Mit 55 Jahren in Rente und lebenslang Arbeitslosengelder? Die neue Regierung will den belgischen Sozialstaat reformieren. Der Widerstand dagegen ist gross.
Das Wort der Stunde in Europa lautet «Aufrüstung». Wie die jüngsten Zahlen der Nato zeigen, haben die Mitglieder der Militärallianz seit deren Bestehen noch nie so viel für Verteidigung ausgegeben wie letztes Jahr. Doch auch das reicht noch längst nicht: Angesichts der russischen Bedrohung werden die Ausgaben für Armee und Infrastruktur in den kommenden Jahren weiter in die Höhe schnellen.
Die dafür notwendigen Milliarden fallen jedoch nicht vom Himmel. Die EU-Kommission will den Mitgliedstaaten mit einer Ausnahmeklausel zwar erlauben, dass sie sich für zusätzliche Verteidigungsausgaben über die sogenannten Maastricht-Kriterien hinaus verschulden dürfen. Wegen ihrer bereits hohen Schuldenlast nehmen allerdings zahlreiche europäische Regierungen diese Möglichkeit gar nicht in Anspruch.
Der Rüstungseffort muss also über das ordentliche Budget finanziert werden – nur ist dieses in vielen Ländern schon angespannt. Wer den Haushalt einigermassen im Lot halten will, hat anderswo Abstriche zu machen. Und weil der Sozial- und Wohlfahrtsstaat in Europa vergleichsweise üppig ausgebaut ist und einen entsprechend hohen Anteil des Haushalts frisst, drängen sich Einschnitte in diesem Bereich auf.
Bähnler gehen mit 55 Jahren in Rente
Ein aktuelles Anschauungsbeispiel dafür liefert Belgien. Die neue Regierung unter Premierminister Bart De Wever ist im Februar mit dem Versprechen angetreten, den chronisch defizitären Staatshaushalt grundlegend zu reformieren – und setzt den Plan bis anhin konsequent um.
Zwei Massnahmen, die vom Parlament noch verabschiedet werden müssen, springen dabei in Auge: die Rentenreform und die Reform der Arbeitslosenversicherung. In der Theorie liegt das ordentliche Rentenalter mit 66 beziehungsweise 67 Jahren (ab 2030) bereits jetzt über dem europäischen Durchschnitt. De facto gehen belgische Arbeitnehmer wegen Frühpensionierungen, spätem Berufseinstieg oder Unterbrüchen aber nach deutlich weniger Beitragsjahren in Rente als etwa jene in Nordeuropa.
Die neue Regierungskoalition will nun dafür sorgen, dass die Belgier tatsächlich bis zum normalen Renteneintritt arbeiten. Dies, indem die Frühpensionierung erschwert und längeres Arbeiten belohnt wird. Zudem werden die aus heutiger Sicht geradezu grotesk generösen Sonderregelungen für gewisse Staatsangestellte graduell abgeschafft – bis anhin durften Bahnangestellte mit 55 und Militärangehörige mit 56 Jahren in Rente gehen.
Von der Arbeitslosenkasse in die Sozialhilfe
Die Schraube wird auch bei der Arbeitslosenunterstützung angezogen. Als wohl einziges Land Westeuropas zahlte Belgien die Unterstützung bisher ohne zeitliche Beschränkung aus – mit der Zeit zwar mit einer Reduktion, aber theoretisch unbegrenzt. Damit soll nun Schluss sein. Die belgische Regierung will die Arbeitslosenentschädigung auf zwei Jahre limitieren, ähnlich also wie in der Schweiz.
Damit soll der Anreiz für Arbeitslose steigen, eine neue Stelle zu suchen. Ein von «Le Soir» zitierter Amtsdirektor geht davon aus, dass ungefähr ein Drittel der Betroffenen innerhalb von 24 Monaten auf dem Arbeitsmarkt fündig wird. Als letztes Sicherheitsnetz, mit allerdings tieferen Ansätzen, verbleibt die Sozialhilfe. Obwohl die Anspruchskriterien strenger sind als bei der Arbeitslosenkasse, rechnen Experten mit einem Anstieg der Sozialhilfebezüger von bis zu 140 000 zusätzlichen Personen.
Die bereits jetzt stark belasteten Sozialämter befürchten daher, unter der bevorstehenden Antragsflut zusammenzubrechen, zumal die Regierung den zusätzlichen Aufwand der Ämter kaum vollumfänglich kompensieren wird. Vergangenen Donnerstag haben in ganz Belgien Mitarbeiter die Arbeit niedergelegt und ihren Unmut lautstark kundgetan.
Die Regierung gibt vorderhand nicht nach
Das jedoch war nur eine Aktion von Dutzenden, die in den vergangenen Wochen stattgefunden haben oder noch geplant sind. Am Dienstag hat Belgien den bereits vierten branchenübergreifenden Streik innerhalb eines Vierteljahres erlebt. Kein einziges Flugzeug startete an den grossen Flughäfen des Landes, der öffentliche Verkehr war stark eingeschränkt, viele Läden blieben geschlossen. Zehntausende gingen auf die Strasse.
Abgesehen von kosmetischen Konzessionen zeigt sich die neue Regierung bis anhin nicht willens, von ihrem Reformplan abzurücken. Gleichzeitig hat sie vor wenigen Tagen angekündigt, die Verteidigungsausgaben so stark zu erhöhen, dass die Zwei-Prozent-Vorgabe der Nato bereits dieses Jahr und nicht wie vorgesehen erst 2029 erreicht werden kann.
«Renten für Kampfjets opfern»
Kurzfristig sollen für den Rüstungseffort Gold der Nationalbank und weitere Aktiven veräussert werden. Doch das ist rechtlich schwierig und vor allem eine einmalige Aktion. Hält man am Zwei-Prozent-Rahmen fest, der wohl bald noch weiter nach oben geschraubt wird, sind allein dafür in dieser Legislatur zusätzlich rund 17 Milliarden Euro notwendig.
Woher das Geld ab nächstem Jahr kommen soll, ist noch nicht geklärt. Premierminister De Wever sagt, dass ein «zusätzlicher Effort notwendig» sein werde. Die beschlossenen, aber noch nicht umgesetzten Sozialstaat-Reformen sollen den finanzpolitischen Handlungsspielraum etwas vergrössern. Doch genau das wollen die nicht müde werdenden Demonstranten verhindern. Sie werfen der Regierung vor, «Renten für Kampfjets zu opfern».