Die Ukraine kann vorerst aufatmen. Die neue Militärhilfe der USA wird manche Probleme lindern, den befürchteten Kollaps verhindern und neue Gegenangriffe auf grosse Distanz ermöglichen. Doch gravierende Schwachstellen bleiben.
Nach der Kehrtwende im amerikanischen Repräsentantenhaus wird am Dienstag oder Mittwoch auch der Senat dem neuen Hilfspaket für die Ukraine im Umfang von 61 Milliarden Dollar zustimmen. Für das bedrängte Kriegsland ist dies eine höchst willkommene Nachricht. Doch wie wird sich die Hilfe konkret auf die militärische Lage auswirken?
Diese Frage lässt sich nicht davon trennen, aus welchen Gründen Russland in den letzten Monaten die militärische Oberhand gewonnen hat. Es ist laut Experten eine Kombination vor allem von drei Faktoren:
- Übermacht bei der Artillerie: Russland hat viel die grösseren Munitionsvorräte und verschiesst fünf- bis zehnmal so viel Granaten wie die Ukrainer.
- Geschwächte ukrainische Flugabwehr: Die wachsenden Lücken bei der Luftverteidigung machen nicht nur ukrainische Städte und die Energie-Infrastruktur verwundbar. Russische Flugzeuge konnten in letzter Zeit auch nahe an der Front operieren, ohne abgeschossen zu werden. Ihre schweren Gleitbomben zerstören ukrainische Stellungen systematisch.
- Ungleichgewicht beim Personal: Russland erleidet höhere Verluste, aber es kompensiert dies, indem es seine Truppen kontinuierlich aufstockt. Die Ukraine findet dagegen nicht mehr genügend Freiwillige für den Krieg.
Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Punkte zur neuen amerikanischen Militärhilfe bedeutsam:
Die Hilfe kommt spät, manche Folgen sind unumkehrbar
Der Kongress liess mehr als acht Monate verstreichen, bis er die Anträge der Regierung Biden auf neue Mittel für die Ukrainer bewilligte. Diese mussten in der Zwischenzeit Terrain preisgeben, das sie mit einer besseren Versorgung hätten halten können, darunter die gut befestigte Stadt Awdijiwka im Donbass. Die dahinter errichteten neuen Verteidigungslinien sind erst provisorisch ausgebaut. Nordwestlich von Awdijiwka bröckelt die Front derart, dass den Russen einer ihrer schnellsten Vorstösse seit langem gelang. Sie rückten in der letzten Woche fast fünf Kilometer vor und haben nun das Eisenbahndorf Otscheretine erreicht.
Mit weiteren Verlusten in den nächsten zwei Wochen ist daher zu rechnen. Das Pentagon kann nach Unterzeichnung des neuen Haushaltszusatzes durch Präsident Biden zwar sofort Munition liefern. Militärexperten gehen davon aus, dass grössere Bestände in Osteuropa zum Transfer bereitstehen. Aber die Stabilisierung der Front dürfte wesentlich länger dauern.
Die Artillerie-Munition lindert das grösste Problem
Der Ukraine-Krieg ist noch immer hauptsächlich ein Artilleriekrieg. Neue Technologien wie Drohnen spielen eine wichtige Rolle, Langstreckenwaffen wie Marschflugkörper ebenfalls. Aber für Vorstösse am Boden und deren Abwehr bleibt die Stärke der Artillerie von entscheidender Bedeutung. Mit geballtem Artilleriefeuer hätten die Ukrainer die russischen Panzervorstösse der letzten Wochen wirksamer bekämpfen können. Stattdessen mussten sie die Munition rationieren.
Sie benötigen vor allem Granaten des Kalibers 155 Millimeter für ihre Haubitzen aus Nato-Beständen sowie Präzisionsmunition für die amerikanischen Himars-Raketenwerfer. Für beides gibt es nun in Kürze wieder ausreichend Haushaltsmittel. Solche Lieferungen werden für das Pentagon eine Priorität darstellen.
Durchbruch bei den Atacms-Raketen
Der Kongress überlässt der Regierung Biden grossen Spielraum beim Einsatz der bewilligten Gelder. Die Ukraine-Vorlage enthält keine genauen Angaben über Art und Menge der zu leistenden Militärhilfe – mit einer Ausnahme: Das Repräsentantenhaus hat den klaren Auftrag erteilt, Atacms-Raketen von langer Reichweite zu übergeben. Dabei handelt es sich um ballistische Raketen mit einer Reichweite von – je nach Version – 165 oder 300 Kilometern. Der Gesetzestext ist nicht völlig eindeutig, aber anscheinend ist gemeint, dass die Ukraine nun erstmals Atacms mit einem Einsatzbereich von 300 Kilometern erhalten soll.
In dieser Hinsicht ist der jetzige Beschluss für Kiew sogar noch besser als frühere Vorlagen. Denn die Regierung Biden hatte die Lieferung von Atacms lange abgelehnt und bisher nur eine kleine Zahl der Version mit kürzerer Reichweite geliefert. Mit der weitreichenderen Version könnten die Ukrainer die gesamte Halbinsel Krim ins Visier nehmen, darunter die dortigen Flottenstützpunkte und die strategisch wichtige Brücke über die Meerenge von Kertsch. Der Kongress gibt Biden allerdings die Vollmacht, bei sicherheitspolitischen Bedenken auf eine Lieferung zu verzichten.
Für eine neue Gegenoffensive reicht die Militärhilfe nicht
Die amerikanische Militärhilfe seit der russischen Invasion im Februar 2022 beläuft sich gesamthaft auf etwa 46 Milliarden Dollar. Gemessen daran sind die neu bewilligten Gelder von gut 50 Milliarden Dollar (zuzüglich Darlehen für wirtschaftliche Zwecke) sehr substanziell. Sie reichen bis ins Jahr 2025, also bis nach der amerikanischen Präsidentenwahl. In Washington ist jedoch nicht die Rede davon, die Ukraine für eine neue grosse Bodenoffensive wie im Sommer 2023 auszurüsten. Der Hauptzweck besteht darin, den russischen Vormarsch zu stoppen und besseren Schutz vor russischen Luftangriffen zu bieten.
Nach Einschätzung des ukrainischen Geheimdiensts plant Russland für Juni eine Grossoffensive, möglicherweise gegen die Metropole Charkiw. Die Ukraine kann sich dafür nun besser wappnen. Derweil bleibt die Frage offen, wann und wie ihre Streitkräfte in die Lage kommen sollen, einen Teil der besetzten Gebiete zu befreien.
Das Problem Luftverteidigung wird nur zum Teil gelindert
Nach verbreiteter Annahme wird das Pentagon nun weitere Abfangraketen für das Flugabwehrsystem Patriot liefern. Das ist besonders willkommen, weil die Vorräte an solchen Raketen zur Neige gingen und die russischen Luftangriffe zunehmend Erfolg hatten. Über den Umfang der Patriot-Lieferungen lässt sich derzeit aber nur mutmassen. Die Regierung in Washington war schon vor der Blockade im Kongress zurückhaltend mit Lieferungen und dürfte dies auch künftig sein. Sie hat der Ukraine bisher nur ein einziges Patriot-System übergeben, während Deutschland jüngst die Lieferung eines dritten ankündigte.
Patriot-Abfangraketen sind teuer und werden nur in geringen Stückzahlen produziert. Washington muss dabei auch den gestiegenen Bedarf seines Bündnispartners Israel berücksichtigen. Einfacher zu bewilligen sind die tragbaren Flugabwehrraketen des Typs Stinger, an denen ebenfalls Mangel herrscht.
Der Mangel an neuen Truppen bleibt ein Schwachpunkt
Der Waffennachschub ist nicht das einzige Problem der Ukraine. Hinzu kommt, dass es die ukrainischen Behörden nicht schaffen, genügend Soldaten für die Front aufzubieten. Dieses Problem werden auch die neuen Mobilisierungsgesetze nicht beseitigen. Zudem brauchen die Rekruten eine gründliche militärische Ausbildung, was im bisherigen Kriegsverlauf vernachlässigt wurde. Die vom Kongress bewilligten Gelder lassen sich zwar für Schulungen im Nato-Raum einsetzen. Aber die Kapazitäten solcher Kurse waren bisher zu knapp.
Die Ukraine gewinnt Zeit, aber keine langfristige Garantie
Ein ehemaliger ukrainischer Offizier, der unter dem Pseudonym Tatarigami vielbeachtete Analysen zum Krieg schreibt, rät zu einer nüchternen Lagebeurteilung. Mit dem Durchbruch komme die Ukraine zu dringend nötiger Hilfe, aber sie habe damit nur ein Jahr Zeit gewonnen. Wenn es bis dahin nicht gelinge, die Rüstungsproduktion im Inland sowie in der EU stark anzukurbeln, könne sich die Ukraine 2025 in einer ähnlich kritischen Situation wie in diesem Winter wiederfinden.
Die monatelange Blockade im Kongress unter dem Einfluss des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump hat der Ukraine vor Augen geführt, wie brüchig die Unterstützung der USA ist. Zuletzt stimmten zwar mehr als 70 Prozent der Abgeordneten für das Hilfspaket, aber innerhalb der republikanischen Fraktion bildeten die Gegner eine knappe Mehrheit. Ein Wahlsieg Trumps würde die Berechenbarkeit Amerikas nochmals verringern. Die Ukraine steht deshalb mehr denn je unter dem Druck, möglichst viele Partner in diesem Krieg zu finden und auf Eigeninitiative zu setzen.