Der Überwachungsstaat sorgt für Ruhe und Ordnung – doch gegenüber Amokläufern scheint er machtlos. Die Zunahme solcher Taten ist ein Symptom von tieferliegenden gesellschaftlichen Problemen.
Allein diesen November liefen mindestens drei Männer Amok in China: ein 62-Jähriger, der mit seinem SUV 35 Personen zu Tode fuhr. Ein 21-jähriger Berufsschüler, der im Frauenwohnheim seiner Schule mit einem Messer acht Personen tötete. Und ein weiterer Autofahrer, der seinen Wagen in eine Gruppe Schüler steuerte und mehrere von ihnen verletzte. Am Donnerstag kamen Berichte und Videos auf Social Media auf von einer zusätzlichen Amokfahrt mit einem Lastwagen – offizielle Bestätigungen fehlen bis jetzt.
Amokläufe sind in China häufiger und gravierender geworden. Doch sie sind nicht neu. Sie sind den Chinesen so erschreckend vertraut wie Massenschiessereien den Amerikanern. Da es in China sehr strenge Waffengesetze gibt, greifen Amokläufer jedoch zu Messern und Äxten statt zu Schusswaffen oder töten mit dem eigenen Fahrzeug. Wie in den USA ist der Tatort oft die Schule – und die Täter sind fast immer Männer.
Was aber treibt Chinesen dazu, wehrlose Kinder zu töten oder unschuldige Passanten zu überfahren? Was sagen die Amokläufe über den Zustand der chinesischen Gesellschaft aus? Und wieso nehmen diese zu?
Derzeit wird die Diskussion darüber in China von den staatlichen Zensoren stark kontrolliert. Details zu den Motiven veröffentlichen die Behörden spärlich oder gar nicht. Die Regierung spricht von isolierten Fällen und verspricht rasches Handeln. Die Machthaber in Peking fürchten Wiederholungstaten. Wissenschafter weichen Fragen von Journalisten aus.
«Rache» an der Gesellschaft
Landläufig ist man in China der Ansicht, ein Amoklauf sei ein persönlicher Racheakt an einer Gesellschaft, von der man sich zutiefst ungerecht behandelt fühlt. So werden auch die jüngsten Attacken von Nutzern der Plattform Weibo gedeutet.
So erfährt man über die Plattform, dass der 62-jährige Amokfahrer in einer Scheidung beinahe sein gesamtes Vermögen verloren hat. Dem Berufsschüler wurde sein Abschlussdiplom verwehrt – nachdem er von der Fabrik, wo er ein Praktikum absolviert hatte, offenbar gnadenlos ausgebeutet worden war.
Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2019 der Forscher Ma Ziqi und Zhao Yunting aus Schanghai erfahren die meisten Amokläufer vor ihrer Tat eine Art Ausschluss aus der Gesellschaft: vom Arbeits- oder Bildungsmarkt zum Beispiel. Oder es fehlten ihnen die Mittel oder der Zugang zu Institutionen, um für ihre Anliegen einzustehen. Sie erhielten keine juristische Hilfe, es gebe keine Schlichtungsinstanzen, oder sie sähen auch sonst keine Möglichkeiten, ihr Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Weiter, so die Forscher, könne es sein, dass sie kein Anrecht auf öffentliche Dienste hätten – auf Arbeitslosenentschädigung, Krankenkasse oder das Recht, das eigene Kind in der Stadt in die Schule zu schicken.
Chinas Gesellschaftsvertrag wird hinfällig
Was die Forscher 2019 analysiert haben, ist jetzt umso aktueller: Die Arbeitslosigkeit ist hoch und dürfte viel höher sein, als die offiziellen Zahlen ausweisen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 20 Prozent. Beschwerde- und Schlichtungsinstanzen sind ungenügend ausgebaut oder wirkungslos, eine öffentliche Debatte ist wegen der strikten Zensur kaum vorhanden. Die Justiz erweist sich zudem teilweise als willkürlich. Gerade die Wanderarbeiter, von denen es in China Millionen gibt, werden in den Städten als Bürger zweiter Klasse behandelt und von Sozialleistungen ausgeschlossen.
Solange es wirtschaftlich gut läuft, bleiben viele dieser gesellschaftlichen Mängel unter dem Radar. Denn dann besteht die Möglichkeit, durch Leistung den eigenen Lebensstandard zu verbessern. Implizit haben viele Chinesen genau dies als eine Art Gesellschaftsvertrag mit der Regierung verstanden: Die Kommunistische Partei hat alle politische Macht. Im Gegenzug hat sie dafür zu sorgen, dass es den Menschen von Jahr zu Jahr besser geht.
Der gegenwärtige Wirtschaftsabschwung hat diesen Gesellschaftsvertrag aber für viele hinfällig gemacht. Das Gefühl des Optimismus ist in China einem Gefühl der Ohnmacht gewichen. Viele fragen sich, wie es sein kann, dass sie ein Leben lang hart gearbeitet haben und sich nun trotzdem verschulden müssen, sie erst den Job, dann das Haus, dann die Ehefrau verlieren.
«Chinesen kennen nur eine Definition von Erfolg»
Doch die Zunahme an persönlichen Krisen, ausgelöst durch die schwächelnde Wirtschaft allein, erkläre nicht, warum es vermehrt zu Amokläufen mit schwerwiegenden Folgen komme, sagt Xiang Biao, der Direktor des Instituts für Sozialanthropologie am Max Planck-Institut in Halle. «Menschen in China haben die Fähigkeit verlernt, mit diesen Krisen umzugehen», sagt Xiang im Gespräch.
Xiang erklärt, dass der Grossteil der Chinesen nur einen Weg zu einem erfolgreichen Leben kennten: studieren, einen guten Job sichern, viel Geld verdienen, heiraten, ein Haus kaufen. «Diese enge Definition vom Sinn des Lebens ist sehr fragil.» Wer all das tue, aber dennoch nicht die erwartete Belohnung dafür erhalte, könne das nur schwer akzeptieren.
Stabile Beziehungen seien wie ein Auffangnetz in persönlichen Krisen, sagt Xiang, doch viele Menschen klagten über Einsamkeit. Familiäre Beziehungen würden in China als Statussymbol instrumentalisiert. «Wenn die Ehe zerbricht, verliert man auf einen Schlag Vermögen und gesellschaftliches Ansehen.»
Diese Erkenntnis deckt sich zum Teil mit Forschungsergebnissen aus Deutschland. Die Kriminologin Britta Bannenberg hat jahrelang Amoktaten untersucht. Auch sie sagt, Täter seien oft in Beruf und Familie gescheitert und hätten keine Freunde. Zudem fand sie, dass viele der Täter an psychischen Krankheiten litten wie Psychosen oder der narzisstisch-paranoiden Persönlichkeitsstörung. Letztere zeige sich unter anderem in einem gesteigerten Geltungsbedürfnis und darin, die Welt als feindselig zu empfinden und Rachegedanken gegen sie zu entwickeln.
Ob auch bei chinesischen Amoktätern psychische Erkrankungen vorliegen, bleibt unklar. Die psychiatrische Versorgung in China liegt weit unter dem globalen Durchschnitt. Psychisch Erkrankte werden stigmatisiert, was viele davon abhält, professionelle Hilfe zu suchen. Der Rechtsprofessor Gao Yandong forderte in einem Artikel vom Montag auf der Nachrichtenseite Guancha.cn, dass China mehr tun solle, um die Krise der psychischen Gesundheit anzugehen.
Die knapp drei Jahre strikter Anti-Corona-Politik in China dürften Traumata ausgelöst und bestehende psychische Probleme verstärkt haben. Die Menschen waren zeitweise wochen- oder gar monatelang eingesperrt, um danach in den Alltag zurückzukehren, als ob nichts gewesen sei. Das hinterlässt Spuren.
Regierung weitgehend machtlos dagegen
China gilt als eines der sichersten Länder der Welt. Die staatlichen Kriminalstatistiken zeigen, dass es viel seltener zu Gewaltverbrechen kommt als im globalen Durchschnitt. Kleinere Proteste gibt es immer wieder, doch die Sicherheitskräfte lösen sie in der Regel rasch auf, bevor es zu Unruhen kommt. An jeder Ecke in Grossstädten hat es Kameras; Polizisten und Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten gehören zum Stadtbild.
Auch angesichts der Amokläufe lautet der Lösungsansatz einiger Lokalregierungen nun, «riskante Individuen» stärker zu überwachen, dazu zählen Arbeitslose, Geschiedene und Unverheiratete oder Menschen ohne Eigentumswohnung oder Auto. Auch solche, welche in jüngster Zeit einen Rückschlag erlebt hätten, wie grosse Vermögensverluste, psychische Krankheiten, Demütigungen im Alltag.
Es sind Ansätze, die der Sozialanthropologe Xiang Biao für ungerechtfertigt und kontraproduktiv hält. Indem man sie als potenzielle Kriminelle klassifiziert, würden Personengruppen, die ohnehin schon stigmatisiert seien, noch stärker stigmatisiert. Stattdessen müsse man die Wurzel des Problems lösen – das Bildungssystem reformieren, die Arbeitskultur, das allgemeine Verständnis vom Sinn des Lebens, sagt Xiang.
Peking begründet seinen massiven Überwachungsstaat mit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit. Es ist jedoch gerade dieses Gefühl von Sicherheit, das mit der Zunahme von Amokläufen zunehmend zur Illusion wird. Die Regierung scheint machtlos dagegen.