Präsident Erdogan war das kurdische Autonomiegebiet im Norden Syriens immer ein Dorn im Auge. Nun will die Türkei Fakten schaffen und bläst zum Angriff seiner Verbündeten im Nachbarland. Die USA versuchen zu vermitteln.
Das Gebiet unter kurdischer Kontrolle schrumpft in Syrien. Mazloum Abdi, der Oberbefehlshaber der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), hat am Dienstagabend erklärt, seine Soldaten zögen sich im Rahmen eines von den USA vermittelten Waffenstillstands aus der Stadt Manbij zurück.
Die Rebellen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) hatten – noch vor Asads Sturz – mit aktiver Unterstützung der Türkei eine Offensive gegen die Kurden gerichtet und sie aus ihren Gebieten im Umland von Aleppo vertrieben. Zuletzt griffen die Rebellen, die von Ankara abhängig sind und nicht autonom agieren können, die letzte kurdisch kontrollierte Stadt westlich des Euphrat an.
Ankara gegen kurdische Autonomie
Der Rückzug der Kurden über den Euphrat ist aus türkischer Sicht nur ein Etappensieg. Ankara hat die Existenz eines autonomen Kurdengebiets in Syrien, wie es ab 2012 im Nordosten entstanden ist, nie akzeptiert. Die wichtigste kurdische Gruppierung, die Volksverteidigungseinheiten, gilt in der Türkei als syrischer Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und somit als Staatsfeind.
Im Mindesten will Ankara die kurdischen Truppen aus dem unmittelbaren Grenzgebiet verdrängen und sicherstellen, dass alle nichtsyrischen kurdischen Kräfte das Land verlassen. Ziel ist es, die syrischen Verbindungen zur PKK zu kappen. Diese Forderungen gelten auch für die Gebiete östlich des Euphrat.
Die Wiederbelebung der Kurdenfrage in der Türkei führt zu zusätzlicher Komplexität: Präsident Erdogan versucht mit einer Strategie aus Zuckerbrot und Peitsche die kurdische Bewegung zur Zusammenarbeit mit Ankara zu bewegen. Dazu gehört auch die Kappung von Verbindungen in kurdische Gebiete jenseits der Grenze.
Kobane rückt wieder in die Schlagzeilen
All das deutet nicht auf nachlassenden türkischen Druck auf die Kurden in Syrien hin. Dass Aussenminister Hakan Fidan am Wochenende erklärte, das Verhindern weiteren Blutvergiessens habe oberste Priorität, ändert daran wenig.
Seit Dienstag werden auch Kämpfe um Kobane gemeldet, eine kurdisch kontrollierte Grenzstadt östlich des Euphrat. Kobane ist ein Ort von grosser Symbolkraft. Die Befreiung der Stadt vom Islamischen Staat im Januar 2015 war ein wichtiger Erfolg der kurdisch-amerikanischen Allianz gegen die islamistische Terrorherrschaft in Syrien gewesen.
Die türkische Weigerung, diesen Kampf zu unterstützen, verstärkte damals den Eindruck, Ankara nehme in Syrien die Kurden als das grösste Problem wahr, dem alles andere unterzuordnen sei. Der Fall der Stadt an protürkische, islamistische Kräfte jetzt würde die Situation verschärfen.
Diplomatische Initiative aus Washington
Die Kurden hatten in der Vergangenheit lokal auch mit dem Asad-Regime und den Russen zusammengearbeitet. Der einzige Garant der kurdischen Sicherheit waren aber immer die USA. Die SDF sind die wichtigsten Verbündeten Washingtons im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS).
Die verbleibenden amerikanischen Stützpunkte liegen im kurdischen Nordosten. Dort befinden sich auch mehrere Lager mit Tausenden von ehemaligen Kämpfern und Sympathisanten des IS. Die SDF haben wiederholt damit gedroht, im Falle grösserer Angriffe Truppen abzuziehen, die diese Lager derzeit bewachen. Ein Wiedererstarken des IS zu verhindern, hat für die USA höchste Priorität.
Die Einigung in Manbij erfolgte denn auch nach dem Besuch des US-Befehlshabers im Nahen Osten, Viersternegeneral Erik Kurilla, bei amerikanischen und kurdischen Truppen. Auch bei der Reise von Aussenminister Tony Blinken nach Ankara diese Woche wird es um diese Frage gehen.
Washington kann sich nicht einfach über die Interessen des türkischen Nato-Partners hinwegsetzen, erst recht nicht, nachdem dieser durch den Sieg der islamistischen Rebellen in Syrien stark an Einfluss gewonnen hat. Hinzu kommt die Ungewissheit des Regierungswechsels in Washington. Die Aussage des künftigen Präsidenten Donald Trump, dass sich die USA aus Syrien heraushalten sollen, dürfte die Kurden beunruhigt haben.
Absetzungsbewegungen unter arabischen Verbündeten
Die Kurden geraten nicht nur im Norden Syriens unter Druck. In Deir al-Zur sagte sich am Dienstag eine arabische Gruppierung im Osten von den SDF los und trat zur Rebellenallianz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) über, der neuen starken Kraft im Land.
Kurdische Gruppierungen stellen zwar die dominierende, aber nicht einzige Kraft innerhalb der SDF dar. Dem Bündnis haben sich Verbände anderer ethnischer und religiöser Minderheiten sowie vereinzelt auch arabischer Stämme angeschlossen. Unter Letzteren gibt es Absetzungsbewegungen, die durch die Machtverschiebungen an Dynamik gewonnen haben und von der Türkei gefördert werden.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dem Beispiel von Deir al-Zur andere Gruppierungen folgen werden. Die Autorität der SDF war in Regionen mit arabischer Bevölkerungsmehrheit immer brüchig.
Ungewisse Zukunft
All das wirft die Frage auf, welchen Platz die Kurden im neuen Syrien einnehmen. Eine Verständigung mit den islamistischen Rebellen ist nicht ausgeschlossen. Der neue starke Mann in Damaskus, Mohammad al-Julani, bekennt sich demonstrativ zur ethnischen und religiösen Vielfalt des Landes hat sogar eine kurdische Autonomie in Aussicht gestellt.
Dass ihm das Wohlwollen in Washington verschafft, dürfte Teil des Kalküls sein. Doch auch Ankaras Stimme hat Gewicht. Und in der Türkei will man eine Legitimierung der kurdischen Kräfte und ihrer Forderungen um jeden Preis verhindern. In der syrischen Übergangsregierung sind jetzt nur sunnitische Araber vertreten. Von den vielen ungelösten Problemen Syriens birgt die Kurdenfrage besondere Sprengkraft.