Kiew kann die Front bei Awdijiwka nicht stabilisieren und wird auch an anderen Abschnitten stetig zurückgedrängt. Russlands Überlegenheit an Waffen und Soldaten wächst. Das nagt an der Moral der Ukrainer.
Wenigstens in der Luft kann die Ukraine noch Erfolge feiern. Ihre Streitkräfte schossen seit Mitte Februar laut eigenen Angaben sieben russische Kampfjets ab. Von der unabhängigen Plattform Oryx bestätigt sind bis anhin zwei. Dazu kam am Freitag der Absturz eines Aufklärungsflugzeugs des Typs A-50 – bereits das zweite dieses Jahr. Moskau besitzt nur eine kleine Zahl dieser hochmodernen, über 300 Millionen Franken teuren Maschinen.
Ob dafür ein Fehler der eigenen Luftverteidigung oder eine ukrainische Rakete verantwortlich war: Damit verringern sich die Möglichkeiten der Russen weiter, aus der Luft Informationen über die Ukrainer zu sammeln. Für Kiew ist dies ein Prestigeerfolg. Er zeigt, dass seine Truppen den Feind weiterhin empfindlich schwächen können.
Die Abschüsse ändern nichts daran, dass sich die Lage am Boden für die Ukrainer stark verschlechtert hat. Seit Jahresbeginn nimmt der Druck der Russen auf die Verteidiger ständig zu. Sie verfügen über die Initiative an fast allen Frontabschnitten. Gleichzeitig warnt Präsident Selenski vor einer Grossoffensive. Der Militärexperte Emil Kastehelmi schreibt knapp: «In diesem Frühling geht es ums Überleben.»
Die Folgen des Rückzugs aus Awdijiwka
Am dramatischsten bleibt die Situation westlich von Awdijiwka. Die stark befestigte Stadt fiel am 17. Februar nach heftigen Kämpfen. Weil sie zu wenig Munition und Leute hatten, mussten die Ukrainer vor Russlands Übermacht weichen. Das Oberkommando wartete mit dem Rückzug lange zu, was diesen äusserst schwierig machte. Die «New York Times» bezeichnete ihn sogar als chaotisch. Sie bezieht sich dabei aber ausschliesslich auf Erzählungen aus einer zu spät evakuierten Position im Osten der Stadt. Weiter westlich war der Rückzug unter Feuer ebenfalls verlustreich, aber geordneter.
Auch die Behauptung der Zeitung, bis zu 1000 Ukrainer seien in Gefangenschaft geraten, basiert auf einer dünnen Faktenlage. Zwar spielten die Ukrainer die Zahlen herunter und sprachen zunächst nur von einzelnen Kriegsgefangenen. Inzwischen räumen sie mindestens «Dutzende» ein. Weitere gelten als vermisst.
Dies heisst allerdings nicht, dass sie den Russen in die Hände gefallen sind. Vielmehr lassen Berichte aus den neuen Verteidigungsstellungen westlich von Awdijiwka darauf schliessen, dass sich die Armee dort erst einen Überblick verschaffen muss. Stabilisieren konnten die Ukrainer die Front bisher nicht, sie weichen ständig zurück: Bereits am 17. Februar mussten sie die festungsähnliche Koksfabrik am Stadtrand räumen. Am Montag bestätigten sie auch den Rückzug aus dem für die Logistik einst bedeutsamen Ort Lastotschkine.
Der ukrainische Militärexperte Andri Kramarow sagt deshalb, der Rückzug halte weiterhin an. «Wir müssen eine Verteidigungslinie einrichten, die wir auch halten können.» Er spricht damit das zentrale Problem an: Die Stellungen im flachen Gelände westlich der Stadt sind schwach. Deshalb verzögerte das Oberkommando auch den Rückzug aus Awdijiwka so lange wie möglich. Derzeit soll die Verteidigungslinie zwischen den Orten Berditschi und Tonenke verlaufen. Wie lange sie steht, ist ungewiss, weitere Gebietsverluste bleiben wahrscheinlich.
Russland erhöht den Druck an der Ostfront
Die Ukrainer sind jedoch nicht nur bei Awdijiwka mit dem Bau von Verteidigungslinien in Verzug. Es handelt sich um ein Problem entlang grosser Teile der Front. Erst Ende November hatte die Regierung ein Programm zur systematischen Errichtung solcher Sperren ins Leben gerufen. Kiew steckt in einem Rennen gegen die Zeit, weil Russlands Druck fast überall wächst.
Im Nordosten will Moskau den Ukrainern jene Gebiete wieder entreissen, die sie im Herbst 2022 in einer brillanten Gegenoffensive befreit hatten. Im Fokus steht die Stadt Kupjansk. Doch das Institute for the Study of War sieht Anzeichen, dass Russland eine grössere Offensive entlang von vier Achsen an einer Front von ungefähr 200 Kilometern Länge in den Regionen Charkiw und Luhansk vorbereitet.
Weiter südlich haben sich die Russen einen Teil jenes kleinen Gebiets um Bachmut einverleibt, das die Ukraine im Rahmen ihrer Gegenoffensive von 2023 befreit hatte. Das unmittelbare Ziel dürfte die Stadt Tschasiw Jar darstellen, wohin sich die Ukrainer nach dem Fall von Bachmut zurückgezogen hatten. Von hier führt eine Strasse in das 70 Kilometer entfernte Pokrowsk, einen zentralen Umschlagplatz der Ukrainer in der Region. Die andere Hauptroute kommt aus Awdijiwka. Pokrowsk geriete so von zwei Seiten unter Druck.
Im Süden schliesslich rücken Moskaus Truppen erneut in Richtung von Wuhledar vor, einer strategisch wichtigen Stadt, die sie vor einem Jahr erfolglos einzunehmen versuchten. Nun sehen manche ukrainische Experten die Gefahr einer Einkreisung. Westlich davon haben Mitte Januar heftige Angriffe gegen Robotine begonnen. Dort erkämpften sich die Ukrainer während der Gegenoffensive im Gebiet Saporischja unter grossen Opfern eine kleine Ausbuchtung in der Front. Diese 70 Quadratkilometer befreiten Gebietes sind ebenfalls bedroht.
Russland hat mehr Soldaten und Artillerie
Die Russen sind an keinem dieser Abschnitte weit vorgerückt. Laut dem Analysedienst Rochan Consulting eroberten sie im Verlauf der letzten Woche 65 Quadratkilometer, zwei Drittel davon in Awdijiwka. Wichtige ukrainische Knotenpunkte wie Pokrowsk bleiben weit entfernt, dasselbe gilt für die Bollwerke Kramatorsk und Slowjansk, die für eine Kontrolle des Donbass zentral sind. Beunruhigend sind aber der ständige Aufmarsch neuer Kräfte und die zunehmenden Probleme der Ukrainer.
Diese zeigen sich in erster Linie bei der Artillerie. Mit Ausnahme einiger Wochen im letzten Sommer verschoss die Ukraine zwar praktisch durchgehend weniger Munition als Russland. Seit dem Herbst wird der Unterschied aber wegen fehlenden Nachschubs aus dem Westen immer grösser: Schätzten ihn Analysten Ende Jahr noch auf ein Verhältnis von eins zu fünf, so sprechen Soldaten und Offiziere inzwischen regelmässig von eins zu zehn. Ohne die Möglichkeit zurückzuschiessen nützen selbst starke Stellungen wenig.
Dazu kommt, dass Russland trotz riesigen Verlusten in Awdijiwka nicht gezwungen war, andere Frontabschnitte zu schwächen. Fachleute wie Michael Kofman merken inzwischen selbstkritisch an, der Westen habe Moskaus Fähigkeit zur Mobilisierung zusätzlicher Truppen unterschätzt. Da die Ukraine ihrerseits während des gesamten Jahres 2024 voraussichtlich in der Defensive bleibt, können die Russen relativ frei Truppen rotieren, ohne gravierende Gegenangriffe zu befürchten.
Die Angriffe der letzten Monate dürften aber erst den Anfang darstellen. Militärkreise nennen diese «reconnaissance by fire», auf Deutsch «gewaltsame Aufklärung». Dadurch, so schreibt der australische Analytiker Mick Ryan, versuchten die Russen, Schwachpunkte in der ukrainischen Front zu identifizieren.
Putins Erfolge wirken demoralisierend
Die genauen Ziele der künftigen Angriffe bleiben noch unklar. Vermutlich sind sie aber sekundär, solange Russland die Initiative behält. Der eigenen Bevölkerung signalisiert Putin so, dass sich die gigantischen Ausgaben von geschätzt über 200 Milliarden Dollar und die riesigen Menschenverluste lohnen. Dem Westen zeigt er, dass er bereit ist, den Krieg bis zur Erschöpfung des Gegners weiterzuführen.
Die Ukrainer versucht er zu demoralisieren – zunächst dadurch, dass ihre blutig erkämpften Gebietsgewinne der letzten zwei Jahre langsam verlorengehen. Die Rückschläge fallen in eine Zeit der innenpolitischen Unsicherheit in Kiew. Die Entlassung des populären Oberkommandierenden Saluschni schadet auch Selenskis Rückhalt in der Bevölkerung, und erstmals seit Kriegsbeginn glaubt eine relative Mehrheit, dass sich die Dinge im Land in die falsche Richtung entwickeln.