Grossbritannien gehört seit 2022 zu den standhaftesten Verbündeten der Ukraine im Krieg gegen Russland. Warum ist die Unterstützung für Kiew auf der Insel so gross? Und könnte Grossbritannien einen amerikanischen Ausfall bei der Militärhilfe kompensieren?
Seit dem 24. Februar 2022 blieb am britischen Regierungssitz an der Downing Street Nummer 10 politisch und personell kein Stein auf dem anderen. Eine Konstante aber blieb: die ausgeprägte Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland. Boris Johnson war der erste westeuropäische Regierungschef, der 2022 Wolodimir Selenski in Kiew besuchte, und er fühlte sich dem ukrainischen Präsidenten freundschaftlich verbunden. Bis heute weibelt er in seinen Zeitungskolumnen und Vorträgen für mehr westliche Militärhilfe für Kiew.
Johnsons Nachfolgerin Liz Truss verbreitet in den USA zwar Verschwörungstheorien über den «deep state», der sie angeblich aus dem Amt geworfen habe. Bei der Unterstützung der Ukraine redet sie den amerikanischen Rechtspopulisten aber nicht nach dem Mund: Vielmehr versuchte sie unlängst in Washington skeptische Republikaner von der Notwendigkeit der militärischen Unterstützung Kiews zu überzeugen.
Der amtierende Premierminister Rishi Sunak schliesslich führt die Tradition fort: Vor wenigen Wochen reiste Sunak zum wiederholten Mal nach Kiew, wo er von Selenski einen Freundschaftsorden erhielt und ein bilaterales Sicherheitsabkommen unterschrieb.
Britische Vorreiterrolle
Das Abkommen formalisiert die Unterstützung Grossbritanniens in Bereichen wie Cyberabwehr, Austausch von Geheimdienstinformationen, militärische Ausbildung und Rüstungskooperation. Der Vertrag hat aber auch eine hohe symbolische Bedeutung. Beim Nato-Gipfel in Vilnius hatten die G-7-Staaten 2023 erklärt, dass sie mit der Ukraine bilaterale Sicherheitsabkommen abschliessen würden. Grossbritannien war das erste Land, das dem Versprechen nachkam.
Seit der russischen Invasion der Ukraine hat London wiederholt eine solche Vorreiterrolle gespielt. Im Verbund mit den baltischen Staaten oder Polen engagierte sich Grossbritannien früh in der Lieferung von Waffen, von Panzern und in der Ausbildung von ukrainischen Soldaten. Damit erzeugte das grosse Nato-Land eine Dynamik, die später auch andere westeuropäische Staaten erfasste.
Nach Angaben der britischen Regierung hat London seit 2022 militärische, humanitäre und wirtschaftliche Hilfen im Umfang von 9,3 Milliarden Pfund (10,4 Milliarden Franken) an die Ukraine geleistet. Die militärische Unterstützung wird auf 4,6 Milliarden Pfund (5,2 Milliarden Franken) beziffert.
Gemessen an der Wirtschaftskraft leisten die baltischen und skandinavischen Staaten zwar am meisten Hilfe. Doch fällt Grossbritannien als gut ausgerüstete Militärmacht stark ins Gewicht. In absoluten Zahlen belegt das Vereinigte Königreich gemäss dem Kieler Institut für Weltwirtschaft auf der Rangliste der wichtigsten Ukraine-Unterstützer Platz drei – hinter den USA und Deutschland, das die Briten kürzlich überholt hat.
Auch bei der Ausbildung von ukrainischen Truppen spielte Grossbritannien von Anfang an eine Führungsrolle. Bis heute haben die Briten an vier geheimen Militärstützpunkten im Land rund 35 000 Soldaten im Alter von 18 bis 65 Jahren geschult. Der Erfolg des britischen Programms trug dazu bei, dass die EU ein ähnliches Projekt lancierte.
Bevölkerung unterstützt Ukraine klar
Das Engagement Grossbritanniens für Kiew widerspiegelt sich in der Stimmung im Volk. So ist die Unterstützung in der britischen Bevölkerung für die Ukraine vergleichsweise hoch und konstant. In einer im Januar publizierten Analyse für die Londoner Denkfabrik UK in a Changing Europe teilt ein Team um die Politologin Catarina Thomson von der Universität Exeter das Vereinigte Königreich in die Kategorie der entschiedensten Ukraine-Befürworter ein – zusammen mit nord- und osteuropäischen Ländern.
9 Prozent der Briten sehen gemäss einer internationalen Umfrage aus dem Jahr 2023 die Schuld für den Krieg in der Ukraine bei der Nato, 87 Prozent bei Moskau. In Italien beispielsweise sehen 35 Prozent der Befragten die Nato und 73 Prozent Russland in der Verantwortung. Nur rund 10 Prozent der Briten sind überdies der Ansicht, dass die Sanktionen gegen Russland der einheimischen Wirtschaft zu stark schaden würden oder dass die Ukraine dazu gedrängt werden sollte, territoriale Verluste zu akzeptieren. In Deutschland und Frankreich äussern jeweils rund 30 Prozent der Befragten diese Ansichten.
Die Gründe für diese proukrainische Stimmung sind vielschichtig. Thomson stellt einen Zusammenhang her mit der generellen Akzeptanz von Militäroperationen im Ausland, die in Grossbritannien traditionell viel höher ist als etwa in Deutschland. Andere Beobachter führen die Weltkriegsgeschichte ins Feld, die im britischen Nationalbewusstsein bis heute eine wichtige Rolle spielt. Die Bombenangriffe auf Kiew wirkten für viele Briten wie ein Echo der Nazi-Angriffe während des Blitzkriegs.
Darüber hinaus hat der von russischen Agenten im britischen Salisbury verübte Giftanschlag auf den früheren russischen Geheimdienstoffizier Sergei Skripal im Jahr 2018 die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber Russland erhöht. Dazu kommt, dass die Briten in den letzten zwei Jahren zwar unter einer hohen Inflation und massiv steigenden Heiz- und Lebenskosten litten. Doch gab es anders als in vielen kontinentaleuropäischen Ländern keine politische Partei, die zur Linderung der Krise ein Ende der britischen Unterstützung für die Ukraine verlangte.
Einfluss auf Washington?
Die politische Einigkeit in der britischen Ukraine-Politik ist bemerkenswert – gerade auch im Vergleich zum Gaza-Krieg, der derzeit zu immensen identitätspolitischen Spannungen führt. Während die Labour-Opposition unter dem Altlinken Jeremy Corbyn mitunter mit Nato-kritischen und antiwestlichen Aussagen auffiel, sind solche Stimmen unter der neuen Führung des zentristischen Keir Starmer komplett verstummt. Auch die Liberaldemokraten und die schottischen Nationalisten stellen sich vorbehaltlos hinter die Ukraine.
Selbst die von Nigel Farage gegründete rechtspopulistische Partei Reform UK, die den Konservativen in den Umfragen von rechts das Wasser abgräbt, lässt die Finger von prorussischer Stimmungsmache. Angesichts der Stimmung im britischen Volk erkennt Reform UK offensichtlich kaum Potenzial für elektoralen Profit – anders als ähnliche Parteien in Kontinentaleuropa.
Die im Verlauf dieses Jahres anstehenden Unterhauswahlen werden daher nicht zu einem Wechsel in der britischen Ukraine-Politik führen. Zieht aber Donald Trump ein zweites Mal ins Weisse Haus ein, könnte die bereits im Kongress blockierte amerikanische Militärhilfe für Kiew gänzlich zum Versiegen kommen.
Die USA haben seit 2022 rund 40,6 Milliarden Franken an militärischer Unterstützung in die Ukraine geschickt – rund acht Mal so viel wie Grossbritannien. Hoffnungen, die Briten könnten einen amerikanischen Ausfall kompensieren, sind daher illusorisch, zumal Grossbritanniens Streitkräfte mit erheblichen Budget-, Ausrüstungs- und Personalproblemen kämpfen.
Umso bedeutsamer scheinen Versuche, Einfluss auf die politische Stimmung in Washington zu nehmen. Britische Konservative fühlen sich den amerikanischen Republikanern ideologisch traditionell verbunden. Boris Johnson sprach sich jüngst in einer Kolumne für die Wahl von Donald Trump aus und versprach, ihn von der Notwendigkeit der Unterstützung der Ukraine zu überzeugen. Ob er damit Gehör finden wird, ist freilich eine ganz andere Frage.