Frankreich glaubt, als erstes Land das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert zu haben. Auf dem Balkan wird die französische Pionierrolle jedoch infrage gestellt.
Frankreich hat ein Zeichen gesetzt für das Recht von Frauen, selbstbestimmt über ihren Körper zu entscheiden. Nachdem die Vorlage am Montag die letzte parlamentarische Hürde genommen hat, ist das Recht auf einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch, so der genaue Wortlaut, neu in der französischen Verfassung verankert. In Zeiten tiefer gesellschaftspolitischer Bruchlinien präsentiert sich die Grande Nation stolz als Vorkämpferin für die persönlichen Freiheitsrechte.
Bereits seit 1974 ein «Menschenrecht»
Aber handelt es sich dabei tatsächlich um eine Weltpremiere, wie in den meisten Wortmeldungen zum Thema behauptet wird? Einspruch kommt vor allem aus dem Balkan. Die Aussage stimme nur, wenn man sie auf bestehende Staaten beschränke, schreibt etwa die Nachrichten-Website «Analitika» aus Montenegro. Im sozialistischen Jugoslawien habe bereits seit 1974 ein in der Verfassung garantiertes Recht auf Abtreibung bestanden. Auch in den sozialen Netzwerken stellen viele Nutzer aus dem ehemaligen Jugoslawien die französische Pionierrolle infrage.
Tatsächlich war der südosteuropäische Bundesstaat in Fragen der Familienplanung fortschrittlich, auch im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten. Abtreibungen waren in Jugoslawien bereits ab 1952 erlaubt, unter gewissen Bedingungen. Das war eine Reaktion auf die hohe Zahl von illegal durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen, die nicht selten das Leben der werdenden Mutter gefährdeten. Im Laufe der Jahre wurde die Regelung kontinuierlich liberalisiert.
Noch einen Schritt weiter ging die jugoslawische Verfassung von 1974. Darin ist erstmals die Rede von einem «Menschenrecht, frei über die Geburt von Kindern zu entscheiden». Anders als im französischen Text wurde das Recht auf Abtreibung zwar nicht explizit genannt. Der Effekt war aber vergleichbar.
In den Jahren nach der Verfassungsänderung erliessen alle Teilrepubliken des sozialistischen Bundesstaats Gesetze über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. In mehreren Nachfolgerepubliken sind diese auch nach dem Zerfall des Bundesstaates in Kraft. In Slowenien fällte hierzu das Verfassungsgericht bereits 1991, nur wenige Monate nach der Unabhängigkeit, ein Urteil. Es bestätigte die liberale Regelung auf Verfassungsstufe.
Konservative Wende nur in Kroatien
Der Südosten des Kontinents, seine Gesellschaften und ihre Geschichte fristen im kollektiven Bewusstsein des restlichen Europa meist ein Nischendasein. Deutlich wurde das, als nach dem russischen Überfall auf die Ukraine westliche Politiker und Journalisten während Wochen beharrlich vom «ersten Krieg auf europäischem Boden seit 1945» sprachen. Die jugoslawischen Zerfallskriege mit ihren insgesamt mehr als 200 000 Toten wurden schlicht ausgeblendet. Auf dem Balkan war man darüber zu Recht empört.
Der Verweis auf Jugoslawiens Vorreiterrolle beim Abtreibungsrecht ist aber auch nach innen gerichtet. Die Erinnerung an die jugoslawische Vergangenheit ist in allen Nachfolgestaaten stark politisiert. Positive oder auch nur wertneutrale Bezüge zu diesem Kapitel der Landesgeschichte dienen oft auch als Kritik an der Gegenwart.
In Kroatien etwa ist zwar noch immer das Gesetz von 1978 in Kraft, das Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt. Das gesellschaftspolitische Klima hat sich aber nicht zuletzt unter dem erstarkten Einfluss der katholischen Kirche verändert. 2019 gaben 59 Prozent der kroatischen Gynäkologen an, aus Gewissensgründen keine Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.
Gescheiterte Verfassungsänderung
2022 löste die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade durch den amerikanischen Supreme Court, der die Regelung der Abtreibung an die Gliedstaaten delegierte und in Frankreich den Anstoss für die Verfassungsrevision gab, auch in Kroatien eine Debatte aus. Der konservative Regierungschef Andrej Plenkovic erklärte öffentlich, dass in Kroatien das amerikanische Urteil keine Folgen haben werde.
Die Opposition lancierte dennoch einen Vorstoss, um das Recht auf Abtreibung in der Verfassung zu verankern. Nach der Ablehnung im Parlament war eine Volksinitiative im Gespräch. Es kam aber nicht einmal zu einer Unterschriftensammlung.