Messenger, Mails und Chats haben zu einer überbordenden Zahl an Grussformeln geführt. In einer Sache aber sind wir konservativ geblieben. Über die Eigenarten, wie wir miteinander schreiben.
«Dearest!» So beginnt eine Kollegin stets ihre Nachrichten an mich. Ich nehme an, ich bin nicht die einzige Liebste mit Ausrufezeichen in ihrer Kontaktliste, aber mit dem Einstieg kriegt sie mich immer wieder.
Eine andere schreibt dagegen meist nur meinen Vornamen bei Whatsapp: «Silke, kannst du bitte . . .?» Das fand ich zuerst sehr unpersönlich, geradezu unhöflich, so ganz nackt ohne Anrede davor. Dabei gehört sie eigentlich zu den nettesten Menschen, die ich kenne.
Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Genauso wie an den gar nicht so engen Freund, der seine Mails oft mit «Hallo meine Silke» überschreibt, was fast ein bisschen übergriffig oder zumindest verschwurbelt klingt, aber wohl extra herzlich sein soll.
Wahrscheinlich könnte ich mittlerweile sämtliche Freunde und Bekannten blind anhand ihrer Anreden identifizieren. «Heyyyyyy»: mein ehemaliger Mitbewohner, der damit lautmalerisch sein langgestrecktes «Hey» am Telefon imitiert. «Coucou»: meine frankophile Freundin aus Köln. «Hallöchen»: die Bekanntschaft aus den letzten Sommerferien. «Süsse»: meine beste Freundin. «Ey Schwester»: mein Bruder.
Bei all dem frage ich mich: Was ist bloss aus dem guten alten «Liebe Y», «Lieber Z» geworden?
Als hätten alle ein Seminar für «kreatives Anreden» belegt
Diese Frage stellt sich auch Jannis Androutsopoulos. Er ist Professor für Medienlinguistik an der Universität Hamburg und sagt: «Wir erleben heute eine unglaubliche Häufung und Flut von E-Mails und Nachrichten. Im Grunde korrespondieren wir unentwegt.» Diese Fülle habe zu einer Vielzahl von Anreden geführt.
Zwar existieren all die «Lieben» natürlich immer noch – vor allem in E-Mails, auf Postkarten oder in Unternehmens-Chats («Ihr Lieben!», «Liebe Alle»). Auf Whatsapp oder anderen Messenger-Diensten hingegen wird mittlerweile bunt variiert, als hätten alle ein Seminar für «kreatives Anreden» belegt.
Für die «Lieben» verwendet man Schatz, Schatzilein, Süsse, Liebes. Für den Freund oder die Freundin Alter, Spatzl, mein Guter. Oder man bedient sich reichlich bei anderen Sprachen: Hey, hi, hej, ciao, hello, salut, bonjour und so weiter, und das gleiche Prinzip dann noch einmal bei den Liebkosungen. Darling, Bro, Cherie, Sweetie, Amore – und schon hat sich das Repertoire mal eben vervielfacht. Wer das noch steigern will, greift zu Superlativen oder comichafter Schriftbildverzerrung wie heyyyyyy!!!, hellooooo…, naaaaaa??
Der moderne Mensch liebt schliesslich die Auswahl, im gut sortierten Kühlregal wie auch in der Umgangssprache. «Liebe/r» klingt schön, aber beim zehnten Mal hintereinander auch schrecklich repetitiv und gewöhnlich. Wer will schon Standard sein? So wie heute alle Welt ein sogenanntes «Signature-Dish» in der Pfanne hat, versuchen viele Leute auch beim Kommunizieren eine möglichst individuelle Marke zu hinterlassen.
Anreden sind aber auch Signale. Sie werden versendet, um zu schauen, wie das Gegenüber reagiert. Ein bekanntes Beispiel dafür findet sich in der deutschen Literatur.
Friedrich Schiller liess sich gegenüber Johann Wolfgang von Goethe einmal zur emotionalen Anrede «Geliebter Freund!» hinreissen – diese wurde von Goethe aber im nächsten Brief nicht erwidert, und auch bei Schiller findet sie sich danach nie wieder.
Ein klarer Affront, aber hallo.
Die Honig-ums-Maul-Schmiererei wird zum Standard
Mit der Anrede geht der Absender in gewisser Weise erst einmal in Vorleistung und muss dann schauen, was vom Empfänger zurückkommt. Wer selbst ein «Hey Du Liebe» vorlegt, ist womöglich enttäuscht, wenn er in der Antwort mit einem einsilbigen «Hi» abgespeist wird. Wer mutig anfängt zu duzen oder – alter Trick – «Liebe Vorname Nachname» vorlegt, wird womöglich mit einem «Sehr geehrte Frau X» zurechtgewiesen.
Andererseits setzt man mit der eigenen Honig-ums-Maul-Schmiererei auch einen Standard, von dem man selbst nur schwer zurückrudern kann. Ist das «Dearest» erst mal gesetzt, klingt ein «Liebe Soundso» beim nächsten Mal gleich viel weniger nett.
Mag sein, dass die berufliche Korrespondenz immer noch sehr viel standardisierter und formeller ist. Wirklich einfacher macht es das Ganze nicht, schon gar nicht ehrlicher. Will ich all die Mitarbeiter von Ämtern, Arztpraxen, Unternehmen, die ich gar nicht kenne und damit folglich noch nicht «lieb» finden kann, wirklich mit «sehr geehrte/r» anschleimen? Mir kann ja auch keiner erzählen, dass alle, die mir schon «Sehr geehrte Frau Wichert» geschrieben haben, mich allen Ernstes ehren, schon gar nicht sehr.
«Guten Tag Frau Wichert» klingt okay, aber auch noch nicht ideal. Bei Mails, die mit einem simplen «Hallo» anfangen, lese ich am liebsten gar nicht weiter. Sicher eine Geschmackssache, aber geschrieben wirkt es für mich irgendwie plump. «Hallo!» mit Ausrufezeichen soll wahrscheinlich wie ein beschwingtes «Hallöchen!» klingen, sieht aber nur vorlaut aus.
Der Vorsitzende des Knigge-Rats Jonathan Lösel sagte kürzlich in einem Interview mit dem «Spiegel», dass sich spätestens mit dem Eintritt der Generation Y in die Arbeitswelt eine Du-Kultur und eine lockere Form der Anrede etabliert hätten. Das hänge auch stark mit dem Einfluss der sozialen Netzwerke zusammen.
Bei Instagram etwa würde er sich über ein «Sehr geehrte/r» sehr wundern. Für den beruflichen Kontext dagegen wusste er leider auch keine bessere Lösung als diese «höchste Form der Begrüssung», damit mache man selbst bei einem Startup garantiert nichts falsch.
Aber wenn der Chef dieses Startups gerade einmal 28 ist? Fühlt der sich dann nicht sofort steinalt? Will die Generation Z in der Korrespondenz immer noch klingen wie die Boomer? Zwischen «ehren» und «lieben» scheinen wir immer noch relativ sprachlos zu sein.
Starre Begrüssung, lockerer Abschied
Dafür sind wir im Verabschieden umso eloquenter. «Achten Sie mal drauf», sagt der Sprachforscher Jannis Androutsopoulos, «bei den sogenannten ‹Sign outs› zeigt sich viel mehr Spielraum für Individualität – vor allem in der Verortung.» «Sonnige Grüsse aus Zürich!», «Ciao ciao vom Gardasee» oder «Spätsommerliche Grüsse ins hoffentlich noch immer warme Barcelona» – je digitaler und enträumlichter unsere Kommunikation werde, desto mehr Signale über den eigenen Standort wolle man senden.
Bei der Verabschiedung erlaubten wir uns auch viel öfter kleine joviale oder liebevolle Drehs und leisteten damit ein Stück weit «Beziehungsarbeit», sagt Androutsopoulos. Statt wie früher immer nur freundliche oder herzliche Grüsse zu senden, werden deshalb immer öfter viele/schöne/müde/sehnsüchtige/feierabendreife und natürlich liebe Grüsse verschickt.
Oder eben gar keine «richtigen» Grüsse mehr, weil die Leute eine offensichtlich voreingestellte Standardsignatur (Mit besten Grüssen, Vorname und Nachname oder, noch schlimmer, nur die Initialen) unter allen Mails stehen haben oder irgendwelche englischen Krypto-Grüsse daruntersetzen. «XOXO», zum Beispiel. Grosse Verbreitung fand diese Abschiedsformel Mitte der nuller Jahre durch die Serie «Gossip Girl». X steht für Kuss, O für Umarmungen – wobei die Küsse und Umarmungen noch ausgedehnt werden können. Durch XOXOXOXO.
Doch es gebe kulturelle Unterschiede, sagt Androutsopoulos: «Ich weiss nicht, wie Sie das in der Schweiz sehen, aber zumindest in Deutschland wird immer noch grosser Wert auf ein ordentliches Ein- und Ausklammern gelegt, also auf Anrede plus Abrede, selbst wenn die eigentliche Mail nur aus drei Wörtern besteht.» In Griechenland oder im angelsächsischen Raum könne man die Verabschiedung sogar mal ganz weglassen. Bei all den Nachrichten, die wir schrieben, sei das «tolerierte Sparsamkeit».
In der «Messenger-Kommunikation» dagegen sei es schon allgemein akzeptierter, nur einmal eine Anrede zu benutzen und dann über den Tag hinweg, oder solange die Konversation dauere, keine mehr. Auch ein «Sign out» dürfe man sich weitgehend sparen. Bei all den «Threads», den losen Gesprächsfäden, die wir alle ständig am Laufen haben, verliert man ja sowieso irgendwann den Überblick. Lieber alle Gesprächskanäle auf unbestimmte Zeit offenhalten, statt mit einem brüsken «Tschüss» die Unterhaltung unmissverständlich zu beenden.
Vielleicht verzichten wir im Zuge der Nachrichtenflut ja irgendwann ganz auf all die Höflichkeitsfloskeln. Jeder Buchstabe weniger kann schliesslich ein wichtiger Schritt gegen die Handy-Sehnenscheidenentzündung sein. Irgendwie auch schade.