Seit 2022 hat der russische Angriffskrieg die Sicherheitslage verändert. Doch in Südeuropa regt sich kaum militärischer Widerstandsgeist. Das hat auch historische Gründe.
Während Europas Norden und Osten aufrüsten, bleibt es im Süden ruhig. Italien und Spanien reagieren auffallend gelassen auf das neue Bedrohungsszenario, das der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geschaffen hat. Und dies, obwohl zwischen den Regierungen in Rom und Madrid politisch Welten liegen.
In Spanien regiert eine linke Minderheitsregierung unter Pedro Sánchez, in Italien eine stabile rechte Koalition unter Giorgia Meloni. Trotz ideologischen Unterschieden haben sie in der EU gemeinsam durchgesetzt, dass Brüssel das Rüstungsprogramm «Rearm Europa» umbenannt hat. Es nennt sich nun – etwas weniger aggressiv – «Bereitschaft 2030».
Was wie eine rein semantische Korrektur wirkt, spiegelt sich auch in den Zahlen wider. Umfragen zeigen, dass die beiden Staaten zu den Schlusslichtern in der EU zählen, wenn es um Themen wie Erhöhung der Militärausgaben oder Wiedereinführung der Wehrpflicht geht. Sowohl Spanien wie Italien sind derzeit auch weit davon entfernt, das 2-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen. Spanien ist mit Militärausgaben von 1,28 Prozent des BIP das Schlusslicht der westlichen Verteidigungsallianz, Italien steht mit etwa 1,5 Prozent nicht viel besser da.
Keine Abneigung gegen Uniformen
Beide Länder haben, wie andere Staaten auch, die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft: Spanien im Jahr 2001, Italien vier Jahre später während der zweiten Regierungszeit von Silvio Berlusconi. Seither sind die Bestände zurückgegangen. Heute besteht die spanische Armee nur noch aus knapp 122 000 Berufssoldaten, mit in letzter Zeit leicht steigender Tendenz. In Italien liegt der Bestand bei knapp 162 000 Soldaten.
Dabei hat gerade Italien keine grundsätzliche Abneigung gegen Uniformen, im Gegenteil. Angehörige des Heeres, der Carabinieri und der verschiedenen Polizeikorps sind überall in den Zentren und an den neuralgischen Punkten präsent, nur wenige stören sich an der sichtbaren Präsenz uniformierter Ordnungskräfte. Zudem zählt in Italien die Rüstungsindustrie mit Grosskonzernen wie Leonardo und Fincantieri zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren.
Gleichzeitig gibt es in Italien aber so etwas wie einen Pazifismus sui generis, einen «pacifismo all’italiana», wie ihn Marcello Sorgi nennt, Publizist und früherer Leiter des «TG1», der wichtigsten Nachrichtensendung des öffentlichrechtlichen Fernsehens. Er wurzle in den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und nähre sich zudem an einem gewissen Antiamerikanismus.
Fast jede Familie habe um einen gefallenen Angehörigen getrauert. Und die Bombenangriffe, mit denen sich die amerikanische Luftwaffe in der Spätphase des Krieges den Weg zur Befreiung des Landes und Europas gebahnt hatte, habe sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Die Erinnerung daran habe sogar die Erzählung des gemeinsamen Kampfs von Partisanen und Amerikanern gegen die Nazis teilweise verdrängt, so Sorgi kürzlich in der «Stampa».
«Jahrzehntelang hielt sich in der breiten Basis der beiden grossen Massenparteien, der Christlichdemokraten und der Kommunisten, der Antiamerikanismus», schreibt Sorgi. Im Fall der Christlichdemokraten (DC) sei er durch den katholischen Glauben der Wähler und den starken Druck der kirchlichen Hierarchien befeuert worden. Immerhin sei es den Parteichefs der DC frühzeitig gelungen, ihre Wähler von der Notwendigkeit der Nato-Mitgliedschaft zu überzeugen. Bei den Kommunisten dauerte es bis 1976, als Enrico Berlinguer, der legendäre Führer der italienischen Kommunisten, bekannte, dass er sich unter dem Schirm der Nato sicherer fühle als im Warschauer Pakt.
Fehlender Führungsanspruch der Parteien
Diese Zusammenhänge gehen in der Diskussion oft vergessen, wirken aber nach und führen zu einer gewissen Unlust, mehr als das Minimum für die kollektive Verteidigung aufzuwenden. Dazu kommen die Friedensdividende, die man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch in Italien nur allzu gerne einkassiert hat, sowie das Problem des chronisch klammen Staatshaushaltes, was grössere Investitionen in die Verteidigung erschwert.
Heute besteht das Problem darin, dass es sowohl in der Regierungskoalition als auch in der Opposition grosse Meinungsunterschiede in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt – und somit keinen Führungsanspruch in dieser Frage.
Der Lega-Chef Matteo Salvini, seines Zeichens Vizeregierungschef unter Giorgia Meloni, ist konsequent gegen die europäischen Aufrüstungspläne und plädiert in der Art Donald Trumps für einen raschen Friedensschluss in der Ukraine. Dabei war es ausgerechnet Salvinis Lega, die vor einem Jahr die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Italien aufs Tapet brachte. Meloni ihrerseits ist zwar loyal zur EU-Führung, aber skeptisch, was die Aufrüstungspläne angeht.
In der Opposition fährt vor allem Giuseppe Contes Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) einen pointiert pazifistischen Kurs. Und auch im sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) gibt es starke Kräfte, die sich gegen die Pläne der EU wehren. Sowohl dem M5S als auch Teilen des PD gelingt es zurzeit, beträchtliche Menschenmassen gegen die Aufrüstung zu mobilisieren.
Auch in Spanien lässt sich die militärische Zurückhaltung historisch begründen. Ein zentrales Trauma ist die Niederlage von 1898 gegen die USA, durch die das Land seine letzten karibischen Kolonien Kuba und Puerto Rico verlor und zudem seine Stützpunkte auf den Philippinen und der Insel Guam aufgeben musste. Der Schock über den Verlust des einstigen Weltreichs sass so tief, dass sich Spanien weder am Ersten noch am Zweiten Weltkrieg beteiligte.
Der antimilitärische Geist blieb den Spaniern erhalten. Als Felipe González 1982 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, verdankte er seinen Wahlsieg nicht zuletzt dem Versprechen, Spanien aus der Nato zu führen. Als vier Jahre später die versprochene Volksbefragung stattfand, hatte González seine Einstellung geändert und bat seine Landsleute, für einen Verbleib in der Nato zu stimmen, was schliesslich geschah. Die Nato unterhält noch heute zwei Militärstützpunkte auf spanischem Boden.
Dennoch hat sich die Bevölkerung in den letzten Jahren immer mehr von der Nato distanziert. Als die Allianz 2022 ein Gipfeltreffen in Spanien abhielt, versprach Sánchez zwar, sein Land werde die Militärausgaben auf die angestrebten 2 Prozent des BIP erhöhen. Bis heute ist das aber nicht geschehen.
Sánchez sind die Hände gebunden
Der Nato-Generalsekretär Mark Rutte tadelte die Spanier erst letzte Woche dafür und verwies darauf, dass mit den neuesten russischen Raketen bei einem Angriff auf Warschau und Madrid nur ein Zeitunterschied von zehn Minuten bestehe.
Auch bei ihrem Engagement in der Ukraine hielten sich die Spanier bisher zurück. Die versprochenen Hilfsleistungen belaufen sich laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft auf 1,45 Milliarden Euro. Damit ist Spanien nur auf Platz 15 von 37 westlichen Geberländern. Sánchez begründete die zurückhaltende Waffenhilfe damit, dass die spanische Bevölkerung einen Rüstungswettlauf ablehne, der neue Konflikte heraufbeschwören könnte.
Sánchez’ grösstes Problem liegt jedoch weniger in der öffentlichen Meinung als vielmehr in der Zusammensetzung seiner Regierung: Um den Militärhaushalt aufzustocken, ist er im Parlament auf ein fragiles Bündnis aus kleinen Linksparteien wie Sumar und Podemos sowie auf regionale Kräfte angewiesen. Doch diese heterogene Koalition ist nur schwer auf eine Linie zu bringen. Für Podemos ist nicht Putin das Problem, sondern der heimische Wohnungsmarkt. Und Sumar lehnt Waffenimporte aus den USA ab, solange Trump Europa im Angriffsfall keine Unterstützung garantiert.
Unter diesen Umständen könnte sich Sánchez an den konservativen Partido Popular (PP) wenden, der die stärkste Fraktion im Parlament bildet. Doch der Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo lehnt die Rolle des Mehrheitsbeschaffers ab und fordert unrealistische Zugeständnisse wie etwa die sofortige Einberufung von Neuwahlen.
In Rom wie in Madrid begnügt man sich derweil mit rhetorischen Ausweichmanövern und politischer Schönfärberei – etwa durch die Umbenennung des EU-Aufrüstungsprogramms oder das widersprüchliche Bekenntnis, man befürworte gemeinsame Verteidigung, lehne aber Aufrüstung ab.