des Krieges hinterliessen auch im Pestalozzihaus ihre Spuren. Es herrschten angeblich «missliche Zustände», wie es im September 1940 hiess. Fünf der älteren Kinder liefen davon und schilderten dem Jugendsekretariat und der Armenpflege ihre Situation. Sie berichteten von harten Schlägen und ungerechten Strafen.
Die «Behandlungsart der Zöglinge» sei intern zu untersuchen, folgerten die zuständigen Stellen. Es stellte sich heraus, dass der Meisterknecht, er hatte aufgrund seiner Invalidität nicht einrücken müssen, zugeschlagen hatte. Jetzt galt es, das bis dahin gute Ansehen der «Anstalt» zu retten.
Die Ausübung körperlicher Gewalt in der Erziehung war nämlich seit Mitte der 1920er Jahre zum Politikum geworden: Carl Albert Loosli, ein ehemaliges Heimkind, hatte allen Heimen recht pauschal Willkür, Militarismus, pädagogische Unfähigkeit und sexualisierte Übergriffe vorgeworfen. Das PZP erteilte seinem Knecht daraufhin einen Verweis und beschloss, dass Körperstrafen von nun an nur in Ausnahmefällen angewendet werden dürften.
Tiefpunkt in den 1960er Jahren
Nach dem Krieg verbesserte sich die allgemeine Situation im Pestalozzihaus nur langsam. Anhaltender Lehrermangel beeinträchtigte die Qualität des Unterrichts. Nach einigen Jahren häuften sich im Dorf ausserdem die Klagen: Die «Überwachung und Beschäftigung» der Kinder sei ungenügend, deren Ausrüstung im Skilager der öffentlichen Schule mangelhaft.
Als auch Müll im «Töbeli», ein «verwahrloster» Garten und der «chaotische Zustand» der Werkstatt zum Thema wurden, schritt die Kommission ein. Es kam zur Entlassung der Hauseltern. Später stellte sich heraus, dass zusätzlich ein Lehrer gegenüber zwei Mädchen übergriffig geworden war. Er wurde entlassen, angeklagt und gestand. Als Strafe wurde er dazu verpflichtet, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Die betroffenen Mädchen wurden begleitet und unterstützt.
In den 1970er Jahren, zur Zeit der «Heimkampagne», einer gut organisierten Bewegung, die sich gegen angeblich verbreitete, unwürdige Zustände in den Erziehungsinstitutionen richtete, übernahmen neue Hauseltern. Sie stellten, wie das schweizweit in vielen Institutionen jener Zeit üblich war, systematisch pädagogisch ausgebildetes Personal ein, sorgten für die Erneuerung der Gebäude und Infrastrukturen und bildeten überschaubare Gruppen, in denen die Kinder und Jugendlichen wohnten.
Heute arbeiten Pädagoginnen und Pädagogen mit den Familien der Kinder und Jugendlichen sowie mit den öffentlichen Schulen eng zusammen. Dabei gilt der Grundsatz, dass die Kinder und Jugendlichen nach Möglichkeit einen guten Kontakt zu ihren Herkunftsfamilien pflegen.
Walter Bachmann war übrigens noch immer als Hilfsknecht vor Ort. 1969 halfen ihm die Hauseltern beim Umzug ins nahe Altersheim, und 1986 wurde seine Rente von 20 Franken auf das Doppelte aufgestockt. Da war Walter bereits 84 Jahre alt. Niemand aus der Runde der dann zuständigen Kommissionsmitglieder dürfte seine Geschichte noch gekannt haben.
Barbara Bonhage ist als Organisationsberaterin und Autorin tätig. Sie ist Präsidentin des Vereins Pädagogisches Zentrum Pestalozzihaus (PZP) in Elsau-Räterschen. Ihr Buch «Vaterlos auf Muttersuche. Die Geschichte einer Heimfamilie» dokumentiert die lange Geschichte des PZP und verbindet sie mit einem fiktionalen Element. Es ist soeben im Verlag Hier und Jetzt erschienen.