Susanne Goldschmid / NZZ
Menschen lieben Hunde – mit runden Kinderköpfen und Glubschaugen, mit absurd kurzen Beinen oder extravaganten Fellfarben. Doch diese Eigenschaften sind Missbildungen oder Gendefekte, die schweres Leid verursachen. Das Elend betrifft den Grossteil der Rassehunde. Warum tut der Mensch ihnen das an?
Chilli hat gleichzeitig ungeheures Pech und ein bisschen Glück. Beides kommt auf zwei Beinen. Zuerst das Glück: Es heisst Roman Siegfried und trägt eine Operationshaube mit bunten Salamandern, dazu eine Lupenbrille mit Leuchten, wie bei einem Höhlenforscher. Siegfried ist Chirurg an der Tierklinik Aarau West, Spezialist für Kleintierchirurgie. Er sitzt auf einem OP-Stuhl und lugt schweigend durch seine Brille. Vor ihm liegt Chilli betäubt auf dem Operationstisch, alle viere von sich gestreckt. Ihr Rachen steht sperrangelweit offen, aufgehängt an zwei Schnüren, damit das Maul nicht zuklappt.
«Die Zunge geht noch. Bei vielen Bulldoggen ist sie viel zu fleischig, hier nicht», sagt Siegfried. Schneiden muss er trotzdem: Sorgsam beginnt er mit einem Messer, Gewebelappen aus Chillis Schlund zu lösen. Gelingt es ihm, genug davon herauszuschneiden, werden Chillis Atemwege endlich genug Luft durchlassen. Dann wird sie den nächsten Sommer ohne Erstickungsanfälle und Angstzustände verbringen.
Denn das ist Chillis grosses Pech: Sie ist eine Französische Bulldogge. Wie nahezu alle kurzköpfigen Hunde wie zum Beispiel Möpse oder Englische Bulldoggen leidet auch diese Rasse unter Brachyzephalie, einer Missbildung des Schädels. Der deformierte Schädel mit der viel zu kurzen Schnauze verursacht Atemnot. Die Weichteile im Rachen sind verformt, das Gaumensegel zu massig, die Nasenlöcher zu eng, und im Schlund hängen Gewebesäckchen, die dort nicht hingehören. Manche dieser Hunde schlafen im Sitzen, weil sie im Liegen nicht genug Luft bekommen. Andere fallen im Sommer einfach um und ersticken, weil sie ihre Körpertemperatur nicht übers Hecheln regulieren können. Schuld daran ist der Mensch.
Das Elend ist für den Chirurgen Normalität. Die Zahl Französischer Bulldoggen ist in der Schweiz und überall auf der Welt stark angestiegen, und sie nimmt weiter zu. Siegfried hat schon Hunderte operiert.
Der Hund ist des Menschen bester Freund, er ist ihm von allen Tieren am nächsten. Das hat eine Kehrseite. Menschen lieben Hunde, aber sie lieben sie besonders, wenn sie ihren Vorstellungen entsprechen: Möpse mit runden Köpfchen und feuchten Glubschaugen. Dackel, die auf kurzen Beinchen lustig daherwackeln. Labradore, deren Fell in elegantem Silber schimmert. Winzige Teacup-Chihuahuas, die wie ein Accessoire in die Handtasche passen.
Doch all diese Eigenschaften sind in Wahrheit Missbildungen oder Gendefekte, die schweres Leid verursachen. Das Elend ist weiter verbreitet, als viele denken: Es betrifft die meisten Hunderassen.
In der Schweiz leben 560 000 Hunde, und sie sind ein Wirtschaftsfaktor: Rund 640 Millionen Franken geben die Schweizer allein im Zoohandel für Haustiere aus, die Kosten für den Tierarzt nicht eingerechnet. Die Hundehalterinnen und -halter gönnen ihren Lieblingen orthopädische Bettchen, Physiotherapie und Pfotenbalsam – und führen gleichzeitig das Leid an der Leine.
Wie konnte es so weit kommen? Warum quält der Mensch, was er zu lieben vorgibt?
Bernhardiner
Vom Rettungshund zum Dauerpatienten
Ausgerechnet der Schweizer Nationalhund ist ein Symbol für die zwiegespaltene Liebe des Menschen zum Hund. An ihm lässt sich ablesen, wie der Hund zum Opfer menschlicher Sehnsucht nach einem Mythos wurde – und wie fatal sich die Rassehundezucht entwickelte. Der Bernhardiner ist ein Bär von einem Hund: zottelig, gemütlich, selbstsicher und beschützend. Er gilt als Charakterkopf, der sich als Familienhund eignet und die einzigartige Fähigkeit besitzt, Lawinenopfer aufzuspüren und zu retten. Nur: Von dieser Legende ist nichts mehr übrig.
Dabei war am Anfang alles gut: Der Legende nach begannen Augustiner-Chorherren diesen Hundetyp Ende des 17. Jahrhunderts auf einer Bergstation am Grossen-Sankt-Bernhard-Pass zu züchten, der im Wallis das Rhonetal mit dem Aostatal verbindet. An diesem Nadelöhr über die unwirtlichen Alpen betrieben die Mönche eine Rettungsstation. Um Vermisste und Lawinenopfer mit der Hilfe von Hunden aufspüren und transportieren zu können, suchten sie aus den in der Region üblichen Sennenhunden Exemplare mit besonders nützlichen Eigenschaften aus.
Dafür mussten die Hunde eine robuste Gesundheit, Kraft, einen guten Spürsinn und ein menschenfreundliches Wesen mitbringen – und vor allem fit und nicht zu schwer sein. Die Mönche wählten die geeignetsten Tiere zur Zucht aus und erhielten so Nachkommen, bei denen diese Eigenschaften hervortraten. Einer davon war der legendäre Barry.
Dieser Hund lebte von 1800 bis 1814 und erlangte enormen Ruhm, weil er mehr als vierzig Menschen vor dem Tod im Schnee bewahrt haben soll. Er habe Verunglückte auf dem Rücken getragen und stets ein Fässchen mit Alkohol um den Hals gehabt, heisst es – was bei der Rettung von Menschen extrem unpraktisch gewesen wäre und vermutlich nur eine Legende ist.
Bis in die heutige Zeit stellen Menschen mystische Behauptungen über die Rasse auf: Ein Verhaltensforscher beharrte vor dreissig Jahren darauf, Bernhardiner könnten als einzige Hunderasse Wärmestrahlung wahrnehmen und damit besser als andere Hunde Menschen in Schneemassen finden. Wissenschafter konnten das bis heute nie belegen. Und sie werden es wohl auch nie. Denn Bernhardiner retten schon lange niemanden mehr.
Eine Zusammenfassung des Gesundheitszustands des heutigen Bernhardiners klingt ähnlich bedauernswert wie jene eines adipösen Kettenrauchers: Die einst sportlichen Bernhardiner wiegen heute teilweise mehr als hundert Kilogramm – Barry brachte um die vierzig Kilogramm auf die Waage. Dieses Gewicht belastet die Gelenke und verursacht Entzündungen, Arthrosen und Kreuzbandrisse. Wie alle besonders grossen Hunde haben Bernhardiner ein erhöhtes Risiko, an Knochenkrebs zu erkranken oder eine Magendrehung zu erleiden, eine plötzlich auftretende Krankheit, an der Hunde binnen einer halben Stunde sterben können.
Die Welpen kommen oft per Kaiserschnitt zur Welt, weil ihr Kopf zu gross für den Geburtskanal ist. Das viele Fell und die spezielle Kopfform führen zu nach innen oder aussen gerollten Augenlidern, die chronische Bindehautentzündungen verursachen. Die Rasse hat ausserdem eine besondere Anfälligkeit für Epilepsie, Herzmuskelschwäche, Kehlkopflähmung und Bluterkrankheit.
All das führt dazu, dass die gemütlichen Charakterköpfe ihre Herrchen und Frauchen nicht allzu lange beglücken: Der Bernhardiner zählt heute zu den kurzlebigsten Hunderassen der Welt. Gemäss einer schwedischen Studie stirbt mehr als die Hälfte aller Bernhardiner vor dem 8. Lebensjahr, ein Drittel sogar vor dem 5. Zum Vergleich: Ein mittelgrosser Hund bis etwa 30 Kilogramm kann heute gut 12 bis 15 Jahre alt werden, kleinere Hunde noch älter. Die Kurzlebigkeit der Bernhardiner erwies sich bei den Dreharbeiten für den Film «Ein Hund namens Beethoven» als äusserst unpraktisch: Für die sieben Filme verschlissen die Regisseure eine unklare Zahl von Bernhardinern, weil diese dauernd wegstarben.
Seit dem legendären Barry wurde durch die Zucht also nicht nur das Gewicht der Bernhardiner verdoppelt, sondern auch ihre Lebenserwartung nahezu halbiert. Im Rettungsdienst kommt der schwerfällige, invalide Bernhardiner nicht mehr vor, dort werden heute wendigere Hunderassen wie Australian Shepherd oder Border Collie eingesetzt.
Die reine Rasse
Eine fatale Idee
Was war passiert? Kurz gesagt: Der Mensch wurde grössenwahnsinnig. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte er die Röntgenstrahlung, erfand den Dieselmotor, das Flugzeug, und mit der «Titanic» baute er ein vermeintlich nicht versenkbares Schiff. Die Natur schien beherrschbar und der Mensch eine Art Gott, der andere Wesen nach seinen Vorstellungen gestalten konnte. Gleichzeitig kam die Idee von der «reinen Rasse» auf.
Die sogenannte Rassereinzucht ist erst 150 Jahre alt, davor gab es weder Dackel, Schäferhund noch Pudel in der heute bekannten Form. Und das, obwohl Mensch und Hund seit mehr als 30 000 Jahren zusammenleben. Der Hund ist das älteste Nutztier überhaupt. Und kein anderes Tier schlägt ihn in seiner Fähigkeit, sich auf den Menschen einzulassen.
Das ist der Grund, warum Menschen Hunde lieben: Sie verstehen von Geburt an unsere Körpersprache – etwas, das man selbst unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, erst beibringen muss. Darüber hinaus lernen sie Hunderte Wörter inhaltlich zu verstehen – eine bemerkenswerte und ausserordentliche Fähigkeit im Tierreich.
Schon immer formte der Mensch den Hund nach seinen Wünschen. Doch diese Formung entstand aus der Zusammenarbeit, aus einer Notwendigkeit heraus. Von den 30 000 Jahren des Zusammenlebens hatten Hunde 29 800 Jahre lang einen Beruf: Sie schützten die Behausungen, trieben Schafe oder Rinder, zogen Schlitten oder stöberten Wild auf.
Dafür benötigten Hunde eine schnelle Auffassungsgabe, eine gute Nase oder eine grosse Ausdauer. Das Aussehen war Nebensache. Während für uns die Worte «Hunde» und «Rasse» eng verbunden sind, existierte das Verständnis von Rasse über Jahrtausende schlicht nicht. Stattdessen formte man durch grobe Auslese bestimmte Hundetypen mit besonderen Talenten, gelegentliche Seitensprünge inbegriffen.
Das änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts. Die Augustiner etwa eröffneten im Jahr 1884 das Zuchtbuch für den «St. Bernhardshund» – und von da an ging es bergab. Die Mönche paarten nun Bernhardiner ausschliesslich mit anderen Bernhardinern, um ein einheitliches Aussehen zu erzeugen und den Mythos des starken, riesenhaften Retters zu befeuern. Sie folgten damit einem allgemeinen Trend: In ganz Europa und auch in Amerika entwickelte sich damals die organisierte, vereinsmässige Hundezucht, bei der nicht mehr Leistung und Gesundheit die Kriterien für die Auswahl der Elterntiere waren, sondern das, was Menschen schön, charaktervoll oder irgendwie lustig fanden.
Zwergwuchs/Riesenwuchs
- Die Toy- oder Teacup-Varianten ohnehin sehr kleiner Hunderassen wie Chihuahua oder Yorkshire-Terrier sind so winzig gezüchtet, dass sie in einer Teetasse Platz haben. Dadurch passen die Augäpfel nicht in den Schädel und fallen schnell heraus, das Gehirn verlagert sich ins Rückenmark, weil es im Kopf keinen Platz findet. Der Zuckerstoffwechsel funktioniert häufig nicht, deshalb zittern solche Hunde viel. Kommunikation mit Artgenossen ist kaum möglich.
- Riesenhafte Hunde wie Doggen oder Bernhardiner leben vergleichsweise kurz, häufig nur halb so lang wie mittelgrosse oder kleine Hunde. Sie leiden unter anderem unter Gelenkproblemen und Liegeschwielen und haben eine Neigung zu Krebserkrankungen und Magendrehung, einer häufig tödlich verlaufenden Erkrankung. Ihre Ausdrucksfähigkeit mittels Mimik kann eingeschränkt sein.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Leute, sich Hunde aus Liebhaberei zu kaufen, als Begleiter oder um sich selber darzustellen. Der Hundekörper erwies sich dabei als ideale Projektionsfläche für menschliche Sehnsüchte nach Stärke, Humor, Eleganz. Man kauft ihn als Symbol für das, was man ist oder sein möchte, oder für das, was einem fehlt. Seither sollen Hunde elegant oder niedlich aussehen, gemütlich oder machohaft. Oder mit ihren babyhaften Köpfchen und ihrer Moppeligkeit einladen zur hemmungslosen Verzärtelung eines tierischen «Kindchens». Und diese prägenden Merkmale wurden in den vergangenen hundert Jahren durch die Zucht immer weiter verstärkt.
Das Problem: «Der Hund stammt vom Wolf ab. Je weiter ein Hund körperlich von dieser Ursprungsform entfernt ist, desto stärker sind in vielen Fällen die gesundheitlichen Nachteile», sagt Achim Gruber. Der Tierarzt leitet das Institut für Tierpathologie an der Freien Universität Berlin und ist ein Experte für Qualzucht – so nennt sich jene Form der Haustierzucht, die bei Tieren Eigenschaften hervorbringt, die sie in ihrer Gesundheit und in ihrem natürlichen Verhalten einschränken. Mehrere Bücher hat Gruber dazu veröffentlicht.
Gruber spricht etwas aus, was viele Menschen nicht gerne hören und was Zuchtverbände und Rasseliebhaber herunterspielen: «Um so spezielle Eigenschaften wie sehr helle Farben, Punkte, Riesenwuchs oder kurzschnäuzige Kinderköpfe bei einem Tier zu erzeugen, das ursprünglich einmal aussah wie ein Wolf, müssen Züchter oft radikale Erbhygiene anwenden.» Das bedeutet, dass Züchter sehr nah verwandte Hunde verpaaren – also Inzucht betreiben.
Und diese Inzucht kann man berechnen: Der sogenannte Inzuchtkoeffizient gibt an, wie wahrscheinlich die Nachkommen biologisch verwandter Eltern dieselbe Erbinformation tragen wie der letzte gemeinsame Vorfahr der Eltern. Rund drei Viertel aller modernen Hunderassen weisen einen Inzuchtkoeffizienten von mehr als 25 Prozent auf. «Ein solcher Inzuchtkoeffizient entspricht einer Bruder-Schwester-Verpaarung», sagt der Tierpathologe.
Die Folgen davon, wenn so nah verwandte Wesen miteinander Nachkommen zeugen, waren schon vor Jahrhunderten bei den Adelsgeschlechtern zu besichtigen, die aus strategischen Machtgründen Verwandtenehen eingingen: Durch die extreme Verarmung des Genpools kamen Kinder mit Behinderungen oder Deformationen auf die Welt. Die berühmteste ist die Habsburger Unterlippe – eine Deformation des Mundes.
Erbkrankheiten durch Inzucht
- 58 Prozent aller Dobermänner bekommen die Krankheit dilatative Kardiomyopathie, die zu plötzlichem Herztod führen kann.
- Hütehunderassen wie der Collie tragen häufig den MDR1- Gendefekt in sich, der zu einer Unverträglichkeit bestimmter Medikamente führt, ein Teil der Tiere kann bei Verabreichung sterben.
- Labradore und Golden Retriever neigen zu Epilepsie, Allergien und Hüftgelenksdysplasie.
- Alle Cavalier King Charles Spaniels leiden unter der Chiari-Malformation: Das Gehirn passt nicht in den kindlich rund gezüchteten Schädel, was starke Schmerzen verursacht. Hinzu kommen bei mehr als 70 Prozent der Hunde schwere neurologische Ausfälle (Syringomyelie).
Der moderne Rassehund ist eine Art Habsburger auf vier Pfoten: Durch die genetische Verarmung ist der Hund heute die Haustierart mit den meisten Erbkrankheiten der Welt, mehr als 500 sind bekannt. Die Liste der Einschränkungen, Behinderungen und Deformationen ist nahezu endlos: Inzucht kann zu erhöhtem Krebsrisiko führen, zu Immunschwäche, Epilepsie oder hoher Allergieneigung.
Auch Hunderassen, die heute noch als besonders sportlich gelten, sind durch Inzucht längst zur Qualzuchtrasse geworden: Rund 10 Prozent aller Dalmatiner werden taub geboren. Das Züchten des möglichst weissen Kopfes brachte als genetischen Kollateralschaden zerstörte Sinneszellen im Gehör mit sich. Jeder einzelne Dalmatiner leidet zusätzlich in unterschiedlichem Ausmass unter dem Dalmatiner-Syndrom, einer Stoffwechselkrankheit, die zu Harnsteinen und Hautentzündungen führen kann.
Spezielle Fellfarben
- Pigmentmangel, also ein besonders weisser Kopf wie beim Dalmatiner oder beim Old English Sheepdog, bringt häufig Taubheit mit sich.
- Die Farbvarianten Silber, Champagner oder Charcoal beim Labrador beruhen auf der Dilute-Genmutation. Ein Teil dieser Tiere bekommt die Hautkrankheit CDA (Color Dilution Alopecia), die zu dauerhaftem Fellausfall und starkem Juckreiz führt.
- Viele Hütehunderassen wie der Australian Shepherd, aber auch Dackel und Dogge gibt es in der beliebten gescheckten Farbvariante «Blue Merle», die der Merle-Faktor verursacht. Diese Genmutation kann zu schweren Schädigungen wie Taubheit und Fehlbildungen der Augen führen.
Den Hund ereilte das Schicksal fast aller Konsumartikel: Bestimmte Produkte und Ausführungen geraten in Mode. Nach jedem beliebten Film, in dem eine bestimmte Hunderasse eine grosse Rolle spielt, schnellen die Welpenzahlen in die Höhe. In den 1990er Jahren waren beispielsweise die Tierheime plötzlich voll von Dalmatinern – der Film «101 Dalmatiner» hatte die Rasse ins Rampenlicht gerückt und zum attraktiven Accessoire gemacht. Aber auch der Labrador, der Dackel und der Bernhardiner waren Protagonisten beliebter Filme.
Heute prägen vor allem Influencer den Hundegeschmack. Auf Instagram oder in anderen sozialen Netzwerken präsentieren sie stolz ihre Tiere verschiedener Qualzuchtrassen. So wie kürzlich der Sänger Bill Kaulitz, der seine neue Französische Bulldogge Alfia Pearlpop vorstellte – auch noch in der Farbvariante «Blue Merle», die zu Missbildungen führen kann. Die Folgen der Popularität sind tragisch. Je stärker eine Hunderasse in Mode gerät, desto höher der Preis für die Tiere: Immer mehr Leute beginnen dann damit, diese Hunde zu züchten, weil sich mit ihnen viel Geld verdienen lässt. Gesundheit und Langlebigkeit sind diesen profitorientierten Vermehrern egal.
Die Welpenkäufer lassen leiden, was sie lieben wollen. Das Problem der Inzucht ist bislang kaum bekannt, auch weil man es nicht sieht. Die Welpen wirken oft gesund und munter, die Tierarztkosten klettern erst im Laufe des oft verkürzten Lebens in die Höhe. Doch das Phänomen der Qualzucht besteht aus zwei Formen: Die erste ist die Inzucht. Die zweite Form ist das gezielte Züchten absurder Anatomien. Weil Menschen es extravagant oder sympathisch finden, haben sie Hunden körperliche Deformationen angezüchtet. Die Folgen sind sichtbar – wenn man sie denn sehen will.
Ein Beispiel für eine solche Deformation ist der Dackel: Mit seinem extrem langen Rücken und den kurzen Stummelbeinen wackelt er lustig durchs Leben. Doch diese Körperform kann zu Bandscheibenvorfällen führen, die Dackellähme auslösen, die wiederum Inkontinenz verursacht. In der Folge werden die Tiere häufig eingeschläfert – wer will schon einen Hund, der seine Hinterbeine nicht bewegen kann und überall hinpinkelt.
Das deutlichste Beispiel für angezüchtete Behinderungen aber sind die brachyzephalen Rassen wie die Bulldogge, ob englisch oder französisch: ein massiger, zäpfchenförmiger Körper mit kurzen, krummen Beinen, das aufgeworfene Gesicht mit vielen Falten und viel zu kurzer Schnauze, dazu eine Wirbelfehlbildung, so dass ihnen der Schwanz fehlt.
Kurznasigkeit (Brachyzephalie)
- Das Robinow-like-Syndrom führt unter anderem zu Wirbel- und Schädelmissbildungen und verkrüppelter Rute.
- Boas (Brachyzephales obstruktives Atemwegssyndrom) hat permanente Atemnot und Schlafstörungen zur Folge.
- Mangelnde Kühlungsfähigkeit, drohender Überhitzungstod.
- Fehlende Körperteile und Deformationen im Gesicht verursachen mangelnde Fähigkeit zur Kommunikation mit Artgenossen.
Die Beliebtheit der Französischen Bulldoggen ist ein Phänomen: «Den Menschen scheint nicht bewusst zu sein, woher dieses spezielle Aussehen kommt», sagt der Tierpathologe Achim Gruber. «Es ist Ausdruck einer schweren Behinderung.» Bei praktisch allen Englischen und Französischen Bulldoggen liege das Robinow-like-Syndrom vor. Es heisst so, weil es im Prinzip das gleiche Syndrom ist, das bei Menschen vorkommt – das Robinow-Syndrom. Leute mit dieser Erkrankung haben ein aufgeworfenes Gesicht mit grossen Augen und einer sehr hohen Stirn, einen auffallend gedrungenen Körperbau und Fehlbildungen der Wirbelsäule und Gliedmassen. Auch unter Atemproblemen leiden sie – so wie Chilli, die Französische Bulldogge, die in der Tierklinik Aarau operiert wird.
Man müsse sich das einmal vorstellen, sagt Gruber: Ein Gendefekt, der bei Menschen äusserst gefürchtet sei, habe man bei Hunden extra weitergezüchtet, «weil man das Muffelige, das Unbeholfene, die mangelnde Sportlichkeit so nett fand. Dass das für die Hunde eine massive Einschränkung ihrer Lebensqualität bedeutet, war damals unbekannt und ist heute offenbar egal.»
Es gibt Erklärungsmodelle dazu, warum selbst die grössten Hundeliebhaber blind sind gegenüber dem Leid, das sie mit verantworten. Zum Beispiel den Pflegetrieb, einen der wichtigsten Triebe des Menschen. Hat jemand keine Kinder zu pflegen, kann sich dieser Trieb eben auch auf Bulldoggen oder Möpse mit babyähnlichen Köpfen richten – es wirke ein Kindchenschema, schreibt der Verhaltensbiologe Norbert Sachser dazu.
Qualzucht ist in der Schweiz verboten – theoretisch
Achim Gruber zweifelt nicht an der Liebe der Menschen zu ihren Hunden, aber an ihrem Verantwortungsbewusstsein. Er wurde zum Experten für Qualzucht, weil er in seiner Arbeit ständig mit den Folgen konfrontiert ist. Als Tierpathologe obduziert er häufig Zootiere wie Elefanten, Eisbären und Nashörner, um herauszufinden, woran sie gestorben sind.
Doch zu Gruber kommen auch viele Hunde- oder Katzenbesitzer, deren Tiere einen frühen Tod fanden. «Die Menschen sind oft völlig aufgelöst und wünschen sich von mir, dass ich ihre Vermutungen bestätige, zum Beispiel, dass der Nachbar den Hund vergiftet habe», sagt Gruber. Doch die Wahrheit ist oft eine andere.
Dass Hunde mit kurzer Schnauze plötzlich verstürben, sei ein Klassiker. «Die Besitzer erzählen mir, sie hätten mittags Stöckchenholen mit dem Hund gespielt und dann habe er plötzlich nach Luft gerungen und sei tot umgefallen. Am selben Tag waren es oft 30 Grad», sagt Gruber mit müder Stimme. Man darf keinen Hund bei so einer Hitze herumscheuchen. Denn Hunde können nicht schwitzen, sie sind sehr viel hitzeempfindlicher als Menschen. Doch besonders für die Qualzuchtrassen Mops und Bulldogge kann Hitze besonders schnell tödlich sein. Weil sie durch die kurze Schnauze nicht richtig hecheln können, besteht die Gefahr der Überhitzung, eines Kreislaufkollapses und des Erstickens. «Das passiert jeden Sommer wahrscheinlich Hunderten solcher Hunde.»
Gruber selbst hat einen Mischling aus Hüte- und Jagdhund, einen «Hunde-Hund». So nennt er Hunde mit funktionsfähigem Körper: lange Beine, lange Nase, lange Ohren, langer Schwanz. Doch Gruber will nicht grundsätzlich die Rassezucht verdammen. Auch Mischlinge seien nicht per se gesünder: Eine Mischung aus Mops und Französischer Bulldogge habe natürlich nicht weniger Probleme als ein reinrassiger Mops, denn beide Rassen vererben an ihre Nachkommen ähnliche Krankheitsrisiken. Wer sich einen Hund wünsche, solle sich bezüglich des Aussehens an Kindern orientieren: «Kinder malen Hunde oft in einer ganz natürlichen Form, braun oder schwarz, mit ordentlich langen Gliedern und einer richtigen Schnauze».
Was Gruber immer wieder erstaunt und wütend macht: Würden sich Menschen ein Auto kaufen, informierten sie sich im Internet bis ins kleinste Detail. Hunde seien fühlende und soziale Wesen, ihre Menschen schienen sie zu lieben und viel Geld für sie auszugeben – aber sie wüssten oft nicht das Allermindeste über sie. «Es ist wie eine Schere im Denken.»
Qualzucht-Datenbank
Wer sich einen Hund anschaffen möchte, kann sich hier über Rassen und ihre Krankheiten informieren. Europäisches Qualzucht-Evidenz-Netzwerk: qualzucht-datenbank.eu
Dabei ist Qualzucht in der Schweiz und in Deutschland theoretisch verboten: Die Schweizer Tierschutzverordnung schreibt vor, dass keinem Tier mit einem Zuchtziel zusammenhängende Schäden oder Leiden zugefügt werden dürfen. Deshalb müssen offiziell im Zuchtverband gemeldete Züchter, die gesundheitlich belastete Rassen wie Bulldoggen züchten, vor der Zuchtzulassung eine Gesundheitsprüfung mit den Elterntieren durchführen.
Die Züchterin ist stolz auf ihre Hunde:
Sie mag die Langsamkeit, die Anspruchslosigkeit
Was aber sagen die Züchter dazu? Heidi Leibundgut ist stolz auf ihre Hunde. Wie Bernhardiner kommen auch Englische Bulldoggen in der Regel per Kaiserschnitt auf die Welt, weil die Welpen einen zu grossen Schädel für den Geburtskanal haben. Leibundguts Bulldoggen haben das Problem nicht: Die Züchterin ist seit 1992 im offiziellen Schweizerischen Zuchtverband und wirbt auf ihrer Website damit, dass ihre Hunde schon mehrere Generationen hintereinander natürlich geboren worden seien.
«Ich versuche, entspannt mit der Geburt umzugehen. Dann ist es die Mutterhündin auch, und dann klappt es», sagt die Pensionärin, die in ihrem Haus die gesamte untere Etage für die Hunde freigeräumt hat. Auf den Sofas tapsen fassförmige kleine Bulldoggen herum, acht Wochen alt. Bald werden ihre neuen Besitzer sie abholen. Englische Bulldoggen gelten noch immer als Symbol für Stärke und Robustheit. Mit dem Gesichtsausdruck und der Unsportlichkeit eines Winston Churchill begegnen sie der Welt.
Dabei gehören sie heute zu den kränksten Rassen überhaupt: Ihre genetische Grundlage ist extrem klein. Alle heute lebenden Englischen Bulldoggen gehen auf 68 Individuen zurück, sie sind also aufs Engste miteinander verwandt. Aber es gibt Menschen, die ihre Behinderung – das extrem gefaltete Knautschgesicht, der massige Körper mit den krummen Beinen – als Vorteil wahrnehmen: Man hat einen Hund ohne all die Arbeit, die das normalerweise bedeutet. Denn Bulldoggen seien ruhig und pflegeleicht, stoisch, sagt Leibundgut: «Sie brauchen höchstens zwanzig Minuten Auslauf am Stück.»
Für Kommunikation fehlen Bulldoggen die Körperteile
Für Welpen in diesem Alter sind die kleinen Bulldoggen erstaunlich ruhig. Kein Gerenne, kein Gerangel. Höflich beschnüffeln sie Hosenbeine. Auch der Rüde, der mit im Haus lebt, bewegt sich wenig. Sein Körper ist schwer, im Gesicht viele Falten. Er hat keine Mimik und wedelt nicht mit dem Schwanz, denn er besitzt ja keinen.
Hunde sind eigentlich gesprächige Wesen: Das Ohrenspiel, die Augenbrauen, die Körperhaltung, der Schwanz – mit ihrem Körper teilen sich Hunde die ganze Zeit mit. Der Bulldoggenrüde steht einfach da. Auch das ist eine mögliche Folge von Qualzucht: Verhaltensverarmung. Weil die Tiere nur noch einen kleinen Teil ihrer Körpersprache zur Verfügung haben, können sie nicht mehr richtig kommunizieren – als ob Menschen nur noch lallen könnten. Das führt nicht selten zu Konflikten mit Artgenossen.
Leibundgut zieht ein Babyreinigungstuch aus ihrer Tasche. «Ich predige meinen zukünftigen Welpenbesitzern immer, dass sie unbedingt die Gesichtsfalten regelmässig reinigen müssen. Sonst entzünden sie sich.» Sie reibt das Tuch in die Gesichtsfalten des Rüden – es verschwindet fast darin. Leibundgut fördert einen gelblichen Belag zutage und schüttelt ihn in den Hof.
Die Welpen sind längst vergeben, die Nachfrage war gross. «Besonders die weissen sind beliebt, alle wollen unbedingt weisse Bulldoggen.» Leibundgut rollt mit den Augen. Dass ausgerechnet weisse Hunde häufig taub sind, weiss sie. Dass Bulldoggen oft schlecht Luft bekommen, auch. «Schon meine allererste Bulldogge hörte das ganze Dorf, wenn ich mit ihr spazieren ging. So laut schnarchte sie.» Leibundgut lacht bei der Erinnerung daran.
Ihre heutigen Bulldoggen bekämen gut Luft, findet sie. Sie müsse ja auch vor der Zuchtbewilligung einen Gesundheitstest mit ihnen machen. Die Testung ist allerdings nicht besonders aussagekräftig: Sie findet häufig in den ersten Lebensjahren statt – die Atemprobleme treten jedoch erst später auf. Manche Züchter lassen ihre Hunde auch vor dem Test operieren. Dann bekommen sie zwar besser Luft und schneiden gut ab, geben die Deformation aber trotzdem an ihre Nachkommen weiter.
Leibundgut schätzt Englische Bulldoggen aufs Äusserste. «Sie sind einfach sehr liebe Hunde. Aber wenn sie merken, dass man in Gefahr ist, sind sie sofort da. Sie beschützen ihre Menschen unnachgiebig», sagt sie. Der grosse Rüde kommt in Zeitlupe herangeschnorchelt, er möchte gestreichelt werden. Ist dieses Tier also ein gesunder, beschützender Gladiator?
Menschen blenden Probleme gerne aus
Auch das ist typisch für die Beziehung zwischen Mensch und Hund: Illusion. Eine Form davon nennt Achim Gruber das «Meiner-doch-nicht-Syndrom». Menschen blenden die Schwächen und Probleme ihrer Hunde aus einem Abwehrreflex heraus aus. Diese Verzerrung in der Wahrnehmung ist sogar wissenschaftlich belegt: In einer britischen Untersuchung, in der mehr als 2000 Besitzer von Tieren kurzköpfiger Hunderassen nach deren Gesundheitszustand befragt wurden, gaben nahezu alle an, ihre Tiere hätten gesundheitliche Einschränkungen wie Atemprobleme, Hitzeempfindlichkeit, Allergien und Infektionen der Hautfalten. Und dennoch schätzten mehr als 70 Prozent ihre Hunde als überdurchschnittlich gesund ein.
Und wie geht es Chilli, der Französischen Bulldogge, die in der Tierklinik Aarau operiert worden ist? Der Eingriff ist gut verlaufen, Chilli erfreut sich einer besseren Lebensqualität, weil sie jetzt viel mehr Luft bekommt. Der Chirurg Roman Siegfried bleibt aber realistisch: «Es ist nicht mehr so schlimm – aber gut und normal atmen wird sie nie.»
Chillis Besitzer, ein Ehepaar in seinen Fünfzigern, zahlte für die Operation 2500 Franken. Zu Zweifeln an der Hunderasse führt diese Investition nicht. Früher hielten die beiden einen Rottweiler, jetzt sind sie eingeschworene Fans von Bulldoggen. Denn diese hätten zwei unschlagbare Vorteile: «Man muss nicht so viel mit ihnen laufen. Und sie sind nicht so schlau, brauchen wenig Beschäftigung», sagen sie. Wenn Chilli dereinst stirbt, werden sie sich wieder eine Französische Bulldogge anschaffen.
Grafische Mitarbeit: Anja Lemcke